Andrea, du bist der Nächste

Von Fatih Demireli
"Wenn Moratti anruft, gehe ich immer ran." Inter-Coach Andrea Stramaccioni
© Getty

Andrea Stramaccioni ist der neue Trainer von Inter. Der 36-Jährige gilt als das Talent des italienischen Trainermarkts. Doch der promovierte Jurist, der als Jugendcoach Riesenerfolge feierte und wichtige Befürworter hat, hat keine leichte Aufgabe bei den Nerazzurri. Zum einen muss der Erfolg schnell her, zum anderen gibt es da diesen Jose Mourinho.

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Wahrscheinlich hat sich Massimo Moratti in diesen Augenblicken in Andrea Stramaccioni verliebt. Eine Fußballmannschaft des FC Internazionale aus Mailand, die nicht nur aufregend schönen Fußball spielt, sondern auch - und das ist das Premium-Kriterium des Präsidenten - einen Titel holt.

Gehofft hatte Moratti, dass seine Profi-Mannschaft in der aktuellen Spielzeit diese Kriterien erfüllt und ähnlich wie in der Triple-Saison unter Jose Mourinho 2009/10 in der Serie A und in der Champions League um Titel spielt. Das Zwischenergebnis: Weder noch. In der Königsklasse war für Inter gegen Olympique Marseille im Achtelfinale Schluss, in der Serie A ist man längst durchgereicht worden.

Der persönlich beleidigte Moratti hatte keine Lust mehr, sich das schwarz-blaue Elend anzusehen und schwänzte Ende März den Kracher zwischen Inter und Juventus, um stattdessen Inters U 19 vor Ort zu unterstützten, die in London gegen Ajax Amsterdam zeitgleich um den inoffiziellen Champions-League-Titel der Junioren spielte.

Inter ist wieder wer

Stramaccionis Truppe spielte fast 50 Minuten in Unterzahl, weil Verteidiger Ibrahima Mbaye die Rote Karte sah. In der 120. Minute folgte ihm Verteidiger-Kollege Simone Pecorini per Platzverweis in die Kabine und dennoch hielt Inter das 1:1 und gewann letztlich im Elfmeterschießen die prestigeträchtige Trophäe. Inter war wieder wer - wenn auch nur auf Jugendebene.

Moratti ließ es sich nicht nehmen, mit der Mannschaft auf dem Rasen des Leyton Orient zu feiern und selbst bei der Kabinenansprache vor dem Spiel war er mittendrin in der Kabine zwischen Andrea Romano, Daniel Bessa oder Raffaele Di Gennaro, den jungen Talenten Inters.

Und eben auch in der Nähe Stramaccionis, der seine Jungs beeindruckend heiß machte, ihnen die richtige Taktik mitgab und direkt nach dem Schlusspfiff nicht jubelnd über den Platz rannte, sondern sich um den in Tränen ausgebrochenen Rotsünder Mbaye kümmerte.

"Wenn Moratti anruft..."

In diesem Jubeltrubel muss es dann passiert sein. In diesen Augenblicken muss sich Moratti entschieden haben, dass es mit Ranieri nicht weitergeht, zumal aus der Heimat längst die Nachricht des erwartungsgemäßen 0:2 gegen Juventus eintrudelte. In diesen Augenblicken muss er sich gesagt haben: Andrea, du bist der Nächste.

Einen Tag nach dem Spiel befragte "Sky Italia" Stramaccioni über die Begegnung mit Moratti. Der junge Coach war euphorisch. "Der Präsident hat mich tief bewegt. Wie er zu mir vor dem Spiel sprach und was er nach dem Spiel zu mir sagte, wird mich immer begleiten." Und was ist, wenn Moratti anruft, um ihn zum Profi-Trainer zu machen? Stramaccioni lächelte nur. "Wenn Moratti anruft, gehe ich immer ran."

Einen Tag später gab Inter die Trennung von Claudio Ranieri bekannt und beförderte Stramaccioni zum Profi-Trainer. Inzwischen sind drei Spiele unter seiner Regie vergangen - drei Spiele, die nicht aussagekräftig sein können bei der Antwortsuche der Frage: Wer ist dieser Stramaccioni überhaupt?

Keine Profi-Karriere als Fußballer

Mangels echter Fußballerkarriere, die Stramaccioni aufgrund einer Knieverletzung beenden musste, bevor sie überhaupt richtig begann, war und ist er für den Otto-Normal-Fußballfan lange Zeit ein Name ohne Gesicht. Zwar geisterte der wohlklingende Name immer wieder durch die Fußball-Landschaft, wirklich gekannt haben ihn aber nur die Kenner der Szene.

Und die Meinungen dieser Leute reichen, um sich für den Mann, der am 9. Januar 1976 in Rom geboren wurde und seit 2010 promovierter Jurist ist, zu interessieren. "Inter ist mir zuvorgekommen. Eigentlich wollte ich ihn für die U-17-Nationalmannschaft holen. Er ist ein sehr interessanter, junger Mann, der für den Trainerjob wie geschaffen ist", sagt Trainerguru Arrigo Sacchi, seines Zeichens Technischer Koordinator des italienischen Verbands.

Das Problem: De Rossis Vater

Gefragt war Stramaccioni in seiner jungen Trainerlaufbahn immer. Überraschende Titel mit römsichen Vorortklubs auf U-14 -und U-16-Ebene machten den großen AS Rom, für den das Herz Stramaccionis bis heute noch schlägt, hellhörig. 2005 wurde Stramaccioni verpflichtet, wo er zunächst die U 14 übernahm und prompt den national Titel holte. Auch die U 16 wurde unter Stramaccioni zum Primus der Jugendfußballs in Italien.

Die logische Folge für ihn war, irgendwann die höchste Jugendklasse, die U 20, zu übernehmen. Trotz der emotionalen Bindung zu seinem Klub forderte der in dieser Phase vom Verband umworbene Stramaccioni eine Beförderung ein. Aber: Die Roma konnte ihm die U 20 nicht geben, weil Alberto De Rossi, Vater von Roma-Profi Daniele, diese Auswahl betreute und als aktueller Meister unumstritten war.

Dass genau zu dieser Phase Inters U-20-Coach Claudio Pea ein Angebot als Cheftrainer beim Zweitligisten Sassuolo bekam, war für Stramaccioni Chance und Schicksal zugleich. Inter, das längst ein Auge auf den Mann, der nicht nur Erfolge holte, sondern guten Fußball spielen ließ, geworfen. Der Erfolg stellte sich schnell ein, neben der NextGen Series war Inter auch in der Liga erfolgreich.

Die Chance für die Jugend

"Ich mag ihn sehr, er verfügt über eine gute Menschenführung", sagt Lukas Spendholfer. Der Österreicher war Stramaccionis Spieler bei der U 19 und weint seinem Trainer eine Träne nach: "Als es mir ein Freund per SMS mitgeteilt hat, fand ich es schade, dass er nicht mehr unser Trainer ist. Aber eigentlich ist es für die jungen Spieler eine gute Möglichkeit."

Und genau an dieser Stelle beginnen die Erwartungen bei Inter: "Wir hoffen, dass er Inter einen neuen Jugendstil verpasst. Wir brauchen einen Mix aus erfahrenen Spielern und jungen Elementen, die uns das gewisse Etwas geben", sagt Inter-Geschäftsführer Ernesto Paolillo. Stramaccioni soll dafür sorgen.

Die Mannschaft ist aufgrund zahlreicher Trainerwechsel, die alle ihre eigenen Ideen und Transferwünsche mitbrachten, kreuz- und quer zusammengestellt. Eine echte Kaderstruktur ist nicht zu erkennen und eine Frischzellenkur ist längst überfällig. Kapitän Javier Zanetti ist vier Jahre älter als Stramaccioni, Julio Cesar, Ivan Cordoba, Walter Samuel, Dejan Stankovic, Diego Milito oder Diego Forlan bewegen sich altersmäßig auf seinem Level.

Die Jüngsten müssen warten

Stramaccioni kennt die Erwartungen, die seiner Philosophie entsprechen: "Junge Spieler sind die Prunkstücke eines Fußballklubs." Aber: "Es ist immer die Frage, wie und wann sie einer Mannschaft helfen können und welche Auswirkung eine Nominierung für ihre Entwicklung haben."

Dass junge Spieler wie Andrea Poli und Davide Faraoni, die unter Ranieri zuletzt spielten, die ersten Opfer Stramaccionis waren, wirkt zunächst widersprüchlich, ist aber auch ein Indiz dafür, dass sich Stramaccioni mit den erfahrenen Spielern zunächst freischwimmen und möglichst seinen Job über die Saison hinaus retten will.

Mit Andre Villas-Boas, Marcelo Bielsa und Josep Guardiola sind mögliche Inter-Trainerkandidaten allgegenwärtig in der Welt der Gerüchte. Letzterer gilt als großer Moratti-Traum. Der Barcelona-Coach genießt in Italien ein extrem hohes Standing. Dass er in einem Interview sagte, dass "die Gazzetta dello Sport zu jedem Frühstückstisch gehört", ließ die italienischen Herzen dahin schmelzen.

Das Problem Mourinho

Auch wenn der Inter-Boss Stramaccioni schon am ersten Tag einen langfristigen Job in Aussicht gestellt und auch Geschäftsführer Paolillo festgehalten hat, dass "Stramaccioni kein Feuerwehrmann für uns ist", wird letztlich viel davon abhängen, ob Stramaccioni zumindest die Europa League erreicht.

"Stramaccioni kann Inter seinen Stempel aufdrücken, aber er ist auch kein Zauberer", sagt Sacchi fast schon schützend. Die Gefahren für das Trainertalent sind damit nicht begrenzt: "Hier kommt der Mourinho der Jungtalente", titelte die "Gazzetta dello Sport" nach der Beförderung Stramaccionis zum neuen Chef. Von "StraMOUccioni" ist ständig die Rede.

Seit dem Triple 2010 wird jeder Nachfolger Jose Mourinhos mit dem Portugiesen verglichen. Die Krux für Rafael Benitez, Leonardo, Gian Pero Gasperini und Claudio Ranieri, allesamt Nachfolger Mourinhos, war, dass Klub-Boss Moratti selbst jeden Inter-Coach an den Erfolgen des aktuellen Real-Trainers gemessen hat.

Vorbild Spaletti

Stramaccioni baut vor: "Ich unterscheide mich von Jose Mourinho. Ich bin Lichtjahre von ihm entfernt. Er ist einer der besten Trainer der Welt. Er hat seine Ideen, ich habe meine." Stramaccioni orientiert sich mehr an Luciano Spaletti, mit dem er eng in Rom zusammenarbeitete und zu dem er heute noch ein inniges Verhältnis hat. "Er inspiriert mich. Er war auch der erste Gratulant", sagt Stramaccioni.

Wenn Moratti das Verständnis aufbringt, keine Mourinho-Kopie geholt zu haben und dass der Erfolg sich auch mit anderen Methoden einstellen kann, könnte Stramaccioni in der Tat eine große Chance für Inter werden. Aber auch nur dann.

Die Tabelle der Serie A

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