EM

Doktor Drecksarbeiter: Giorgio Chiellini als Stütze des "neuen Italien"

Von Stanislav Schupp
giorgio-chiellini-1200
© getty

Trotz seiner 36 Jahre ist Giorgio Chiellini aus der italienischen Elf nicht wegzudenken und soll die Azzurri nun zum EM-Titel führen. Der Routinier tanzt aus der Reihe und erinnert an die grundlegenden Dinge des Fußballs - dabei hat er noch nicht mal einen neuen Vertrag.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Roberto Mancini formte Italien zu einem beeindruckenden Kollektiv, bot Akteuren wie Nicolo Barella oder Leonardo Spinazzola eine neue Bühne. Der 56-Jährige verpasste der Auswahl mit Spielern wie Federico Chiesa oder Manuel Locatelli einen jüngeren und technisch versierteren Anstrich und setzt auf vertikalen Offensivfußball statt destruktiver Herangehensweise.

Die Stütze der Mannschaft bildet jedoch ein altbekannter Routinier. Einer, der irgendwie so gar nicht zum "neuen Italien" von Mancini zu passen scheint. Einer, der (nicht nur für die italienischen) Grundtugenden des Fußballs steht: Giorgio Chiellini.

Der 36-jährige Mannschaftskapitän hat schon ziemlich alles erlebt und soll seine Nation zum ersten EM-Titel seit 1968 führen. Er ist nahezu unverzichtbar.

Technisch ist Chiellini im Vergleich zu seinen Teamkollegen weniger begabt. Der älteste Feldspieler, der jemals für Italien bei einem Großturnier zum Einsatz kam, steht vielmehr für "Drecksarbeit", harten und bedingungslosen Einsatz, die Verhinderung einer Torchance feiert er wie einen eigenen Torerfolg.

Giorgio Chiellini als Ausnahme in Mancinis Stil

Doch es sind genau diese Eigenschaften, die Mancini dazu bewegen, in der Defensive auf Bewährtes zu setzen. Gemeinsam mit Nebenmann Leonardo Bonucci (34), den Chiellini laut eigener Aussage besser kennt als seine eigene Ehefrau, zählt Chiellini zu den Senatoren in einer weitestgehend unerfahrenen Truppe. Als die "aktuell besten Innenverteidiger weltweit" bezeichnete beispielsweise Bastian Schweinsteiger das italienische Abwehr-Duo jüngst. Keine sehr steile These.

Wie wichtig Chiellini ist, zeigte sich im letzten Gruppenspiel gegen Wales und im Achtelfinale gegen Österreich, in denen der Kapitän verletzt fehlte. Vor allem gegen Österreich präsentieren sich die Italiener defensiv wackelig.

Im Viertelfinale gegen Belgien nahm "Gigant Chiellini" (italienische Zeitung Libero) Sturmtank Romelu Lukaku aus dem Spiel, gegen Spanien gewann er alle seine Zweikämpfe und überzeugte mit einer starken Passquote (83,6 Prozent).

Chiellini: "... dann hört der Fußballer auf"

Neben seiner sportlichen Bedeutung agiert Chiellini, der 2017 an der Turiner Universität mit seiner Arbeit "Das Businessmodell von Juventus Turin im internationalen Leistungsvergleich" seinen Doktortitel mit Auszeichnung erwarb, stets als Motivator, Antreiber, Stehaufmännchen und fairer Sportsmann, der nie den Sinn für das Spiel und den Respekt verliert. Auch in seriösesten Augenblicken trägt er stets ein Lächeln auf den Lippen.

Beim Münzwurf vor dem Elfmeterschießen gegen Spanien sprühte Chiellini nur so vor Lockerheit, war wenige Augenblicke vor den entscheidenden Zügen der Partie sogar zu Scherzen aufgelegt und liebkoste nach der gewonnenen Platz- und Startwahl noch seinen Gegenüber Jordi Alba.

Auch im größten Moment des Triumphes vergisst Chiellini die Grundtugenden nicht. Während sich nach dem entscheidenden Elfmeter von Jorginho seine Teamkollegen auf den Weg zum Matchwinner machten, nahm er zunächst Manuel Locatelli, der den ersten Versuch vom Punkt vergab, lange und fest in den Arm.

So leidenschaftlich und eisenhart Chiellini auf dem Platz ist, so bescheiden ist er im Privatleben. An erster Stelle steht für Chiellini die Familie. "Dort, wo meine Frau und meine Tochter sind, hört der Fußballer auf und Giorgio kann sich an den schönen und realen Dingen des Lebens erfreuen", sagte er einst dem Schweizer Blick.

Stütze trotz Umbruch: Chiellinis Signal an Juventus

Bevor sich Chiellini besagten Dingen widmet, soll er die Azzurri am kommenden Sonntag im EM-Endspiel zum nächsten und größten Triumph führen. Wie es sportlich anschließend für ihn weitergeht, ist derzeit noch unklar.

Chiellinis Vertrag bei Juventus Turin lief zum 30. Juni aus, folglich ist der Linksfuß aktuell vereins- und vertragslos. Chiellinis Leistungen dürften allerdings auch den Verantwortlichen der Alten Dame nicht verborgen geblieben sein.

In der vergangenen Spielzeit hatte die Vereinsikone (seit 2005 bei Juve) mit zahlreichen Verletzungen zu kämpfen und galt aufgrund seines Alters nicht mehr als unumstritten. Ex-Coach Andrea Pirlo sollte einen Umbruch einleiten, setzte im Zentrum auf den 21-jährigen Matthijs de Ligt als Nebenmann für Bonucci. Pirlos Mission scheiterte bekanntlich.

Italienischen Medienberichten zufolge liebäugelte Chiellini bereits mit einem Wechsel in die MLS. Mit der Rückkehr von Massimiliano Allegri, mit dem Chiellini zwischen 2014 und 2019 fünf Ligatitel in Serie feierte, könnte sich das Blatt nun wenden. Der 53-Jährige soll sich für eine Vertragsverlängerung um ein weiteres Jahr eingesetzt haben und in Zukunft wieder auf das erfahrene Duo Chiellini-Bonucci (325 gemeinsame Pflichtspiele) setzen wollen.

Dass Chiellini trotz angestrebtem Umbruch eine wichtige Rolle spielen kann, hat er bereits eindrucksvoll bewiesen.