Mulmiges Bauchgefühl

Arsene Wenger gewann als Arsenal-Trainer drei Mal die Premier League und sechs Mal den FA-Cup
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Seit fast 21 Jahren trainiert Arsene Wenger den FC Arsenal, noch nie war er dabei so umstritten wie aktuell. Die Deutungshoheit über die aktuelle Situation ist nicht geklärt. Die Vereins-Besitzer loben die Konstanz der Mannschaft, den Fans fehlen die emotionalen Ausschläge und die Spieler wollen Klarheit über die Zukunft. Ob Wenger seinen auslaufenden Vertrag verlängern wird, ist fraglich. Am Mittwoch trifft Arsenal im Achtelfinale der Champions League auf den FC Bayern (20.45 Uhr im LIVETICKER).

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Es hätte eine so rührende Geste sein können. Ein kleiner Moment des Zusammenhalts in einer Zeit, die offen zur Spaltung einlädt. Der FC Arsenal verliert gerade sein Spiel gegen den FC Chelsea, aber er verliert nicht nur ein Spiel, er verliert mehr als das. Er verliert wohl die letzte Chance auf den so lange ersehnten Meistertitel. 1:3 gegen Chelsea. Zwölf Punkte Rückstand auf Gegner und Spitzenreiter. Zu viel wohl, obwohl der Rückstand am vergangenen Spieltag auf zehn Punkte verkürzt wurde. Zu viel, um ihn im letzten Saisondrittel noch aufzuholen.

Und aus hunderten Kehlen schallte es: "Arsene Wenger, we want you to stay!" Es waren aber keine traurig-trotzigen Kehlen, die diese Worte schallen ließen. Nein, es waren heiter-hämische Kehlen. Es waren die Kehlen der Chelsea-Fans. Die blauen Anhänger feierten den Trainer des roten Stadtrivalen. Sie feierten ihn, weil sie sicher sind, dass es mit ihm um Arsenal schlechter bestellt ist als ohne ihn. Viel mehr Demütigung geht nicht.

Doch, geht. Und dafür brauchte es nicht lange. Alex Oxlade-Chamberlain likte keine Stunde nach Abpfiff ein Twitter-Video des Arsenal-Fan-TV mit dem verräterischen Titel: "Wenger Needs to Go!" Gedemütigt nicht nur von den gegnerischen Fans, gedemütigt sogar vom eigenen Spieler. "Das war unabsichtlich", sagte Oxlade-Chamberlain natürlich nachher, aber es passte einfach zu gut ins komplizierte Bild, das Arsenal unter Wenger im Moment abgibt.

Es ist ein Bild, das man zur Interpretation wohl keinem Gymnasiasten vorlegen sollte, sondern eher einem Kunstgeschichte-Studenten. Oder gar -Absolventen.

Das komplizierte Bild und seine Fragestellung

Arsenal steht zwar im Champions-League-Achtelfinale (gegen den FC Bayern) und auch im FA-Cup-Achtelfinale (bei Sutton United), ist aber nur Vierter der Premier League. Die Deutungshoheit über diesen Zwischenstand ist nicht geklärt: Die Besitzer freut's, die Fans ärgert's und die Spieler wissen nicht, woran sie sind. Diese Melange lässt den Klub in einem beklemmenden und alles beherrschenden Gefühl der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation zurück.

Auflösen kann diese Situation nur Wenger selbst. Geht er? Oder bleibt er? So lautet die einfache Fragestellung, die dieses komplizierte Bild aufwirft. Und darauf weiß sogar der Protagonist selbst noch keine Antwort. "Ich will auf mein Bauchgefühl vertrauen", sagt Wenger und sagt es wohl mit einem etwas mulmigen Bauchgefühl.

Im Sommer braucht es eine Auflösung, dann läuft der Vertrag des 67-jährigen Franzosen aus. Er spielt auf Zeit. "Morgen ist nicht Sommer", sagt Wenger, "morgen ist morgen." Um das heutige Bild und die anstehende sommerliche Entscheidung Wengers zu verstehen, braucht es einen Blick auf gestern. Oder vorgestern.

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Die Erinnerung als Daseinsberechtigung

1996 übernahm Wenger den Klub und eine seiner ersten Botschaften war diese: Schluss mit dem Alkohol! Er übernahm einen Verein, dessen Spieler sich nicht nur dem Arsenal Football Club verpflichtet fühlten, sondern genauso dem Tuesday Club. So nannten sie ihr alldienstägliches Besäufnis und das wurde in der Öffentlichkeit auch weitestgehend akzeptiert. Mittwoch-Vormittag war damals schließlich meist trainingsfrei.

Eine Anekdote, die verdeutlicht, in was für einer fernen, aus heutiger Sicht fast surrealen Zeit sich Wenger dieses Vereins annahm. Seit fast 21 Jahren trainiert er den 131 Jahre alten Klub. Wenger steht somit für ein knappes Sechstel der Vereinsgeschichte, kleine Kinder dürften berechtigterweise glauben, der Klub wäre gar nach seinem Trainer benannt. Gemeinsam mit Herbert Chapman, dem Meister-Coach der 30er Jahre, ist Wenger die prägendste Person der Vereinsgeschichte.

Eine der erfolgreichsten ebenfalls, er gewann sechs FA-Cups und drei Meistertitel. Der letzte trägt den Titel "Invincibles". 2004 schaffte Wengers Arsenal das Undenkbare: Eine Saison ohne Niederlage, die Krönung.

Von all dem zehrte Wenger lange. Als in der Folge Titel ausblieben, verziehen ihm Fans und Vereinsverantwortliche Saison für Saison für Saison. Die Erinnerung war lange seine Daseinsberechtigung. Aber das Verzeihen fiel von Saison zu Saison zu Saison auch immer schwerer. Manchen jedoch schwerer als anderen.

Die Besitzer freut's

Vereins-Mitbesitzer Stan Kroenke will Wenger unbedingt halten. Medienberichten zufolge liegt dem Trainer ein unterschriftsreifer Zweijahresvertrag vor, Jahresgehalt 9,5 Millionen Euro. Die Besitzer haben wenig Grund zur Klage, beschert ihnen Wenger seit seinem Amtsantritt doch jede Saison eine Top-Vier-Platzierung, die in England relativ gleichbedeutend mit dem Geldregen Champions League ist.

Die prassende Konkurrenz holt zwar wichtige Titel, schlittert aber auch ab und an aus dem Geldregen. Wenger steht für Konstanz, lange mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln. Bis zum Sommer 2013 war der teuerste Transfer der Vereinsgeschichte Jose Antonio Reyes. Er kam 2003 für 20 Millionen Euro. Eine Marginalie für einen Klub wie Arsenal.

Gleichzeitig verließen aber oft die leistungstragendsten Leistungsträger den Klub, am liebsten zur direkten Konkurrenz aus Manchester (Robin van Persie, Samir Nasri, Kolo Toure, Emmanuel Adebayor, Gael Clichy) oder nach Barcelona (Cesc Fabregas, Thierry Henry).

Die Fans ärgert's

Die Fans haben eine weniger rationale Sichtweise als die Besitzer, dafür aber eine umso emotionalere. Ansehnliche Spielweise und talentiertes Personal hin, gute Preis-Leistungs-Transfers her. Den Fans fehlen die emotionalen Ausschläge.

Stets Anfang März im Achtelfinale der Champions League zu scheitern, stets Anfang März dank einer sich abzeichnenden neuerlichen Top-Vier-Platzierung in der Liga die Gewissheit zu haben, in der folgenden Saison erneut Anfang März im Achtelfinale der Champions League scheitern zu dürfen, ist ermüdend. Das Publikum will Titel und machte das irgendwann auch öffentlich deutlich.

Wenger reagierte und begann (nachdem das Emirates Stadium abbezahlt war) das zu tun, was die großen Rivalen schon lange taten und die Fans schon lange forderten: Er holte ab 2013 fertige Spieler für viele Millionen Euro. Mesut Özil, 47. Alexis Sanchez, 43. Granit Xhaka, 45. Shkodran Mustafi, 41.

Im Gefängnis, mitten im Winter und ohne Heizung

Mit dieser neuen Ausrichtung verriet sich Wenger gewissermaßen selbst, an den Endplatzierungen änderte sich aber gleichzeitig wenig. Stattdessen wurde Wenger reizbarer. Man merkt ihm mittlerweile an, dass er sein Denkmal bröckeln sieht.

Vor einigen Wochen gegen Burnley verlor Wenger gänzlich die Kontrolle und wurde dafür mit einer Geldstrafe und einer Innenraumsperre von vier Spielen belegt. "Ich hätte den Mund halten und nach Hause gehen sollen", sagte Wenger nachher zwar und auch, dass es ihm leid tue. Aber das änderte nichts an der Strafe. "Einige erachten das Urteil als zu milde. Die würden mich gerne ins Gefängnis stecken, mitten im Winter und ohne Heizung", sagte er, "und auch das wäre denen noch zu milde."

Mit diesen Anflügen eines Verfolgungswahns musste Wenger also unter anderem auch dieses so wegweisende 1:3 gegen Chelsea von der Tribüne aus erleben. Von dort hatte er einen hervorragenden Blick auf das Feld ("Eine Hälfte oben und eine unten wäre ein guter Kompromiss"), aber auch auf die Menschen um ihn herum. Die, die den Klub lieben, den er trainiert.

Die Liebe der Fans galt einst auch ihm selbst, aber diese Zeiten sind vorbei. "Enough is enough", stand auf einem Plakat, "Wenger out" und "Time for Change" auf anderen. Die Fans griffen also Wenger an und er schlug zurück. Die Arsenal-Fans sollen doch bitteschön etwas mehr wie die des Erzrivalen Tottenham sein, forderte Wenger. Die Anhänger der Spurs würden ihrem Team nämlich intensivere Rückendeckung geben. Ein Affront gegen den eigenen Anhang.

Auslaufendes Zusammen

Trotzdem ruft der Trainer zur Einigkeit auf. "Wir müssen zusammenhalten, sonst haben wir keine Chance", sagte Wenger, der sich etwas realitätsverklärend immer noch Chancen in allen drei Wettbewerben ausrechnet. Nur um sich wenig später selbst etwas zu widersprechen, indem er kundtat, dass es schwer sein wird, überhaupt in den Top-Vier zu landen.

Mit dem zurückliegenden 2:0-Sieg gegen Hull City feierte Arsenal nach zwei Niederlagen hintereinander immerhin wieder ein Erfolgserlebnis. Für die Treffer sorgte mal wieder Alexis Sanchez. Gemeinsam mit Mesut Özil ist er Schlüsselspieler und Wenger-Fürsprecher gleichermaßen. "Ich liebe das Trainerteam und bin dankbar für alles", sagte Sanchez jüngst gegenüber Sky. Özil äußerte sich, angesprochen auf seine Zukunft, im kicker ähnlich: "Der Klub weiß, dass ich vor allem wegen Wenger hier bin und auch, dass ich erst einmal Klarheit haben möchte, was der Trainer macht."

Auf diese Klarheit wird er noch warten müssen. Wenger zögert mit seiner Entscheidung und torpediert so die Zukunftsplanungen seines Vereins. Die Konzentration Wengers gilt dem Sportlichen. "Wir sind in einer sensiblen Phase der Saison", sagt er, "wir müssen zusammen auf Enttäuschungen reagieren." Wie lange es aber noch ein "zusammen" gibt ist fraglich.

Seinen im Sommer auslaufenden Vertrag unterschrieb Wenger 2014. Gefragt zu seinen Erwartungen sagte er damals: "Wir werden Meister, bevor mein Vertrag ausläuft."

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