El Apache im argentinischen Wahnsinn

Von Benno Seelhöfer
Carlos Tevez spielt wieder für seinen Heimatverein, die Boca Juniors
© getty

Am Sonntag steigt der Superclasico zwischen den Boca Juniors und River Plate (21 Uhr live auf DAZN). Der sicherlich bekannteste Akteur auf dem Platz: Carlos Tevez. Der Stürmer ist wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Doch er ist gleichzeitig in eine Liga zurückgekehrt, in der extremer Fanatismus, Gewalt und Mord beinahe an der Tagesordnung sind.

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"Wenn wir uns als Team verbessern wollen, kann er nicht mehr spielen. Wir sind fertig. Tevez wird unter mir nie wieder für City spielen." Roberto Mancini ist sichtlich frustriert. Er schüttelt den Kopf immer wieder, spricht in ruhiger Tonlage, aber sehr bestimmt. Es ist vielleicht eine Stunde her, dass Carlos Tevez seine Einwechslung im Champions-League-Gruppenspiel gegen die Bayern verweigert hat. Die genauen Gründe? Hat er nicht genannt. Er habe sich nicht gut gefühlt, erzählte der Stürmer hinterher.

Carlos Tevez. Ein Stürmer, der aneckt. Ein Stürmer, der alles andere als aalglatt daherkommt. Aber auch ein Stürmer, der wie so viele vor und nach ihm als verheißungsvolles Talent von Südamerika nach Europa kam und im Gegensatz zur großen Masse den Durchbruch als Top-Spieler schaffte. Aber vielleicht gelang ihm das, gerade weil ihn die Meinungen der Anderen nicht interessieren.

Als wirklichen Helden feiern die Fans Tevez daher in Europa nicht. In Manchester traute er sich, den waghalsigen Wechsel von United zu City durchzuziehen und bei den Citizens bleibt immer seine Arbeitsverweigerung im Champions-League-Match gegen die Bayern im Hinterkopf.

Zwar wusste sich der Argentinier immer wieder aus den Situationen herauszuwinden, doch wirklich verehrt haben ihn die Anhänger nur in Südamerika - vor allem in Buenos Aires. Und er weiß ganz genau, wo er hingehört.

Nach der Begnadigung durch Mancini spielte Tevez wieder stark auf. Noch eine letzte Saison in Manchester und anschließend deren zwei in Turin. Mit 31 zog es ihn wieder in seine Heimat zurück. Klar, ein abgehalfterter Altstar, der seine Karriere ausklingen lässt? Nein, auf keinen Fall. In seiner zweiten Saison für Juve war Tevez auf dem Zenit seines Könnens: 60 Pflichtspiele, 34 Tore, zwölf Vorlangen. Das spricht für sich.

Wegen des Geldes nach Europa

Carlos Tevez wollte wieder nach Hause. Seine Haltestellen in Europa waren nur ein Mittel zum Zweck: Geld verdienen. Er hatte nie vor, sich zu verstellen, er hatte nie vor, sich in Europa eine Heimat aufzubauen und er hatte nie vor, eine Legende zu werden - die ist er bereits bei den Boca Juniors.

Tevez stammt aus einem der härtesten Viertel in Buenos Aires, Fuerte Apache, wie es die Einheimischen nennen. "El Apache" rufen die Boca-Fans ihren Super-Star deswegen, der auch im schillernden europäischen Fußball-Business, von dem er sich nie ganz vereinnahmen lassen wollte, seine Heimat nie vergessen hat.

"El Apache" kommt von der Straße, über die er einst philosophierte: "Sie lehrte mich mehr, als es die Schule je hätte tun können." Auch sagte er: "Ohne den Fußball wäre ich tot oder im Gefängnis." Er weiß, wie es ist, sich durchbeißen zu müssen. Genau das hat er in Europa getan, ohne gefallen zu wollen.

Seine Entscheidung, Geld für seine alte Liebe eingetauscht zu haben, wird Tevez angesichts seiner frenetischen Boca-Juniors-Fans wahrscheinlich nie bereuen. Falls er es je getan haben sollte, wird er es nur bis zu diesem einen Moment getan haben. Dieser Moment als das Bombonera kochte. Als 49.000 Fans lautstark feierten und ein Meer an Konfetti und Plakaten den maroden Beton unter sich nur noch erahnen ließen. Es war seine Begrüßung.

Wieder zu Hause

Carlos Tevez ist wieder zu Hause. Ein legendärer Spieler bei einem legendären Verein mit einem legendären Stadion. Die Liebesgeschichte scheint perfekt. Die Zutaten: Sehnsucht, Wiederkehr und Happy End. Doch ganz so perfekt ist die ganze Geschichte dann doch nicht. Das lässt das Setting nicht zu, das lassen die Probleme der argentinischen Liga und die der Boca Juniors nicht zu.

Zum einen wären da die Baustellen des Vereins. Das heiß geliebte Bombonera bröckelt. Es ist ein Relikt vergangener Tage, was angesichts des Eröffnungsjahres von 1940 nicht weiter verwundert. Außerdem wirft das liebe Geld Fragen auf, obwohl der Klub seit Langem endlich wieder ohne Schulden dasteht. Bei der Finanzierung helfen fast ausschließlich Sponsoren und der Verkauf von jungen Talenten.

Gewalt ist allgegenwärtig

Das größere Problem ist die Gewalt. Leidenschaftliche Fans stellen für einen Fußball-Klub eigentlich einen Mehrwert dar. In Deutschland beweisen das vor allem die großen Vereine im Ruhrgebiet. Auf Schalke und in Dortmund ist Fußball mehr als nur ein Sport. Es ist ein Lebensinhalt. Doch bei allem Fanatismus bewegt sich diese Leidenschaft grundsätzlich noch in Grenzen. In Argentinien ist das anders.

Die Obsession, der die Ultras der Juniors, die Barra Brava - der wilde Haufen -, ihrem Sport und vor allem ihrem Verein frönen, hat kriminelle Züge. Boca-Präsident Daniel Angelici offenbarte gegenüber 11Freunde: "Wir wollen sie loswerden, schaffen es aber nicht. Die Gewalt ist ein Spiegel der argentinischen Gesellschaft." Auch Klub-Legende Antonio Rattin bestätigte: "Wir haben eine andere Kultur. Viel fanatischer. In unserem Fußball gibt es Verletzte und Tote."

Die Gefahren, die vom Fußball ausgehen, sind ein weitreichendes Problem in Argentinien. Seit 1922 verloren insgesamt 312 Menschen im Zusammenhang mit Fußball ihr Leben. Gewalt und Unfälle sind allgegenwärtig. Um den Ausschreitungen entgegenzuwirken, beschloss die Liga vor vier Jahren, keine Auswärtsfans mehr in die Stadien zu lassen. Tote gab es seitdem trotzdem.

Das ganze Land fiebert mit

Das gilt natürlich auch für den Superclasico, der eine ganze Nation in den Bann zieht. Circa 70 Prozent des gesamten Landes halten es mit einem der beiden gegensätzlichen Hauptstadtklubs. Gewalt ist auch hier Alltag: Im Mai 2015 musste das Match zwischen den Boca Juniors und River Plate sogar zur Halbzeit abgebrochen werden, weil Boca-Fans gegnerische Spieler mit Pfefferspray attackierten.

Als Konsequenz all dieser Probleme drohten die Schiedsrichter der argentinischen Liga sogar in den vergangenen Tagen an, den kommenden Spieltag zu bestreiken, solange keine Besserungen in Sachen Sicherheit für die Offiziellen beschlossen werden sollten. Der Streik konnte aber zum Glück abgewendet werden.

Einen Superclasico nächstes Wochenende wünschen sich alle Fußball-Fans auf der ganzen Welt, aber einen sicheren. Kämpfen sollen da nicht die Fans im Stadion, sondern die Spieler auf dem Platz. Und vor allem "El Apache".

Wie lange der 32-Jährige noch bei Boca bleibt? Er weiß es nicht. "Ich werde es in der Sommerpause bedenken. Ich werde den Klub vielleicht nicht nur verlassen, sondern ganz aufhören mit Fußball", erklärte Tevez. Vielleicht geht er aber auch nach China, zu Shanghai Shenhua - zum Geldverdienen natürlich.

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