Schrödingers Löwen

David Kreisl
24. März 201611:11
Harry Kane könnte das neue Gesicht der Three Lions werdengetty
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Ohne Punktverlust jagte England als Gruppensieger durch die EM-Qualifikation. Geht es um die Favoriten bei Turnier in Frankreich, ist das Mutterland des Fußballs dennoch außen vor. SPOX nimmt den Kader unter die Lupe und will wissen: Sind die Three Lions immer noch die zweitrangige Mannschaft der letzten Jahre? Oder wächst auf der Insel eine Goldene Generation, vielleicht sogar ein Geheimfavorit, heran?

Tor

Die Kandidaten: Joe Hart (Manchester City), Jack Butland (Stoke City), Fraser Forster (Southampton), Tom Heaton (Burnley)

Die Situation: Zugegeben: Der Blick auf die Torhüterauswahl von Coach Roy Hodgson wird keinem Gegner der Engländer den Angstschweiß auf die Stirn treiben.

Joe Hart, seines Zeichens Schlussmann bei Manchester City und trotz unbestreitbarer Klasse nach wie vor für diverse Aussetzer und Unsicherheiten gut, fehlt den Three Lions wegen einer Wadenverletzung in den kommenden Testspielen gegen Deutschland (Sa., 20.45 im LIVETICKER) und den Niederlanden. Wird es für England aber am 11. Juli in Marseille gegen Russland ernst, wird Hart das Tor hüten. Und damit als so ziemlich einziger Spieler im Aufgebot Hodgsons einen sicheren Startplatz haben.

Was danach kommt? Viel Mittelmaß, viel Einerlei. In Abwesenheit Harts wird Jack Butland in den kommenden Partien zwischen den Pfosten stehen. Der 23-Jährige spielt bei Stoke eine ordentliche Saison, an der Stellung Harts wird er aber ebenso wenig rütteln können wie Fraser Forster von Southampton, der nach einem Patellasehnenriss erst Mitte Januar sein Saisondebüt gab, oder der nachnominierte Tom Heaton.

"Tom war schon mehrfach mit uns dabei und ich heiße ihn herzlich willkommen", waren Hodgsons Worte über den 29-Jährigen Keeper des Zweitligaklubs FC Burnley, der in der Championship in 38 Einsätzen 15mal die Null hielt - die EM aber wohl vor dem eigenen Fernseher verfolgen wird.

Abwehr

Die Kandidaten: Ryan Bertrand (Southampton), Gary Cahill (Chelsea), Nathaniel Clyne (Liverpool), Kieran Gibbs (Arsenal) Phil Jagielka (Everton), Danny Rose (Tottenham Hotspur), Chris Smalling (Manchester United), John Stones (Everton), Kyle Walker (Tottenham Hotspur)

Die Situation: "Ich habe nie gesagt, dass irgendwer einen Startelfplatz hat", war die klare Ansage von Hodgson an seine Truppe im Vorfeld der letzten Tests. Und es scheint tatsächlich die große Chance des Coaches zu sein, eine junge Mannschaft zur Verfügung zu haben, ohne Altstars, ohne Celebrities. Eine Mannschaft, in der man rein nach Leistung und Form aufstellen und eine ruhige Vorbereitung absolvieren kann. Sprich: Eine Mannschaft, die es so auf der Insel lange nicht gegeben hat.

In der Defensive werden die Three Lions mit einer Viererkette agieren, Chris Smalling von Manchester United und Chelseas Gary Cahill dürften dabei das Innenverteidiger-Pärchen bilden. Einzig John Stones scheint Kandidat zu sein, diese Phalanx im Ernstfall zu durchbrechen. Der Defensivmann des FC Everton stand ob eines Formtiefs seit Januar lediglich einmal in der Starformation der Toffees, sei aber laut Coach Roberto Martinez wieder "frisch" genug, zu alter Form zurückzufinden. In der er eine ernsthafte Option für das Zentrum darstellt. Im Gegensatz zu Phil Jagielka, der die Reise nach Frankreich als Back-Up antreten wird.

Was die Viererkette angeht, drückt der Schuh bei England ohnehin eher auf den Außenverteidiger-Positionen. Linksverteidiger Luke Shaw wird die Europameisterschaft nach seinem Schienbeinbruch höchstwahrscheinlich verpassen. Ryan Bertrand und Danny Rose heißen die verbliebenen Optionen, auf rechts streiten sich Favorit Nathaniel Clyne und Kyle Walker um den Startplatz.

Es wird auch erst in Frankreich beantwortet werden können, wie viel Aussagekraft die zehn Siege in zehn Quali-Spielen tatsächlich hatten; oder vor allem das Torverhältnis von 31:3. Hält die No-Name-Abwehr auch gegen Gegner, die nicht Schweiz, Slowenien, Estland, Litauen und San Marino heißen? Gegen Spanien - nicht in Topbesetzung - setzte es im ersten Freundschaftsspiel nach abgeschlossener Qualifikation ein 0:2.

Mittelfeld

Die Kandidaten: Dele Alli (Tottenham Hotspur), Ross Barkley (Everton), Fabian Delph (Manchester City), Eric Dier (Tottenham Hotspur), Danny Drinkwater (Leicester City), Jordan Henderson (Liverpool), Adam Lallana (Liverpool), James Milner (Liverpool), Mark Noble (West Ham), Jonjo Shelvey (Newcastle), Jack Wilshere (Arsenal)

Die Situation: Wenn Hodgson über die "enorme Qualität" und "große Zukunft" seiner Truppe spricht, dürfte er vor allem die offensivere Abteilung ansprechen. Dort tummelt sich in der Tat fantastisches Potenzial. Der erfahrene Coach weiß: "Es sieht gut aus. Aber Dinge, die auf dem Papier gut aussehen und das, was passiert, wenn du über die weiße Linie auf das Stück Wiese gehst, um Fußball zu spielen, sind zwei sehr, sehr unterschiedliche Dinge."

Nimmt man das herausragende Angebot an schnellen Flügel- und zentralen Mittelfeldspielern, kommt man schnell zu dem Schluss, dass die von Hodgson selbst als Option ins Spiel gebrachte Raute die Three Lions fast aller Stärken berauben würde. Vielmehr deutet alles auf ein 4-3-3 mit Doppelacht hin, alternativ - wegen des Überangebots an Stürmern - ein 4-4-2.

Hodgson hofft nach wie vor inständig darauf, dass Jack Wilshere, in dieser Saison noch ohne Einsatz, seinen Haarriss im Wadenbein rechtzeitig auskuriert und in Frankreich auflaufen kann. Die fehlende Spielpraxis dabei für den Coach kein Problem. "Ich weiß nicht, warum wir so überfürsorglich sein sollten", sagte Hodgson. "Mir geht es um die Klasse eines Spielers. Form ist vergänglich, Klasse nicht." Wilshere würde den absichernden Sechser geben, Jonjo Shelvey vertrat den Gunner bereits auf dieser Position.

Wahrscheinlicheres Szenario: Hodgson bleibt bei seinem Dreieck im Mittelfeld - und beordert Eric Dier auf die defensivste Position. Der 22-Jährige in Diensten des Tabellenzweiten Tottenham gilt als eine der größten Überraschungen der Saison und wird sich gegen Deutschland aller Voraussicht nach genau in diesem System beweisen dürfen. Auch Danny Drinkwater von den Überfliegern aus Leicester, dank seiner "fantastischen Saison" (Hodgson) erstmals fürs Nationalteam nominiert, könnte als Absicherung vor der Viererkette ran.

Geht es um die Besetzung der Achterpositionen, kommt man an einem weiteren Spurs-Juwel nicht vorbei: Dele Alli, 19 Jahre jung, und auf der Insel gehyped wie kein Zweiter. Gegen Frankreich stand er im November nach drei Einwechslungen erstmals in der Startelf und steuerte direkt ein unfassbares Tor zum 2:0 bei. Sieben Tore und neun Assists steuerte der Youngster zum aktuellen Höhenflug der Spurs bislang bei. Behält der Engländer seine Form, gäbe es wenig, das gegen einen Platz im Mittelfeld spricht. Die Allzweckwaffen Ross Barkley und James Milner durften sich in Quali und Vorbereitung in mehreren Systemen auf unterschiedlichen Positionen austoben - und könnten Allis Nebenmann spielen.

Angriff

Die Kandidaten: Harry Kane (Tottenham Hotspur), Alex Oxlade-Chamberlain (Arsenal), Marcus Rashford (Manchester United), Wayne Rooney (Manchester United), Raheem Sterling (Manchester City), Daniel Sturridge (Liverpool), Jamie Vardy (Leicester City), Theo Walcott (Arsenal), Danny Welbeck (Arsenal)

Die Situation: Eine der größten Fragen bei den Three Lions im Hinblick auf die EM lautet: Was passiert mit Wayne Rooney? Englands Rekordtorschütze ist der Kapitän und war auch in der Qualifikation mit sieben Treffer der erfolgreichste Engländer. "Seine Qualitäten, seine Führungsqualitäten und der Fakt, dass er der Kapitän Englands ist", seien die Argumente, warum Rooney laut Hodgson auf jeden Fall zum Kader gehören wird. "Es gibt keinen Grund, warum ich einen fitten Wayne Rooney zuhause lassen sollte."

So weit, so gut. Doch dann? Rooney spielt eine durchwachsene Saison, wird nach einer zähen Knieverletzung erst Mitte April wieder angreifen können und wurde jüngst von United-Coach Louis van Gaal in den Zwangsurlaub geschickt. Dem sicheren Kaderplatz zum Trotz scheint ein Startelfplatz für Rooney aktuell - und so komisch sich das auch anhört - ausgeschlossen.

Zumal Hodgson sich tiefstehend auf Konterspiel und die Schnelligkeit seiner Angreifer fokussieren dürfte, sprich zwei Flügelspieler, die einen Mittelstürmer bedienen. Das wird dann aller Voraussicht nach Harry Kane sein, der sich mit 21 Treffern gerade anschickt, Torschützenkönig der Premier League zu werden. Ebenso in der Verlosung: Jamie Vardy oder Uniteds 18-jähriges Wunderkind Marcus Rashford, über den Hodgson sagt: "Ich würde eine Nominierung nicht ausschließen. Ich hoffe einfach, dass es sich in Ruhe entwickeln kann."

Auf außen hofft Hodgson derweil immer noch auf die rechtzeitige Genesung von Alex Oxlade-Chamerlain, doch auch ohne den Gunner hat der 68-Jährige mehrere hochkarätige Optionen. Raheem Sterling, wegen Leistenproblemen gegen Deutschland und Holland nicht dabei, Danny Welbeck, Daniel Sturridge oder Vardy auf ungewohnter Position - die Auswahl liest sich so gut, dass Spieler wie dem jetzt überraschend nominierten Theo Walcott das Verpassen der EM droht.

"Die Zukunft sieht gut für sie aus", sagt Hodgson über eine Mannschaft, die in der Wahrnehmung vieler keine ernsthafte Rolle spielt, die sich aber anschicken könnte, den ersten Schritt in für den englischen Fußball lange nicht mehr dagewesene Goldene Zeiten machen könnte. Noch hat die Three Lions keiner auf dem Radar. Doch sollte man das? "Es wäre wundervoll, wenn sie uns zeigen könnten, wie gut die Zukunft aussieht, indem sie im Sommer ein gutes Turnier spielen."