WM

Mario, Marcello und der Wahlkampf

Von Christian Bernhard
Mario Balotelli spielt seit 2007 für Inter Mailand in der Serie A
© Getty

32 Teams nehmen an der Weltmeisterschaft in Südafrika teil. Jedes Teilnehmerland hat seine eigene Geschichte zu erzählen. SPOX greift aktuelle Entwicklungen auf, lässt Protagonisten zu Wort kommen oder beleuchtet historische Ereignisse. Heute: Italien.

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In Italien ist Wahlkampfzeit. Und das nicht nur wegen der Wahlen Ende März in mehreren italienischen Regionen. Auch das liebste Kind der Italiener, die Squadra Azzurra, steckt im Wahlfieber - zumindest laut Nationaltrainer Marcello Lippi. "Die Medien sind wie die politischen Parteien: Jede Zeitung hat ihre Kandidatenliste", so Lippi vor dem Kamerun-Spiel (0:0) am 3. März.

Vor wenigen Monaten lief bereits ein ähnlicher Film ab, damals mit Antonio Cassano in der Hauptrolle. Um das schlampige Sampdoria-Genie ist es schon lange wieder ruhig geworden, jetzt gehören einem anderen die Schlagzeilen: Inters Youngster Mario Balotelli (Hier geht's zum Porträt). Und diesmal ist die Stimme des Volkes noch lauter: Bei einer kürzlichen Umfrage der "Gazzetta dello Sport" sprachen sich 76,2 Prozent der über 18.000 Teilnehmer für eine Nominierung des 19-Jährigen aus.

Körperliche Stärke und taktisches Verständnis

Fakten, die diese Forderung untermauern, gibt es genug: Balotelli hat bereits 18-Serie-A-Tore auf seinem Konto. Als 90er-Jahrgang wohlgemerkt. Es ist über 60 Jahre her, dass ein Spieler so viele Liga-Tore vor seinem 20. Lebensjahr erzielt hat - Juve-Legende Giampiero Boniperti war 1947 der Letzte. Keinem Roberto Baggio, keinem Francesco Totti, keinem Alessandro Del Piero gelang das.

Ein Großteil dieser Tore war zudem enorm wichtig. Im Frühjahr 2008 riss er als 17-Jähriger die Nerazzuri in der entscheidenden Meisterschaftsphase mit seinen Treffern mit und war zusammen mit Zlatan Ibrahimovic der Hauptgrund für den letzten Scudetto unter Roberto Mancini.

Hinzu kommt seine taktische Variabilität: Mittelstürmer, hängende Spitze, Außenangreifer oder sogar rechter Mittelfeldspieler im 4-4-2 - Balotelli hat alles schon gespielt und sich überall gut verkauft. Möglich machen das seine körperliche Stärke und sein ausgeprägtes taktisches Verständnis.

"Er ist ein Meister der Episoden. Seine Unberechenbarkeit und fußballerische Konfusion sind die Quelle vieler unvorhersehbarer Ereignisse", schreibt der "Corriere della Sera".

Warten auf einen Anruf Lippis

Last but not least: Balotelli kann zur tödlichen Waffe von der Bank werden. Bei den 31 Einsätzen in der laufenden Saison wurde er 16 Mal eingewechselt. Trotzdem ist er mit neun Saisontoren hinter Diego Milito und Samuel Eto'o drittbester Inter-Schütze.

Im Achtelfinal-Hinspiel gegen Chelsea kam er 30 Minuten vor Schluss, eine seiner ersten Aktionen war ein Tunnel gegen Frank Lampard. Danach bereitete er auf rechts außen Florent Malouda Kopfzerbrechen. Es ist schwer, einen 19-jährigen Profi mit einem vergleichbaren Selbstvertrauen und einer so starken Persönlichkeit auf dem Platz in Europa zu finden. Auf einen Anruf Lippis wartete er bisher trotzdem vergeblich.

Ein Grund dafür: Balotelli polarisiert wie kaum ein anderer. Auf der einen Seite ist da der 19-jährige Fußball-Diamant, mit einem schier unendlichen Talent, auf der anderen Seite "Mr. Mario Hyde", der immer wieder mit Trainern und Mitspielern Probleme hat, der nach Ballverlusten einfach stehen bleibt und wegen jeder Kleinigkeit mit dem Schiedsrichter diskutiert.

"Jemand muss dem Jungen erklären, dass er sich nach einem Foul nicht umdrehen und den Gegenspieler beschimpfen kann: die guten Spieler werden immer gefoult", schimpfte Ex-Juve-Star Zibi Boniek kürzlich in der "Gazzetta dello Sport".

Gruppe im Vordergrund

Beim U-21-Spiel gegen Ungarn am 3. März zitierte ihn der Schiedsrichter bereits nach acht Minuten zu sich, da er dem Spielleiter nach jedem Foul mit der Hand vorgezählt hatte, zum wievielten Mal er niedergestreckt wurde. Seine Mitspieler Stefano Okaka und Lorenzo de Silvestri hatten ihn da bereits zur Seite genommen, um ihn zu beschwichtigen und zu beruhigen.

Diese Seite Balotellis ist es, die Lippi nicht gefällt. Beim Weltmeister steht die Gruppe im Vordergrund, der 61-Jährige hat Angst, dass Balotelli Unruhe ins Team bringt. So wie etwa mit der Bekanntgabe, dass Mino Raiola (Hier geht' zum Porträt), ein undurchsichtiger Spielerberater, der auch Zlatan Ibrahimovic betreut, sich jetzt um "Super Mario" kümmert. Oder die Nichtberücksichtigung durch Jose Mourinho für das Rückspiel gegen Chelsea.

Trotzdem ist der "Corriere della Sera" der Meinung: "Die Gruppe geht vor, aber innerhalb der Gruppe muss Platz für Unterschiede sein. Ansonsten wird es eine Lobby" - und spricht damit vielen Italienern aus dem Herzen.

"Sympathisch, aber nicht reif genug"

Er solle sich jetzt auf die U 21 konzentrieren und sie zur EM führen, sagte Lippi vor dem Kamerun-Spiel, dem letzten Test vor dem Saisonende: "Ich finde ihn sehr sympathisch, aber er muss noch reifen".

Dabei lechzt Fußball-Italien nach Offensivpower. "Wir brauchen einen Super-Stürmer", titelte die "Repubblica" nach dem offensiv mageren 0:0 gegen Kamerun und sprach von Balotelli als "einziger Lösung".

Auch Antonio Cabrini würde "nie im Leben" in Südafrika auf Balotelli verzichten. Cabrini war 1978 als 20-Jähriger in Argentinien dabei, Paolo Rossi war damals 21. Vier Jahre später wurden beide unter Trainer Enzo Bearzot in Spanien Weltmeister. Ein Fakt, den nahezu alle italienischen Medien unterstreichen.

Viele Beobachter würden eine Einberufung Balotellis alleine schon wegen seiner Hautfarbe gutheißen. Doch Lippi blockt ab: "Jeder weiß, dass ich gegen jegliche Form von Rassismus bin. Aber ein Trainer kann einen Spieler nicht aus diesem Grund einberufen. Wenn ich ihn einlade, dann einzig und allein aus sportlichen Gründen."

Unterstützung aus dem rechten Lager

Unerwartete Unterstützung bekam Balotelli sogar aus dem rechten politischen Lager.

Erst vor wenigen Tagen sprach sich "La Padania", das Sprachrohr der rechtspopulistischen Regierungs-Partei "Lega Nord" für eine Einberufung Balotellis aus. "Für die schwierigsten Herausforderungen braucht es mutige Entscheidungen", schrieb das Blatt.

Lippi aber blockt immer noch ab. Man hat den Eindruck, je größer der Druck von außen auf ihn wird, desto unwahrscheinlicher wird die Entscheidung pro Balotelli ausfallen.

Der Youngster aber glaubt an seine WM-Chance: "Wollen wir ein Abendessen wetten, dass ich in Südafrika dabei bin", fragte er kürzlich einen TV-Reporter. "Falls ja, bringe ich dir mein Trikot mit und du lädst mich zum Essen ein. Falls wir Weltmeister werden, zahle ich dir so viele, wie du willst."

Alle Termine und der Kader: Italien im Steckbrief