EM

Adieu, ihr bösen Geister!

Didier Deschamps und Frankreich eröffnen die EM 2016 gegen Rumänien
© getty

Sechs Jahre nach dem Fiasko von Knysna darf sich Frankreich bei der EM im eigenen Land Titelanwärter nennen. Die Renaissance des in Südafrika gefallenen Fußballriesen bringt höchste Ansprüche mit sich. Doch lassen sich diese erfüllen?

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Es war groß, was passiert war. Sehr groß. Für viele war es größer als die heftig kritisierten Ausweisungen tausender Roma aus Frankreich. Wichtiger als die Affäre um illegale Parteispenden an die Regierungspartei UMP. Und während sie in Paris wegen der Anhebung des Rentenalters auf die Straßen gingen, schauten mindestens so viele gen Elysee-Palast, wo Staatspräsident Nicolas Sarkozy einen Gast empfing: Frankreichs Kapitän Thierry Henry.

Es ging bei diesem Vier-Augen-Gespräch um das, was in den vergangenen Wochen passiert war, was als "Fiasko von Knysna" als dunkelstes Kapitel des französischen Fußballverbands FFF in dessen Geschichte eingehen sollte.

Um die Jahrtausendwende herum, da hatten sie die beste equipe aller Zeiten. Hatten einen Zidane, einen Barthez, und eben Henry. Weltmeister 1998 und Europameister zwei Jahre später, dazu eine Mannschaft, die eine beispielhafte multikulturelle Gesellschaft spiegelte. Kurzum: Eine grande nation, auch auf dem Platz.

Zehn Jahre danach lag der französische Fußball in Scherben. Der totale Kollaps bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika.

Und dann kam Südafrika

France Football sprach in der Retrospektive von einer "chronischen Instabilität", in der sich Les Bleus nach dem Besteigen des Fußballthrons befanden. Nach und nach gingen sie, die großen Namen, die Weltmeister, die Charaktere. Die Finalteilnahme der WM 2006 bildet seither den einzigen Ausrutscher nach oben, vier Jahre zuvor war in Japan und Südkorea in der Vorrunde Schluss, wie auch bei der EM 2008.

Und dann kam Südafrika. Ein Turnier, dass sich die Equipe tricolore mit einem Handtor in den Quali-Playoffs gegen tobende Iren ergaunert hatte. Und es kam jenes zweite Gruppenspiel, in dessen Halbzeitpause Raymond Domenech von Stürmer Nicolas Anelka nach taktischen Anweisungen aufs Übelste beschimpft wurde. Die Folge war die Suspendierung des Stürmerstars. Und: die Solidarisierung der Mannschaft mit dem Rausgeworfenen.

Der Startschuss für einen unwürdigen Skandal nach dem nächsten. Spieler und Trainerteam gingen im Teamlager in Knysna aufeinander los, die Mannschaft verweigerte das Training und ließ daraufhin ausgerechnet Coach Domenech eine offizielle Erklärung, die gegen ihn selbst gerichtet war, verlesen. "Frankreich: Tot auf dem Feld der Ehrlosigkeit", titelten die Zeitung zuhause. Mit einem Tor und einem Punkt schieden Les Bleus als Gruppenletzter aus.

Blanc, Deschamps und der Scherbenhaufen

In der Heimat mischte schon längst die Politik mit, Staatschef Sarkozy an vorderster Front. Auch verbandsintern krachte es an alle Ecken und Enden. FFF-Präsident Jean-Pierre trat zurück, sein Generaldirektor Jean-Louis Valentin folgte ihm. Der erniedrigte Domenech musste seinen Hut nehmen, mit Nicolas Anelka, Franck Ribery, Patrick Evra und Jeremy Toulalan wurde die vermeintlichen Rädelsführer unter den Spielern vorläufig suspendiert.

Ein konsequentes und reinigendes Gewitter, das Laurent Blanc im Sommer 2010 als Coach an die Spitzer der Mannschaft spülte. Der Weltmeister von 1998 begann seine Aufgabe mit viel Kredit, selbst heftigsten Gegenwind bei der Wiedereingliederung der Querulanten von Südafrika überstand er.

Als die Equipe 2012 bei der WM im Viertelfinale an Spanien scheiterte, hatte Blanc Frankreich in erstaunlicher kurzer Zeit in ruhiges Fahrwasser manövriert. Dennoch nahm er nach dem Turnier seinen Hut. Es übernahm Didier Deschamps. Er wird es auch sein, der am Freitag an der Seitenlinie stehen wird, wenn Frankreich die Heim-EM gegen Rumänien eröffnet (21 Uhr im LIVETICKER).

"Ein gelungenes Turnier, wenn wir gewinnen"

Und dabei wird es nicht um Machtspielchen gehen oder darum, eine kaputte Mannschaft wieder aus dem Sumpf zu führen. Nein, Deschamps hat es dank einer Generation von Spielern, die Ikone Marcel Desailly schon mit Deutschland vor der WM 2010 verglichen hat, geschafft, aus der equipe wieder eine equipe zu machen. Und dazu einen handfesten Titelanwärter.

"Es wird ein gelungenes Turnier sein", fand der 47-Jährige kürzlich deutlich Worte, "wenn wir es gewinnen. Sollten wir vorher ausscheiden, sind wir gescheitert."

Das mag eine mutige Ansage sein, angesichts des französischen Kaders aber keine weltfremde. Schwächen mag man nach den Ausfällen und Nichtnominierungen von Kurt Zouma, Mamadou Sakho, Raphael Varane und Jeremy Mathieu lediglich in der Innenverteidigung ausmachen. Die wird aus Arsenals Laurent Koscielny und dem nachnominierten Adil Rami bestehen.

Mehr Augenmerk genießt in der Defensive aber ohnehin N'golo Kante, der in der vergangenen Saison als no-name einer der wichtigsten Spieler beim englischen Sensationsmeister aus Leicester war und als absichernder Sechser auch bei der EM zum essentiellen Ausputzer werden könnten.

Zumindest scheinen die Mechanismen immer besser zu greifen, nach zuletzt vier Spielen mit mindestens zwei Gegentreffern wurden Deschamps Sorgenfalten nach einem souveränen 3:0 in der Generalprobe gegen Schottland etwas weniger.

Der letzte Störenfried muss gehen

Bei Frankreich steht also wieder das große Ganze als Mannschaft im Vordergrund, auch wenn es im Nachbarland an Einzelkönnern nicht mangelt. Der Angriff ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben, mit Kingsley Coman, Dimitri Payet, Anthony Martial und dem bei Les Bleus oft auf den Seiten eingesetzten Antoine Griezmann hat der Coach Flügelspieler, um die ihn wohl jeder Coach beneidet.

Ganz vorne soll der Londoner Olivier Giroud für die Tore sorgen, Andre-Pierre Gignac - der in seinem ersten Jahr in Mexiko für die Tigres in 46 Pflichtspielen 32-mal traf - lauert ebenfalls auf Einsätze.

Nicht dabei sein wird allerdings Karim Benzema. Nachdem die unappetitliche Erpressungsaffäre um den Franzosen mit algerischen Wurzeln und Teamkamerad Mathieu Valbuena publik wurde, verbannte Deschamps den Real Star, dem bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen, aus dem Kader.

Ein sportlicher Verlust, klar. Doch machte schon die symbolische Verschrottung des französischen WM-Busses von 2010 vor der WM in Brasilien klar, dass man mit außersportlichen Kriegsplätzen und Machenschaften nichts mehr am Hut haben möchte. Die bösen Geister sollen vertrieben werden auf dem Lager der L'Equipe tricolore. Und auch wenn Chaoten Deschamps Hauswand - wohl in Anspielung auf Benzema - mit dem Wort "Rassist" beschmierten, kann man in Frankreich darauf hoffen, dass mit Benzemas Ausbootung zumindest aktuell keine bösen Geister mehr durch die Mannschaft spuken.

EM 2016: Daten und Ergebnisse