Der FC Barcelona könnte innerhalb einer Woche nicht nur die Champions League und die Meisterschaft, sondern auch die Copa del Rey gegen Real Madrid (21.30 Uhr im LIVE-TICKER) verspielen. Der Schuldige scheint mit Trainer Gerardo Martino bereits gefunden, dabei gehen die Probleme deutlich tiefer.
Sechs Jahre ist sie nun her, die größte Demütigung des FC Barcelona aus diesem Jahrhundert. Doch so mancher Cule fühlt sich in den letzten Wochen zurückversetzt in eine Zeit, die man eigentlich schon längst abgehakt hatte. Eine undisziplinierte und lustlose Mannschaft verlor damals mit 1:4 gegen Real Madrid und musste dem großen Erzrivalen im Santiago Bernabeu Spalier stehen.
Nun droht nach den erfolgreichsten Jahren der Klubgeschichte ein ähnliches Debakel. Am letzten Spieltag geht es gegen Atletico Madrid, erneut droht das Spalier - diesmal sogar im eigenen Stadion. Dabei wollte der FC Barcelona gerade nach der letzten Saison wieder angreifen. Eine neue Spielweise, endlich der gewünschte Plan B - all das versprach die Neuverpflichtung Gerardo Martino.
Erste Ansätze erkennbar
Bereits die ersten Testspiele erwärmten das katalanische Herz. Ein hohes und aggressives Gegenpressing, direktes, schnelles Spiel kombiniert mit Ballbesitzfußball und einer hohen Laufbereitschaft. Die Mannschaft wirkte fit und top motiviert, der einzige Neuzugang Neymar fügte sich nahtlos in das Kollektiv ein.
Martino schien der Mann zu sein, den Barcelona lange gesucht hatte. Jemand, der die Klubphilosophie kennt und verstanden hat, allerdings auch nicht vor Anpassungen zurückschreckt. Der Argentinier führte sein Prinzip weiter fort. Aus Barca wurde situativ eine Mannschaft, die im 4-4-2 agierte, ein tieferes Mittelfeldpressing spielte und teilweise sogar weniger Ballbesitz verbuchte als der Gegner.
"Philosophie ist unantastar"
Monate später steht Martino vor dem Aus. Die Meisterschaft scheint verloren, das Aus in der Champions League ist bereits besiegelt. Vor dem Finale in der Copa del Rey stehen die Vorzeichen nicht unbedingt auf Sieg.
Es ist das Ergebnis einer Debatte, die ihren Anfang noch zu Zeiten hatte, als Barcelona die Tabelle anführte und frühzeitig für das Achtelfinale der Königsklasse qualifiziert war.
Eine Debatte, wie sie nur in Katalonien entstehen kann. Die Mannschaft spiele nicht attraktiv genug, das Prinzip des FC Barcelona sei es, den Gegner zu dominieren und jederzeit selbst die Initiative zu übernehmen. Beschwichtigende Worte wie von Xavi, der erklärte: "Die Philosophie des Teams ist unantastbar und nicht veränderbar. Das hat uns Martino an seinem ersten Tag klargemacht", verpufften wirkungslos.
Die Rolle der Presse
Denn die Presse hatte ihr Opfer gefunden. Wochenlang drehten sich Pressekonferenz, ob Sieg oder nicht, um die Spielweise und das Zustandekommen der Ergebnisse. So lange bis sich Pedro Rodriguez zu der Aussage hinreißen ließ, man spiele "gar nicht so schlecht, wie alle sagen."
Ein Vorangehen, das Wirkung zeigte. Martino brach ein. Schritt für Schritt ging es zu alten Gewohnheiten zurück. Das Pressing wurde weniger, der Ballbesitz wieder höher. Die Presse verstummte, solange die Ergebnisse stimmten. Nun meldet sie sich zurück, inzwischen wurde auf manchem Titelblatt sogar die Entlassung des Trainers gefordert.
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Denn das Barcelona, das Tata auf den Platz schickt, ist nicht mehr das, das er selbst vor Augen hatte. Es ist das Vermächtnis von Pep Guardiola, Tito Vilanova und Jordi Roura. Allerdings in einer grotesken Form. Der Ballbesitz ist nicht mehr länger ein Mittel, um Tore zu erzielen, sondern viel mehr eines, um über Schwächen in der Defensive hinwegzutäuschen.
Wer den Ball nicht verliert, der kommt auch nichts ins Verteidigen, so der Plan. Offensive Gefahr versucht man durch Flanken auszustrahlen - auf eine Offensive, die im Schnitt kaum größer ist als 1,75 Meter. Ein sinnvolles Gegenpressing ist nicht mehr möglich, dürfen sich doch einzelne Spieler aus der Defensivarbeit ausnehmen. Ganz Barcelona hofft auf Lionel Messi, doch von diesem fordert der Trainer wiederum sich "weniger am Spiel zu beteiligen."
"Das ist nicht mein Barca"
Die Vorwürfe werden lauter, doch will kaum einer die Schuld bei Martino sehen. Eine Umfrage der "Sport.es" ergab nur 20 Prozent Schuldzuweisungen an den Trainer, 33 Prozent an die Spieler und ganze 47 Prozent sehen die Vereinsführung als ausschlaggebend an. Eine Theorie, der Johan Cruyff neuen Wind in die Segel bläst.
"Das ist nicht mein Barca", wütete der Niederländer nach dem Champions-League-Aus gegen Atletico Madrid.
Den Trainer wollte er jedoch nicht verantwortlich machen: "Man kann ihn nicht belangen, weil er tut, was er kann. Aber es ist hart, ein Team zu managen, wenn dich keiner lässt." Denn das Problem geht viel tiefer, als es das öffentliche Bild vermuten lässt.
Trainer ausmanövriert
"Derjenige, der die Entscheidungen in der Kabine treffen sollte, ist der Trainer. Aber in den letzten vier Jahren war das nicht der Fall, es war jemand anderes", stellt der 66-Jährige in den Raum. "Sie haben sogar einen Spieler verkauft, den Pep behalten wollte, Dmytro Chygrynskiy."
"Sie" bedeutet in diesem Falle das Präsidium rund um den inzwischen zurückgetretenen Sandro Rosell, dessen Nachfolger und engen Vertrauten Josep Maria Bartomeu sowie Andoni Zubizarreta.
Schon im Vorjahr hatte es Gerüchte gegeben, Vilanova und vor allem Roura seien in der Kabine regelmäßig überstimmt worden, sei es aus der Führungsetage oder durch routinierte Spielern selbst. Xavi bestätigte bereits während der Krankheit von Vilanova, dass man "kaum noch Taktik trainiert habe", die Spieler hätten sich selbst organisiert.
Katalanische Dickköpfigkeit
Der Frage, der sich Martino stellen muss, ist, ob Veränderung überhaupt gewünscht ist. Der Klub ist von den jüngsten Mannschaften bis hin in die Profimannschaft nach einem Prinzip erzogen. Destruktives Denken, das Spiel gegen den Ball findet nicht statt. Trainingsschwerpunkt sind die Ballannahme und Weitergabe, sowie das offensive Eins-gegen-eins.
Die Führung beruft sich gerne auf das Motto: "Mes que un Club", lässt dies aber in der Praxis vermissen. Barca trägt erstmals in der Vereinsgeschichte einen Trikotsponsor, der Vorstand verbrüdert sich still und unauffällig mit katarischen Geldgebern.
Seine einzigartige, unnachahmliche Spielweise ist das letzte Aushängeschild, das den FC Barcelona vom Rest der Mannschaften aus Europa unterscheidet - und wird inzwischen vom FC Bayern unter Pep Guardiola in Frage gestellt.
Dies könnte nun zum Stolperstein für Gerardo Martino werden. Der so ambitioniert gestartete Trainer ist an etwas gescheitert, das schon viele andere zuvor in die Knie gezwungen hat: katalanische Dickköpfigkeit. Denn Barca will sich gar nicht ändern.