Brasilien vor dem Test gegen Deutschland: Die WM-Elf steht - aber wer ersetzt Neymar?

Stefan Petri
27. März 201812:10
Brasiliens Startelf im Test gegen Russland: Die bestmögliche Elf ohne Neymar?getty
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Deutschland trifft im zweiten und letzten Test dieser Länderspielpause auf Brasilien (Dientstag, 20.45 Uhr im LIVETICKER). Einen Großteil seines WM-Kaders hat Selecao-Trainer Tite bereits bekanntgegeben, gegen den Weltmeister fehlt wie schon 2014 Superstar Neymar. SPOX beleuchtet das Aufgebot Brasiliens und sprach mit dem früheren Bayern-Star Giovane Elber: Welche Fragen sind noch offen - und wie kann ein Ausfall Neymars kompensiert werden?

Brasiliens WM-Kader: 15 Plätze sind schon vergeben

Realistisch gesehen dürfte so ziemlich jeder Trainer der 32 WM-Teilnehmer zwei Drittel seines Kaders bereits final besetzt haben - wenn nicht mehr. Doch kaum einer geht damit annähernd so offensiv um wie Tite. Während Joachim Löw in jeder Pressekonferenz den enormen Konkurrenzkampf erwähnt, auf dass sich niemand zu sicher fühlen möge, hat sein brasilianischer Kollege 15 Spieler nicht nur insgeheim in Stein gemeißelt, sondern sogar öffentlich verkündet.

Der 56-Jährige, der 2016 von Carlos Dunga übernahm, hat von 22 Spielen als Nationalcoach 18 gewonnen und nur eine Niederlage hinnehmen müssen. Das hat offenbar keine Fragen mehr offen gelassen, was die Startelf in Russland angeht. "Die elf Starter sind Alisson, Marcelo, Miranda, Marquinhos, Dani Alves, Paulinho, Renato Augusto und Casemiro, Neymar, Coutinho und Gabriel Jesus", verriet er Mitte Februar im Interview mit UOL Esportes.

Ebenfalls ihr Ticket sicher haben darüber hinaus Thiago Silva (Paris St.-Germain), Fernandinho (Manchester City), Willian (FC Chelsea) und Roberto Firmino (FC Liverpool).

Brasiliens WM-Elf: Renato Augusto spielt bei Beijing Sinobo Guoan.SPOX

Die größte Überraschung in Tites Elf ist sicherlich der Ex-Leverkusener Renato Augusto. Der mittlerweile 30-Jährige spielt seit Januar 2016 beim chinesischen Klub Beijing Sinobo Guoan und findet damit in der Öffentlichkeit kaum noch statt. Tite jedoch vertraut auf den Mittelfeldmotor, in der Selecao ist er gesetzt: Seit November 2015 bekam er nur ein einziges Mal keine Einsatzzeit, einmal trug er sogar die Kapitänsbinde.

Warum Tite den Großteil seines Aufgebots so früh verkündete, erklärte er nicht. Womöglich hofft er auf einen Leistungsschub bei den Etablierten, die in den kommenden Monaten vor dem Turnier befreit aufspielen können. Für Giovane Elber ist die frühe Bekanntgabe kein Nachteil: "Es wird im Kader sowieso keine großen Überraschungen geben. Klar müssen alle ihre Leistung bringen, aber da wird niemand aus dem Nichts noch auf den Zug aufspringen", sagte er zu SPOX.

Konkurrenzkampf im WM-Kader: Für Bayerns Rafinha wird es eng

Konkurrenzkampf gibt es nun vor allem um die acht verbleibenden Kaderplätze. Zwei davon gehen an Torhüter, einer davon wird auf jeden Fall Manchester Citys Ederson sein. Um den dritten Backup streiten sich wohl Valencias Neto, Cassio (Corinthians) und Vanderlei (Santos). Der in diesem Jahr überragende Alisson ist so oder so unantastbar.

Wie stellt sich die Abwehr dar? Hinter Marcelo konkurrieren Filipe Luis (Atletico Madrid) und Alex Sandro von Juventus um den Backup-Platz. Luis brach sich im Achtelfinal-Rückspiel der Europa League das Wadenbein, bei ihm wird es ganz eng. Auch Alex Sandro musste diesmal angeschlagen passen, dafür darf sich Schachtjors Ismaily zeigen. Als vierter Innenverteidiger hat Monacos Jemerson die besten Karten, Chelseas David Luiz ist längst nicht mehr gesetzt.

Hinter dem in die Jahre gekommenen Dani Alves wird noch gesucht. Es könnte auf Citys Danilo hinauslaufen, auch wenn Tite zuletzt unter anderem auch Fagner (Corinthians) und Mariano von Galatasaray testete. Für Bayern Münchens Rafinha wird es wohl nicht reichen, trotz der zwei überraschenden Einsätze im Juni.

Brasiliens Ergebnisse: Nur eine Niederlage im Jahr 2017

2017GegnerErgebnis
26. JanuarKolumbien (Freundschaftsspiel/H)1:0
24. MärzUruguay (WM-Qualifikation/A)4:1
29. MärzParaguay (WM-Qualifikation/H)3:0
9. JuniArgentinien (Freundschaftsspiel/H)0:1
13. JuniAustralien (Freundschaftsspiel/A)4:0
1. SeptemberEcuador (WM-Qualifikationsspiel/H)2:0
5. SeptemberKolumbien (WM-Qualifikation/A)1:1
5. OktoberBolivien (WM-Qualifikation/A)0:0
11. OktoberChile (WM-Qualifikation/H)3:0
10. NovemberJapan (Freundschaftsspiel/A)3:1
14. NovemberEngland (Freundschaftsspiel/A)0:0
2018GegnerErgebnis
23. MärzRussland (Freundschaftsspiel/A)3:0

Damit wären 20 der 23 Plätze im Kader besetzt - in der traditionell hochkarätig besetzten Offensive wird es also Härtefälle geben. Auf der sicheren Seite ist Juves Douglas Costa, zumal er auf beiden Seiten eingesetzt werden kann. Wird Neymar nicht fit, könnte Schachtjors Taison zur Option werden. Willian Jose von Real Sociedad ist diesmal zum ersten Mal dabei.

Und in der Zentrale? Citys Neuzugang in spe Fred steht zur Wahl, Jadson (Corinthians) oder Anderson Talisca (Besiktas) ebenfalls. Dazu das übliche Gros aus hochtalentierten Youngstern, die noch in der Heimat spielen. "Alle werden sich bis zur Deadline präsentieren dürfen", verkündete Tite. "Die Spieler werden weiter beobachtet, deshalb habe ich den finalen Kader noch nicht bekanntgegeben."

Die wichtigste Kaderfrage ist derweil zweifellos eine andere. Es ist die Frage, die eine ganze Nation bewegt: Wird Neymar rechtzeitig fit?

25 Spieler hatte Tite für die beiden Tests gegen WM-Gastgeber Russland und Deutschland nominiert, 17 davon standen schon beim letzten Länderspieltermin im Kader. Nicht dabei sind diesmal unter anderem Danilo oder der Ex-Wolfsburger Diego.

Das brasilianische Aufgebot im Überblick

  • Torhüter: Alisson (AS Rom/Italien), Ederson (Manchester City/England), Neto (FC Valencia/Spanien)
  • Abwehr: Daniel Alves (Paris St. Germain/Frankreich), Pedro Geromel (Gremio Porto Alegre/Brasilien), Ismaily (Schachtjor Donezk/Ukraine), Marcelo (Real Madrid/Spanien), Marquinhos (Paris St. Germain/Frankreich), Miranda (Inter Mailand/Italien), Fagner (SC Corinthians/Brasilien), Rodrigo Caio (FC Sao Paulo/Brasilien), Thiago Silva (Paris St. Germain/Frankreich)
  • Mittelfeld: Casemiro (Real Madrid/Spanien), Fernandinho (Manchester City/England), Fred (Schachtjor Donezk/Ukraine), Paulinho (FC Barcelona/Spanien), Philippe Coutinho (FC Barcelona/Spanien), Renato Augusto (Beijing Guoan/China), Anderson Talisca (Besiktas Istanbul/Türkei), Willian (FC Chelsea/England)
  • Angriff: Douglas Costa (Juventus Turin/Italien), Roberto Firmino (FC Liverpool/England), Gabriel Jesus (Manchester City/England), Taison (Schachtjor Donezk), Willian Jose (Real Sociedad San Sebastian/Spanien)

Natürlich konzentriert sich die öffentliche Wahrnehmung fast ausschließlich auf Neymar. Die Fußverletzung vom 26. Februar macht aus seiner WM-Teilnahme wie bei Manuel Neuer ein Rennen gegen die Zeit, für den operativen Eingriff und die anschließende Reha zog er sich in seine Heimat zurück. Ein ganzes Land fiebert mit.

Während ein möglicher Ausfall Neuers jedoch nichts an Joachim Löws Taktik ändern dürfte, muss Tite sein Team ohne den Superstar jedoch neu kalibrieren. Schließlich war das Konzept der Selecao, ähnlich wie bei Paris St.-Germain, auf Neymar ausgelegt.

Wie in Paris stürmt Neymar auch in Tites Wunschelf über die linke Seite, die dortige Lücke muss erst einmal geschlossen werden. "Tite muss jetzt andere Spieler testen, aber es wird natürlich schwierig, denn Neymar ist ein Superstar", sagt Elber. "Wir alle hoffen, dass er wieder gesund wird."

Brasilien ohne Neymar: Wie sieht Tites Aufstellung aus?

Dafür bieten sich vor allem zwei Lösungen an. Zum einen könnte Philippe Coutinho vom FC Barcelona von der rechten auf die Linke Seite wechseln, den frei gewordenen Platz übernähme Chelseas Willian. "Taktisch gesehen ist es klar: Jemand muss seine Position übernehmen", bestätigte Coutinho, der ohne Neymar zum Schlüsselspieler im Mittelfeld mutiert. Er "überlasse dem Coach, wo er mich braucht."

Das muss aber nicht unbedingt die Seitenlinie sein, auch wenn der zweitteuerste Spieler aller Zeiten auf beiden Seiten einsetzbar wäre. Es gibt auch die Option, Coutinho zentral als Regisseur aufzubieten, mit Willian rechts und Ex-Bayern-Star Douglas Costa über links. In diesem Fall würde wohl Renato Augusto aus der Startelf rutschen und Coutinho die Halbposition neben Paulinho übernehmen.

Das Problem: Zu weit zurückgezogen will Tite den 25-Jährigen gegen starke Konkurrenz nicht einsetzen, es würde ihn seiner Stärken berauben. Schon im Test in Moskau präsentierte sich das Team in der ersten Halbzeit vorne recht ideenlos, zwischen Coutinho und Stürmer Gabriel Jesus passte die Abstimmung nicht.

Erst als Costa noch weiter nach außen und Coutinho so zentral hinter Jesus rückte, zündete das Offensivspiel. Im Anschluss gab es Lob von Tite: "Er hat sehr gut gespielt, ob im Zentrum oder weiter außen."

Barcas Coutinho als Schlüsselspieler - auch gegen Deutschland

"Ich würde Couthinho auf links spielen lassen", sagt Elber, "aber auch Douglas Costa hat sich bei Juve gefangen und ist ein toller Fußballer." Es scheint, als würde Tite Stand jetzt die Variante mit Coutinho in der Schaltzentrale bevorzugen. Auf diese Weise kann er sich noch stärker als Führungsspieler etablieren und in der Selecao aus Neymars Schatten treten.

Und das zuletzt lahmende Offensivspiel des Teams beleben, gerade gegen Mannschaften, die ihre Spieler am eigenen Sechzehner parken und auf Konter setzen. Gegen England tat sich Brasilien im November sehr schwer, auch in Moskau überzeugte man lange nicht. Bei der WM dürfte man sich einer Mauertaktik noch das eine oder andere Mal gegenübersehen.

Nicht jedoch in Berlin, gegen die deutsche Nemesis. Löw wird wie immer mitspielen wollen, selbst ohne mindestens fünf Stammspieler, und so ist es für Tite eine gute Möglichkeit, sein Team gegen einen der Großen auf Herz und Nieren zu prüfen - einen, der ebenfalls die Kontrolle im Mittelfeld anstrebt.

Die eine oder andere Schwachstelle gibt es nämlich in der Defensive abzustellen, auch wenn Torhüter Allison in 13 seiner 23 Länderspiele eine weiße Weste vorzuweisen hatte: Gerade auf den Flügeln bieten sich hinter den aufgerückten Alves und Marcelo immer wieder Räume, die zum Gegenstoß einladen. Casemiro als einziger Sechser steht zu oft allein auf weiter Flur. So bemühte sich Innenverteidiger Miranda nach dem Spiel am Freitag als Mahner im Stile eines Jerome Boateng: "Das Spiel war sehr schwierig, wir haben zu viele Konter gefangen."

Deutschland - Brasilien: Die letzten Duelle

DatumWettbewerbErgebnis (aus deutscher Sicht)
08.07.2014Weltmeisterschaft - Halbfinale7:1
10.08.2011Freundschaftsspiel3:2
26.06.2005Confederations Cup - Halbfinale2:3
08.09.2004Freundschaftsspiel1:1
30.06.2002Weltmeisterschaft - Finale0:2

Die Partie gegen Deutschland bringt obendrein die psychische Komponente mit sich: Das erste Spiel nach der Demütigung in Belo Horizonte, die eine ganze Nation in Tränen stürzte. Für das eigene Selbstbewusstsein ist eine gute Leistung eminent wichtig: Seht her, wir haben keinen Knacks davongetragen, sondern wir haben aus der Klatsche gelernt.

"Unser Team befindet sich noch im Aufbau, es wird emotional ein wichtiges Spiel", gab Tite zu. Sein Team muss den Glauben an den Titel erst noch verinnerlichen: "Wir wollen Deutschland unser Spiel und unsere Spielidee aufzwingen. Dafür müssen wir den Kampf annehmen und mental stark sein."

Wird gegen Deutschland experimentiert? Löw etwa hat schon einige Leistungsträger nach Hause geschickt. "Er kann das machen, das ist clever", analysiert Elber. "Aber Brasilien wird keine Experimente machen, sondern mit der besten Elf auflaufen. "Brasilien muss gewinnen, weil das Spiel so wichtig ist für die Köpfe der Spieler." Das 7:1 ist nicht vergessen: "Alle wollen ein gutes Spiel sehen. Die Presse wird sich auf das Team stürzen, wenn es schon wieder verliert."

Neymars Abwesenheit darf dabei keine Ausrede sein. "Das spielt keine große Rolle", meinte etwa Douglas Costa. "Er ist ein wichtiger Teil des Teams, aber so können andere zeigen, was sie draufhaben." Ohne Neymar erlitt man die Schmach 2014 - ohne Neymar könnte man zumindest einen kleinen Haken dahinter setzen. Um es mit Tite zu sagen: "Solange es kein neues Duell mit Deutschland gibt, werden die Sticheleien anhalten."