DFB-Team - Warum mehr Einfachheit dem deutschen Nachwuchsfußball guttun würde: Das Geniale liegt im Simplen

Von Oliver Maywurm
u21-aus-1200
© imago images

Straße und Intuition statt häufig viel zu kompliziertes Denken: Was im deutschen Nachwuchsfußball anders gemacht werden könnte.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

"Ich glaube, uns fehlt so ein bisschen die Straßenkicker-Mentalität", sagte Kai Havertz, Champions-League-Sieger und einer der technisch feinsten deutschen Spieler, hinsichtlich des Nachwuchsfußballs in Deutschland kürzlich bei DAZN. "Lasst die Jungs ihr Ding machen, lasst sie am Ball Spaß haben und ihre Ideen ausprobieren. Lasst sie auch mal auf die Schnauze fallen mit den Sachen, die sie falsch machen. Gebt den Jungs Freiheiten. [...] Es ist extrem wichtig, wieder mehr dorthin zu kommen."

Freiburgs Vincenzo Grifo, der erst im zweiten A-Jugendjahr in ein Nachwuchsleistungszentrum kam, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Im Podcast kicker meets DAZN betonte er, dass er definitiv ein anderer Spieler geworden wäre, wäre er den Schritt in den Profinachwuchs schon früher gegangen. "Dann wäre mir vielleicht gesagt worden, wie ich den Ball in einer bestimmten Situation annehmen soll, dass es falsch sei, wie ich es mache oder dass ich nicht mit der Sohle spielen soll."

Auf seinem Weg habe ihm derlei Dinge bis zur U19 eben niemand gesagt - und deshalb konnte er der spektakuläre Spieler werden, der er heute ist. "Ich bin gottfroh, dass ich den Weg eingeschlagen habe. Meinen Spielstil konnte man mir mit 19 dann nicht mehr nehmen."

In den letzten zehn bis 15 Jahren hat die Entwicklung des Jugendfußballs im Spitzenbereich und damit eben allen voran in den Nachwuchsleistungszentren in vielen Aspekten eine fragwürdige Richtung eingeschlagen. Nicht nur, was das rein inhaltliche Arbeiten angeht, sondern auch im Hinblick darauf, wie gut man sich mit dem Fußball als Spiel identifizieren kann. Aussagen wie jene von Havertz und Grifo stützen diese Beobachtung.

Klar ist: Es muss sich etwas ändern. Und es ändert sich auch etwas. Die Trainer-Ausbildung wurde reformiert und ist nun deutlich praktischer ausgelegt, individuelles Training wird immer mehr forciert. Der lange Zeit viel zu hohe Stellenwert von mannschaftstaktischen Elementen im Nachwuchs soll deutlich reduziert werden. Das Eins-gegen-Eins wird wieder aktiver eingefordert und gefördert, der Mehrwert von Straßenfußball hervorgehoben.

Und dennoch bleibt der Eindruck, dass man diese Richtung noch viel stärker verfolgen könnte, dass man den Mut zu noch viel deutlicheren Veränderungen haben sollte - in mehreren unterschiedlichen Bereichen.

Kai Havertz monierte die Straßenfußballer-Mentalität.
© getty

DFB braucht mehr Straßenfußball

Das Fehlen von Straßenzockern ist eines der großen öffentlichen Themen, wenn es um Nachwuchsfußball in Deutschland geht. "Wir brauchen mehr Straßenfußball und weniger Fifa-Playstation", sagte Bayerns Ex-Sportvorstand Hasan Salihamidzic mal der Frankfurter Rundschau. Und der ehemalige DFB-Direktor Oliver Bierhoff forderte in einem Beitrag für die Welt am Sonntag das Fördern einer Mentalität "wie wir sie von früher auf dem Bolzplatz kannten: schnell, direkt, Individualität zulassend und Kreativität fördernd."

Den Typ Straßenfußballer gibt es grundsätzlich ganz sicher noch, den wird es immer geben. Das sieht man schnell, wenn man sich Spiele oder Turniere von Jugendmannschaften anschaut. Natürlich fallen dort auch heute noch Jungs auf, die besondere Dinge mit dem Ball anstellen, die mit Inspiration und Kreativität spielen, die vor Liebe am Zocken sprühen. Dass sie mittlerweile wohl seltener oben ankommen, liegt möglicherweise auch daran, dass sie in den großen Vereinen zuletzt mitunter nicht mehr so gelassen wurden, wie sie sind.

Hinzu kommen unterschiedliche erschwerende Umstände, die das freie Zocken vermutlich seltener gemacht haben: Die vielfältigen Ablenkungen des digitalen Zeitalters mit Social Media und Co. Ein wachsender Umfang schulischer Verpflichtungen. Oder abgesperrte Fußballplätze, die früher noch stets offen waren.

Der Trend geht daher dorthin, Elemente aus dem Straßenfußball im organisierten Fußball, also den Vereinen zu integrieren. "Im früheren Straßenfußball spielten Kinder selbstorganisiert so, wie sie es wollten. Dieses freie Fußballspielen müssen wir den Jungen und Mädchen im Vereinsfußball wieder ermöglichen", heißt es in einem Beitrag auf der offiziellen Webseite der DFB-Akademie, der eine sicherlich viel zu drastische und irgendwie befremdliche Formulierung wählt. Denn man sollte auch nicht so tun, als sei Straßenfußball ein Relikt längst vergangener Tage und heute gar nicht mehr möglich.

Der Ansatz, Elemente vom Bolzplatz ins Vereinstraining herüberzuholen, wird jedenfalls auch in den Nachwuchsleistungszentren der größten Klubs des Landes verfolgt. Wie genau das aussehen kann und ob es überhaupt möglich ist, das authentisch zu machen, dazu später mehr. Grundsätzlich ist es sicherlich positiv, diese Richtung einzuschlagen und damit umzudenken.

jugendfussball-1200
© getty

DFB-Nachwuchs: "Dreimal die Woche in den Käfig"

Ein weiterer entscheidender Grund dafür, dass es weniger Straßenfußballer gibt, ist nämlich die Nachwuchsarbeit selbst. Die viel zu durchstrukturierten, viel zu früh professionalisierten Ausmaße des heutigen organisierten Jugendfußballs schränken die Möglichkeiten des freien Spielens ja selbst ein. Und inhaltlich wurde in der jüngeren Vergangenheit traurigerweise mehr Wert auf Strategie als auf die Liebe zum Ball gelegt. Dass sich dabei Straßenfußballer-Typen auch entfalten können, ist nur schwer möglich. "Den Jungs wird heutzutage der Spielwitz genommen, das sehe ich auch jetzt gerade in der Hertha-Akademie", sagte Kevin-Prince Boateng vor einigen Monaten im Sport1-Doppelpass. Niko Kovac schrieb 2018 in einer FAZ-Kolumne, dass typische Straßenkicker-Qualitäten im deutschen Jugendfußball "zu oft aberzogen" werden.

Derlei Entwicklungen entgegenzuwirken hat sich Keld Bordinggaard als eines seiner Hauptziele auf die Fahne geschrieben, als er im Frühjahr 2021 seinen Job als Nachwuchs-Cheftrainer bei Bayer Leverkusen antrat. Der 60-jährige Däne, früher selbst Profi und Nationalspieler, hatte erst mit 16 im Verein angefangen und zuvor einfach jeden Tag stundenlang auf der Straße gespielt. "Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir heutzutage den Straßenfußball wieder in die Klubs bringen können. Denn leider spielt die Jugend von heute nicht mehr viel auf der Straße oder auf dem Bolzplatz", sagte er im Interview mit bayer04.de. "Stattdessen wird der Sport auf dem Computer simuliert, damit können wir nur schwer konkurrieren. Deshalb müssen wir uns die Mühe machen, die Qualität des Straßenfußballs in unser strukturiertes Training einzubauen."

Eine solche Qualität ist zum Beispiel der Einbau von Mini-Bällen oder Tennisbällen in Übungen und Spiele, was in Nachwuchsleistungszentren gerade in jüngeren Jahrgängen ohnehin schon gängig ist. Zudem könnte man hin und wieder mal barfuß spielen und trainieren lassen. Und - auch wenn es zunächst vielleicht seltsam klingt - möglicherweise lohnt es, sich zu bemühen, dass nicht nur auf perfekt gemähtem Rasen oder hochmodernem Kunstrasen trainiert wird, sondern auch mal auf kleinen Plätzen mit unebenem, holprigem oder schlichtweg anderem Untergrund als dem gewöhnlichen. Im Nachwuchsbereich von AZ Alkmaar zum Beispiel, Heimat einer der erfolgreichsten Akademien Europas und des aktuellen Youth-League-Siegers, nutzt man diesen Gedanken: Auf dem Trainingsgelände des Klubs gibt es einen Bereich mit einem Beton- und einem Sandplatz. "Jede Trainingseinheit sollte etwas Überraschendes haben. Daher probieren wir, die Bedingungen zu verändern, um unsere Spieler herauszufordern", erklärte Paul Brandenburg, Leiter von Alkmaars Nachwuchsabteilung, im Interview mit Sky Sports. "Ein veränderter Untergrund ist eine Möglichkeit, das zu tun. Denn jeder Untergrund verlangt eine andere Technik."

Ein Ansatz, dessen Grundgedanken man auch auf andere Bereiche im Nachwuchsfußball ausweiten kann: Warum strebt man so sehr danach, immer die optimalen Bedingungen präsentieren zu können oder stets die neuesten Analyse-Möglichkeiten zur Verfügung zu haben? Thomas Tuchel hat dazu schon vor einigen Jahren im Rückblick auf seine Tätigkeit als Jugendtrainer etwas sehr Gutes gesagt: "Wenn ich jetzt noch einmal eine A-Jugend trainieren würde, würde ich sagen: Ein halber Platz, ein Fernseher, ein Video-Recorder - das ist genug. Und der Platz muss nicht immer gemäht sein, muss nicht immer in einem Top-Zustand sein." So zu lernen, mit Schwierigkeiten umzugehen, sei eines der wichtigsten Dinge überhaupt. "Diese ganze Ausstattung, die wir den Spielern zur Verfügung stellen, kann am Ende dazu führen, dass ihnen diese Qualität, Widerstände zu überwinden, fehlt", führte Tuchel aus.

Derweil verfolgt man wie in Leverkusen auch bei Hertha BSC die Idee, den Mehrwert von Straßenfußball wieder mehr für sich zu nutzen. Auch dort ist der Antrieb dahinter vor allem die Entwicklung, dass Fußball heutzutage weniger in der Freizeit stattfindet. Berlins U19-Trainer Oliver Reiß erinnerte sich im Interview mit Herthas Vereinswebseite in diesem Zusammenhang an den 1995er Jahrgang um Hany Mukhtar, den er in seiner Anfangszeit in der Akademie trainierte: "Die sind neben dem Training dreimal die Woche auf dem Savignyplatz in den Käfig gegangen, haben da ihre Skills ausprobiert und ihre Art Fußball gelernt. Ich wüsste nicht, wer von meinen Jungs das parallel noch so macht."

Mitverantwortlich für Alkmaars Erfolg im Jugendbereich: Paul Brandenburg.
© imago images

DFB: Zu viel Belastungssteuerung?

Eine Entwicklung, die extrem schade ist. Von SPOX und GOAL auf die Unterschiede von früher zu heute angesprochen, führt Reiß aus: "Ich habe mir vorgenommen, Hany mal zu fragen, wie er das eigentlich gemacht hat. Denn wirklich viel mehr Zeit hatten die früher nicht. Sie hatten auch ihre Schule, haben auch siebenmal die Woche trainiert. Heute sind Wissenschaft und Belastungssteuerung natürlich wichtige Themen. Die Jungs werden mehr darauf aufmerksam gemacht, dass sie genügend Regenerationszeit benötigen. Darauf wurde früher noch nicht so sehr eingegangen, sondern man hat sich eher gefreut, dass die Jungs zusätzlich noch zum Zocken in die Käfige gehen."

Zumindest auf NLZ-Spieler gemünzt stellt sich also durchaus die Frage: Warum muss so viel Wert auf die Belastungssteuerung gelegt werden? Wieso gewichtet man sie nicht einfach weniger stark und gibt den Jungs explizit mehr Freiraum, auch mal in den Käfigen und auf den Bolzplätzen zu zocken? Denn indem man stattdessen pedantisch darauf achtet, dass sie ja nicht zu viel machen, verhindert und limitiert man, anstatt zu verbessern.

Ein Zitat von Ex-Bundesligaprofi Hanno Balitsch (zuletzt Co-Trainer der deutschen U20-Nationalmannschaft und ab September Chefcoach der U18 des DFB) stützt diese These: "Genau dieses freie Kicken hat uns damals gut gemacht", sagte er im kicker über seine fußballerischen Anfänge auf dem Bolzplatz. Und eigentlich erkennt man dieses enorme Potenzial des freien Spielens ja wie gesagt auch in den Nachwuchsleistungszentren.

Hany Mukhtar in der deutschen U19.
© getty

DFB: Rückkehr des Straßenfußballs überhaupt möglich?

"Wir müssen Wege finden, Elemente von der Straße auf unser Training zu übertragen und versuchen, sie so gut es geht zu simulieren", erklärt Reiß bei SPOX und GOAL. "Dabei spielen viele Komponenten eine Rolle: Es geht nicht nur um freies Spiel, Skills oder Tricks. Sondern auch darum, ob ein Spieler widerstandsfähig ist, seine Ellbogen auch mal ausfahren und mit Konflikten umgehen kann."

Aber ist es überhaupt authentisch möglich, den Freigeist des Straßenfußballs auf ein Vereinstrainingskonstrukt zu übertragen? Wahrscheinlich vor allem dann, wenn man maximal loslässt, wenn man alles Organisierte auch mal vergisst. Reiß findet, man könne Straßenfußball-Elemente im Vereinstraining "schon provozieren - vorausgesetzt, der Trainer kann es authentisch vorleben." Auch hierfür ist Freiraum eines der Zauberwörter, wie Reiß betont: "Es ist elementar, eine Atmosphäre zu kreieren, in der die Spieler nicht das Gefühl haben, dass sie spielen, um dem Trainer zu gefallen. Dadurch kann man viel erreichen."

Was auch ganz entscheidend ist: Immer und immer wieder ganz simpel Eins-gegen-Eins spielen lassen - aus dem Lauf heraus, aus dem Stand, mit unterschiedlichen Anlaufrichtungen des Verteidigers. Und in Spielen dann die Lust auf das Eins-gegen-Eins nicht nur zuzulassen, sondern sie auch ganz explizit einzufordern. Immer wieder aufs Neue die Gier zu wecken, den Gegenspieler auszuspielen, ihm Knoten in den Beinen zu verpassen. Oder eben umgekehrt auch den defensiven Part hervorzuheben und den Antrieb zu triggern, als verteidigender Spieler den Gegner auf gar keinen Fall vorbeizulassen.

Dabei geht es dann auch wieder darum, genau das als Coach authentisch vorleben zu können. Eine Fähigkeit, die in den Nachwuchsleistungszentren mit zunehmender Modernisierung leider mehr und mehr dem Drang gewichen ist, den Fußball zu analytisch zu denken, ihn zu verkomplizieren.

In den ersten Jahren der NLZs Anfang und Mitte der 2000er war das noch anders. Der Fußball wurde noch mehr in seiner Ursprünglichkeit gesehen, es gab mehr Freiraum, mehr Intuitives. Deutschlands U20-Nationaltrainer Hannes Wolf erklärte dazu passend zuletzt im kicker: "2010 gab es im Juniorenbereich noch keine Video-Analyse des Gegners. Auch die eigenen Einheiten wurden noch nicht gefilmt. Erst danach sind die Mechanismen des Profifußballs herübergeschwappt in den Nachwuchsbereich. Die Folge: Es wurde auf einmal Taktik trainiert mit Blick auf den nächsten Gegner und rein aufs Ergebnis. Aber genau das ist auf Dauer Gift."

Oliver Reiß von Hertha BSC.
© imago images

DFB-Nachwuchs: Eine fatale Entwicklung

Inhaltlicher Antrieb dahinter war auch die fatale Entwicklung, Fußball immer mehr als Strategie- und immer weniger als Ballspiel zu betrachten und zu vermitteln. Eine Veränderung, die nicht nur dem organisierten Nachwuchsfußball geschadet hat, sondern mittlerweile allgegenwärtig ist. Selbst die mediale Präsentation von Fußball ist heute voll von taktischen Analysen, bis ins kleinste Detail ausgewerteten Spielszenen.

Es scheint, als wolle man mit einer unerklärlichen Verbissenheit versuchen, für alles irgendeine systematische Erklärung zu finden, hinter allem einen logischen Plan aufzudecken. Als wolle man alles Wilde, Chaotische, Unkontrollierbare und Instinktive nicht mehr gelten lassen. Dabei sind genau das elementare Eigenschaften dafür, dass sich in jeder Generation so viele Menschen in den Fußball verliebt haben.

Vielleicht liegt es unter anderem auch an der Verkomplizierung des Denkens über das Spiel, dass es weniger Straßenkicker gibt. Das Gute ist, dass auch Leute beim DFB wie Hannes Wolf, Hermann Gerland und Hanno Balitsch erkennen, dass man dieser Entwicklung vehement entgegenwirken muss. Sie haben ein hervorragendes Konzept für Jugendtraining entwickelt, das auf dem Grundsatz fußt, dass Fußball ein einfaches Spiel ist. Wolf betont dabei: "Wir müssen wieder dahin kommen, dass die Trainer das Selbstvertrauen entwickeln, auf diese Einfachheit zu bauen."

Gibt es inzwischen zu viel Strategie im Fußball?
© getty

Nachwuchsfußball: Weniger Vorgaben, weniger Analytik

Wenn Vincenzo Grifo betont, dass er glücklicherweise das zuweilen zu strukturelle Arbeiten in Nachwuchsleistungszentren nur vernachlässigbar kurz erlebt hat, hat er bei dieser Erkenntnis vermutlich auch Beispiele wie dieses vor Augen, das so auch in einem NLZ vorkommen könnte: Wenn der U13-Trainer seinen Spielern bei einer Eins-gegen-Eins-Übung sagt, ihr erster Kontakt muss immer weg vom Gegenspieler gehen, ist das auf den ersten Blick natürlich der logische Hinweis und macht vermeintlich Sinn. Allerdings ist zumindest für diese Übung - und wenn derlei Anweisungen ständig gemacht werden auch darüber hinaus - die Kreativität enorm eingeschränkt. Die Spieler werden den Ball jetzt immer auf die eine, vorgegebene Art mitnehmen. Und kommen gar nicht dazu, auszuprobieren, beim Gegenspieler mit dem ersten Kontakt zu ihm hin vielleicht eine Reaktion zu provozieren, durch die sie ihn dann mit dem zweiten Kontakt ausspielen können. Die Freude daran, ihre ganz eigene Spielweise zu kreieren, wird gar nicht erst zugelassen. Und statt Unterschiede in der Technik, die leider immer weniger sichtbar sind, zu fördern, wird Fußball ihnen eher wie eine mathematische Formel vermittelt, bei der Lösung A vermeintlich die einzig richtige ist.

Zeljko Ristic, von 2000 bis 2013 Jugendtrainer bei Hertha BSC, hat dazu passend und im Zusammenhang mit den Fehlentwicklungen der letzten Jahre im deutschen Nachwuchsfußball mal etwas sehr Gutes gesagt: "Nehmen wir mal das Eins-gegen-Eins. Da geht es nicht nur um das Austricksen, sondern auch darum, welche Ballbeherrschung ich habe, wie ich zum Ball stehe und ob es ein Automatismus oder eine Bauchentscheidung ist. Bei den Straßenfußballern ist es eine Bauchentscheidung, ein Impuls. Bei Vereinsspielern ein roboterhafter Automatismus. Der Fußball wird sich immer mehr neutralisieren, immer strategischer wie beim American Football. Da braucht es Anarchisten wie Zlatan Ibrahimovic, die mit ihrer Kreativität für einen Bruch sorgen und das Spiel verändern", erklärte er bei t-online.de.

Oder Spieler wie Jamal Musiala. Gemeinsam mit Florian Wirtz das größte deutsche Talent seit langem und doch immer wieder ein Thema in Debatten über die Nachwuchsarbeit in Deutschland. Denn Musiala verbrachte den Großteil seiner Jugendzeit bekanntlich in England - und konnte sich dort so frei entwickeln, wie es ihm in Deutschland vielleicht nicht möglich gewesen wäre. "In England lernt man in der Jugend andere Dinge als in Deutschland", sagte Musiala vor einigen Monaten. "Man legt großen Wert auf individuelle technische Fähigkeiten und das Eins-gegen-Eins. Mit Freiheit zu spielen war für mich damals das Motto. Das hat mich inspiriert und wird mich mein ganzes Fußballer-Leben lang begleiten. Ich habe im englischen Nachwuchs-System ein anderes Umfeld gehabt."

Aussagen wie diese sollten viel stärker wahrgenommen und noch deutlicher in den Mut umgesetzt werden, Nachwuchsfußball in Deutschland komplett anders anzugehen: Noch weiter weg von in Konzepten ausgeklügelten Herangehensweisen, die das Freie, Intuitive und manchmal auch Chaotische außer Acht lassen. Das, was den Fußball ausmacht.

In der Praxis kann das dann auch mal bedeuten, ganz bewusst entgegen der Logik zu arbeiten. Saul Isaksson-Hurst, einer der renommiertesten Individualtrainer Englands, der unter anderem schon Noni Madueke oder Folarin Balogun trainiert hat, lässt beispielsweise in seinen Übungen den ersten Kontakt hin und wieder ganz bewusst in Richtung des Gegenspielers ausführen. Unter anderem, um mehr Mut für das direkte Duell zu entwickeln.

Das Ausprobieren muss jedenfalls wieder viel wichtiger werden. Dinge versuchen, die vielleicht auch immer wieder schiefgehen. Die später dann aber immer öfter auch funktionieren, die flexibler und variabler machen, die zur Folge haben, unbewusst verschiedene Lösungsmöglichkeiten für eine bestimmte Situation zu verinnerlichen. Die ganz einfach den Instinkt wieder stärken, der bei all dem immer mehr zunehmenden Streben nach Planbarkeit auch auf allerhöchstem Niveau weiterhin extrem wichtig ist.

Eines der größten Talente des Landes: Jamal Musiala.
© getty

SGE-Nachwuchsleiter Richter fordert gesunde Mischung

Zumal im Spiel nicht jeder Ball so wohl temperiert ankommt wie bei einer Übung im Training, zumal der erste Kontakt auch nicht immer wie gewünscht gelingt. Dann ist es umso mehr gefragt, so häufig wie möglich in Situationen gewesen zu sein, in denen der nächste Schritt nicht von irgendwem vorgegeben wurde. Zu viel Coaching hemmt genau diese Fähigkeit zur Improvisation.

Nun ist es natürlich nicht so, dass Jugendtrainer - speziell in den jüngeren Altersstufen - überhaupt nicht mehr coachen sollten. Das betont auch Alexander Richter, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums von Eintracht Frankfurt, im Gespräch mit SPOX und GOAL: "Es sollte eine gute Mischung zwischen unangeleitetem Straßenfußball und dem einen oder anderen Tipp vom Trainer sein. Ständig nur anzuleiten, bringt keine kreativen, eigenverantwortlichen Spieler hervor, ist aber gleichwohl nötig."

Wichtig ist dann, was gecoacht wird. Allgemeine Dinge, die für einen Fußballer immer wichtig sind, müssen immer und immer wieder angesprochen werden: Vororientierung, den Kopf oben zu haben, mutig zu sein, keine Angst vor Fehlern zu haben, Pässe immer mit Überzeugung zu spielen. Oder wie man am besten steht, um sich direkt nach vorne aufdrehen zu können. Aber sobald es um Kreativität, um individuell angeeignete Techniken von Ballan- und -mitnahme, bei Flanken, im Passspiel oder Torschuss geht, die vielleicht nicht dem Lehrbuch entsprechen, sollte man einfach zulassen. Damit Einzigartigkeit entstehen kann, die auch ein entscheidender Aspekt davon ist, warum Musiala so unfassbar gut ist. Und die nicht nur im Offensivspiel, sondern natürlich auch im Verteidigen einen Mehrwert bieten kann: Siehe Virgil van Dijk, seit Jahren einer der besten Abwehrspieler der Welt, der im defensiven Eins-gegen-Eins dem auf ihn zulaufenden Stürmer häufig ungewöhnlicherweise in die Augen schaut, um zu erkennen, an welcher Seite er an ihm vorbei will.

Mehr einfach zuzulassen ist aber trotzdem weiterhin mitunter eine Hürde im Jugendfußball. Dabei sind die Vorteile davon so eindeutig ersichtlich. "Ich weiß zum Beispiel nicht, wie viel geordnetes Training Neymar in seiner Jugendzeit hatte", sagt Oliver Reiß, seit 2007 Nachwuchstrainer bei Hertha BSC und aktuell für die U19 der Berliner verantwortlich, gegenüber SPOX und GOAL. "Gerade diese besonderen Fußballer haben ja teilweise nicht die konzeptionell detaillierteste Ausbildung bekommen, sondern viel selbst erlernt."

Alexander Richter von Eintracht Frankfurt.
© imago images

Thomas Tuchel erinnert an Andrés Iniesta

Nun gibt es Fußballer mit einer derart ausgeprägten Gabe wie Neymar natürlich nur extrem selten und Reiß schränkt auf die Frage, ob dieses "Sich-selbst-Ausbilden" wieder viel maßgeblicher sein sollte, zu Recht ein: "Nur auf die Talente zu warten, die es ohnehin von alleine schaffen, ohne dass man großen Einfluss nimmt, wäre zu wenig. Man muss schon mit sinnvollem Coaching und dem richtigen Input begleiten."

Dennoch bleibt der Eindruck, dass das Wort Ausbildung im Nachwuchsfußball zu hoch gehängt wird. Dass es als zu wichtig erachtet wird, Jugendspielern Dinge an die Hand zu geben, ohne die sie vermeintlich keine guten Fußballer werden könnten. Und daraus resultiert dann unter anderem der Trugschluss, dass Unterschiedsspieler wie Musiala oder Wirtz "ausgebildet" werden müssten. Solche Spieler bildet man nicht aus, sondern man lässt sie einfach sein wie sie sind. Lässt sie spielen, lässt sie Erfahrungen sammeln und unbewusst besser werden.

So wie man es beim FC Barcelona zum Beispiel im Fall von Andrés Iniesta erkannt hat, als der spätere Weltklassespieler einst in den Nachwuchs der Katalanen wechselte. Thomas Tuchel erinnert sich dabei an folgende Anekdote, die ihm ein Verantwortlicher aus Barças Jugendabteilung erzählt hat: Als Iniesta in die Akademie kam, sagte jener Verantwortliche "zu seinen Nachwuchstrainern: 'Versucht nicht, ihn zu verbessern. Seid einfach nur für ihn da'."

Jugendtrainer sollten sich also mehr als Begleiter oder Mentor denn als ständiger Korrektor begreifen. Als jemand, der selbst alles am Ball können sollte und den Jungs dadurch als Vorbild dienen, sie begeistern und ihnen kreative Lösungen vorleben kann. Der gleichzeitig aber erkennt, dass er den Spielern in der Umsetzung vollkommene Freiheit gewähren sollte.

Was - aktuell konkret auf die limitierte Anzahl hochklassiger Mittelstürmer oder Außenverteidiger in Deutschland gemünzt - zudem auch ein Indiz für die zu starke und starre Bedeutung des Wortes Ausbildung im Fußball ist: Die leidige Diskussion darüber, Spieler für ebenjene Positionen "produzieren" zu müssen, nachdem man sie in jüngerer Vergangenheit vielleicht eher verhindert hat.

"Vom DFB hieß es auf einmal, dass wir keine klassischen Mittelstürmer mehr ausbilden sollen, sondern nur noch Neuneinhalber", sagte Ex-Bundesligaprofi Dirk Lottner, momentan U19-Trainer von Hannover 96, dem YouTube-Kanal BASIS:KIRCHE über seine Zeit als U17- und U21-Coach des 1. FC Köln zwischen 2007 und 2013. "Das war damals klar vom DFB vorgegeben. [...] Sie haben es also damals gefordert, dass wir diese klassischen Stürmertypen nicht mehr haben. Und jetzt schreien alle danach."

Andrés Iniesta in jungen Jahren beim FC Barcelona.
© getty

DFB-Nachwuchs: Spielen, spielen, spielen - und was noch?

Wenn es darum geht, was das absolut Wichtigste im Nachwuchstraining ist, ist man sich glücklicherweise einig: Spielen, spielen, spielen. Eins gegen Eins, Zwei gegen Zwei, Drei gegen Drei, Vier gegen Vier. Das Simpelste ist das Wertvollste.

Wie oben bereits ausführlich behandelt, ist ein größtmöglicher Freiraum dabei enorm wichtig. "Beim FC Porto zum Beispiel werden die Trainingsplätze früher aufgemacht, die Kinder treffen sich schon vor dem Training und spielen miteinander", nennt Ex-Hertha-Jugendtrainer Zeljko Ristic bei t-online.de ein Vorbild aus Portugal. Auch bei Eintracht Frankfurt denkt man in diese Richtung: "Wir wollen bei uns im NLZ demnächst probieren, einfach mal um 15 Uhr ein paar Leibchen auf den Platz zu legen und den Jungs aus beispielsweise drei Jahrgängen zu sagen, sie können einfach kommen und vor dem Mannschaftstraining, das um 16.30 Uhr beginnt, zocken", sagte SGE-Nachwuchsleiter Alexander Richter SPOX und GOAL.

Eine sehr gute Tendenz. Ebenso wie das eindeutige Vorhaben, Taktik und Systeme nicht mehr zu früh zu wichtig zu nehmen - wie es in jüngerer Vergangenheit leider häufig der Fall war. "Wir müssen als Trainer aufpassen, uns nicht zu oft für taktische Trainingseinheiten zu entscheiden", betonte Hannes Wolf im Podcast kicker meets DAZN. Und Ex-Bundesliga-Trainer Manuel Baum, einst unter anderem im Nachwuchs des FC Augsburg oder als U18- und U20-Trainer beim DFB tätig, gab im ZDF-YouTube-Format Bolzplatz zu denken: "Wenn man vier Einheiten pro Woche hat und zwei davon für die Gegnervorbereitung verwendet, dann fehlen diese im Bereich der Individualisierung. Ohnehin wäre es förderlich, bis zu einem gewissen Altersbereich auf Matchpläne zu verzichten, damit die Spieler lernen, sich auch selbstständig an neue Gegebenheiten anzupassen."

Im Jugendfußball weniger strategisch zu denken, ergibt dabei auch deshalb Sinn, weil Taktik schnell zu erlernen ist. "Mit einer guten Einführung dauert es keine drei Monate, bis jeder Spieler die vier Spielphasen, die man heute unterscheidet, drauf hat und sich in diesen taktisch verhalten kann", betont Frankfurts Alexander Richter.

Hannes Wolf kümmert sich seit Jahren um den deutschen Nachwuchs.
© getty

Dimitar Berbatov ein bekanntes Beispiel

Ohnehin muss der in manchen Zeiten der jüngeren Vergangenheit beobachtbaren Tendenz entgegengesteuert werden, zu häufig taktische Dinge aus dem Profifußball auch im Jugendfußball anwenden zu wollen. "Man kann nicht einfach das Gesehene eins zu eins übertragen, sondern muss es dem jeweiligen Alter entsprechend anpassen. Ich kann mir schon vorstellen, dass das vielen auch mal nicht gelingt", sagt Herthas heutiger U19-Trainer Oliver Reiß zu SPOX und GOAL und führt aus: "Mir selbst ging es früher ähnlich, als ich die U13 trainiert habe und plötzlich einen Fußball spielen lassen wollte wie Pep Guardiola. Da bin ich selbst so ein bisschen reingefallen, zum Glück aber auch wieder rausgekommen. Denn man muss schon darauf achten, was in welchem Alter für die Entwicklung wichtig ist, damit dabei die Spieler herauskommen, die wir uns wünschen."

Zurück dazu, was im Training konkret wichtig ist: Neben dem freien Spielen stellen hier Spielformen, bei denen ein bestimmtes Verhalten - beispielsweise Umschalten, Zug zum Tor oder Vororientierung - akzentuiert wird, als zweite Säule einen wichtigen Part. Hannes Wolf hat dazu jüngst in einem YouTube-Format des DFB gemeinsam mit Hermann Gerland ein überragendes Beispiel präsentiert: 2 gegen 2 auf acht Sekunden, sprich: Die zwei Jungs mit dem Ball haben nur acht Sekunden, um ein Tor zu erzielen. Diese zeitliche Begrenzung zwingt sie ebenso simpel wie genial dazu, mutig und entschlossen in ein Eins-gegen-Eins zu gehen oder eben mit klugem Zusammenspiel schnell zum Abschluss zu kommen. Besser kann man den Sinn einer Spielform nicht erfüllen.

Unterschiedliche Meinungen gibt es indes zu isolierten Technikübungen, sprich Übungen, bei denen man ohne Gegner-, Raum- oder Zeitdruck an seiner Ballbehandlung arbeitet. Manche schreiben ihnen hohen Mehrwert zu, manche sprechen ihnen diesen komplett ab. Die Erklärung Letzterer beinhaltet dann meistens den Verweis auf das sogenannte Spielkompetenzmodell, das besagt, dass zu einer Aktion neben der technischen Ausführung ja auch das Wahrnehmen der Situation und das Entscheiden für eine Lösung gehören.

Ja, alles schön und gut. Und irgendwo ist das ja auch richtig. Was aber stört, sind zwei Dinge: Erstens die Theoretiker-Denkweise mit der festgefahrenen Behauptung, eine Übung müsse immer auch in irgendeiner Form Entscheidungsfindungen beinhalten, um gut und effektiv sein zu können. Und zweitens die Missachtung der eigentlich so simplen Erkenntnis, dass Drucksituationen, in denen man Entscheidungen treffen und Lösungen finden muss, ohnehin vollkommen von selbst ständig entstehen, wenn man einfach ganz normal spielt. Und in diesem unbewussten Lernen beim ständigen Spielen auf engem Raum liegt doch in Verbindung damit, sich stundenlang einfach nur mit dem Ball zu beschäftigen, vermutlich der Kern eines jeden Fußballers.

Dimitar Berbatov ist ein bekanntes Beispiel dafür, wie wichtig die ganz simple Beschäftigung alleine mit dem Ball ist. Er trainierte seinen später dann so famosen ersten Kontakt seit jeher, indem er einfach immer wieder gegen eine Wand passte: Flach, hoch, dann möglichst fest, um die Ballannahme schwieriger zu machen. "Speziell als Kind oder junger Spieler sind manchmal die einfachsten Übungen die effektivsten", erklärt er.

Dimitar Berbatov in jungen Jahren.
© getty

Thomas Müller und Robert Lewandowski gegen Manuel Neuer

Im Spiel, sagte Berbatov mal beim YouTube-Kanal Shoot for Love, sei es ihm durch dieses sich ständig wiederholende Üben sehr leicht gefallen, sich schon vor der Ballannahme zu orientieren und seine Mitspieler zu suchen: "Denn ich wusste, dass ich den Ball ohnehin gut kontrollieren würde. Das verschafft dir einen Vorteil." Genau darum geht es. Und es ist durchaus grotesk, dass einige deutsche NLZ-Trainer Berbatov - einst bei Tottenham oder Manchester United wohl einer der besten Premier-League-Stürmer, was Ballan- und -mitnahme angeht - vermutlich sagen würden, dass seine Art zu trainieren wenig Sinn ergibt.

Trainerlegende Hermann Gerland, seit seinem Ende beim FC Bayern vor zwei Jahren mittlerweile als Co-Trainer seines früheren Spielers Antonio di Salvo bei der U21-Nationalmannschaft glücklich, würde Berbatov hingegen ganz sicher darin bestärken. Er stellte die Wichtigkeit, im Training den Wert des Einfachen zu erkennen, zuletzt in einem kicker-Interview mit einem Beispiel aus seiner Zeit beim FC Bayern heraus: "Vor jedem Spiel haben wir Abschlüsse nach Flanken geübt. Ohne Gegenspieler. Es ging nur darum, den Ball bestmöglich mit dem Kopf oder dem Fuß aufs Tor zu bringen, um Manuel Neuer zu überwinden. Robert Lewandowski und Thomas Müller haben dabei immer gewonnen."

Im Gegensatz dazu habe er aber auch "Trainingseinheiten gesehen, da standen fünf Stürmer und drei Abwehrspieler in der Mitte. Jeder von den Angreifern hat bei dieser Übung in 25 Minuten vielleicht dreimal den Ball vernünftig getroffen. Da erklärt es sich doch von selbst, welche Trainingsform vernünftiger ist. Man muss den Fußball nicht verkomplizieren. Es kommt auf Wiederholungen an, auf Spielzeit, auf den Spaß."

In der modernen Nachwuchsfußballwelt unverständlicherweise mitunter verpönte isolierte Übungen zu Passspiel, Torabschluss, Ballan- und -mitnahme, Flanken oder anderen technischen Elementen, bei denen sich als Nebeneffekt ja auch das so wichtige innige Verhältnis zum Ball entwickelt, sollten also ein essenzieller Teil von Jugendtraining sein. Und neben spielnahen Übungen mit Gegner-, Raum- oder Zeitdruck sowie dosiert eingesetzten Spielformen zu den drei Säulen neben dem Allerwichtigsten, dem freien Spielen, zählen.

Bei spielnahen Übungen ist dabei entscheidend, den Spielkontext so simpel wie möglich zu halten. Arsenal-Star Martin Ödegaard schrieb in einem Beitrag für The Players' Tribune zum Beispiel von einer Übung, die er früher mit seinem Vater in einer Sporthalle machte: "Er spielte den Ball gegen eine Bank, von der aus er zu mir zurück kam. Er lief mich dann von hinten von einer bestimmten Seite an, ich musste nach hinten schauen und meine Ballmitnahme im Vorhinein entsprechend anpassen. Wenn Ihr heute seht, wie ich einen Gegenspieler ins Leere laufen lasse, diesen Touch und das schnelle Lesen des Spiels anwende: Das ist die Sporthalle. Das ist mein Vater."

Feierten gemeinsam viele Erfolge- Robert Lewandowski, Thomas Müller und Manuel Neuer (von links nach rechts).
© getty

Jamal Musiala und Florian Wirtz: Der Ausnahme-Jahrgang?

Nach dem Vorrunden-Aus der DFB-Elf bei der WM 2018 las man lange gefühlt alle paar Wochen ein neues Statement mit dem Tenor: Der deutsche Nachwuchs-Fußball hat im internationalen Vergleich den Anschluss verloren.

"Es ist 5 nach 12, was den deutschen Nachwuchsfußball angeht", sagte Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter Nationalmannschaften, der Bild. "Wir sehen das Gewitter kommen im Jugendbereich. Ich habe die Befürchtung, dass nach der WM 2026 auf Deutschland eine Phase der Erfolglosigkeit zukommt."

Und Ex-DFB-Direktor Oliver Bierhoff betonte 2021 in der Sport Bild: "Die Rückmeldungen unserer U-Trainer sind, dass sie früher pro Jahrgang fünf bis sechs Jungs nennen konnten, die definitiv Bundesliga- oder auch Nationalspieler werden können. Das ist zurzeit leider nicht der Fall."

Der Blick auf die absolute Spitze junger deutscher Fußballer bestätigt diese Sorgen sicherlich nicht. Mit Jamal Musiala, Florian Wirtz und Youssoufa Moukoko stellt Deutschland drei der aktuell größten Talente Europas. Und schaut man nur auf den Jahrgang 2003 spielen mit Musiala und Wirtz zwei der drei wohl weltbesten Spieler dieses Jahrgangs - Jude Bellingham vervollständigt die Top-3 - für den DFB. Nimmt man den 21-jährigen Karim Adeyemi hinzu, könnte Deutschland potenziell über Jahre hinweg eine spektakuläre Weltklasse-Offensive haben.

Und auch auf den zweiten Blick offenbart sich nicht wirklich die Brisanz, die Aussagen wie jene von Chatzialexiou oder Bierhoff vermuten lassen. Klar, in den meisten Jahrgängen ab 2000 fehlt Deutschland tatsächlich die Breite an Top-Talenten. Aber vielleicht ist das ja auch irgendwie ganz normal. "Manche Jahrgänge sind einfach schwächer als andere und bringen nicht so viele Topspieler hervor", betont auch Frankfurts Nachwuchsboss Alexander Richter bei SPOX und GOAL.

Anstatt sich daran festzubeißen, diese Topspieler ausbilden zu müssen, sollte man sich daher das, was in diesem Artikel nun schon häufiger betont wurde, explizit vornehmen: Man muss einfach wieder viel mehr zu- und loslassen statt den Jungs theoretisch so ausgeklügelt erscheinende Konzepte aufs Auge zu drücken.

Florian Wirtz (links) und Jamal Musiala wurden beide 2003 geboren.
© getty

DFB: Kein Vergleich zu Frankreich, England und Co?

Das erkennt eigentlich auch Meikel Schönweitz, von 2019 bis Frühjahr 2023 Nachwuchs-Cheftrainer beim DFB: "Wenn wir gegen Nationen wie Spanien, England, Frankreich oder Portugal spielen, stellen wir fest, dass diese Spieler oftmals eigene, kreative, offensive Lösungen in Drucksituationen haben. Wir hingegen sind sehr stringent an unsere Taktik gebunden. Das hat sich über die Jahre hinweg entwickelt, dem müssen wir entgegenwirken", sagte er 2021 im Interview mit Sport1.

Mit England und Frankreich sind speziell zwei der von Schönweitz genannten Nationen derzeit besser aufgestellt, wenn es um die Breite der Auswahl an herausragenden jungen Spielern geht. Auch Portugal oder Spanien haben in dieser Hinsicht wahrscheinlich leichte Vorteile gegenüber dem DFB. Dennoch darf man nicht vernachlässigen, dass es auch neben Musiala, Wirtz, Moukoko oder Adeyemi durchaus einige Talente gibt, die großes Potenzial mitbringen. Die Prognosen für die Zukunft des deutschen Fußballs fallen mitunter also definitiv zu düster aus.

Arijon Ibrahimovic und Paul Wanner beispielsweise schaffen es sogar im Luxuskader des FC Bayern, bei der ersten Mannschaft reinschnuppern zu können. Tom Bischof, Muhammed Damar oder Umut Tohumcu erhalten ihre Chancen bei der TSG Hoffenheim und stehen mitunter schon in der Startelf. Ibrahim Maza durfte gegen Ende der vergangenen Saison für Hertha in der Bundesliga ran, erzielte dabei gegen Wolfsburg ein Tor. Luca Netz ist in Gladbach bereits auf dem Weg zum gestandenen Bundesligaspieler. Justin Diehl (1. FC Köln), Dzenan Pejcinovic (VfL Wolfsburg) oder Laurin Ulrich (VfB Stuttgart) drängen in den Profikader. Und der 18-jährige Mittelstürmer Nelson Weiper schickt sich an, in Mainz durchzustarten.

Weiper und Co. sind natürlich auch allesamt U-Nationalspieler. Die Resultate der DFB-Junioren-Teams wurden in den vergangenen Jahren immer wieder als Indikator für einen Rückstand des deutschen Nachwuchsfußballs im europäischen Vergleich herangezogen. Mitunter ist diese Sorge auch berechtigt.

Bei der U19-EM zum Beispiel gelang der letzte Titelgewinn 2014, seither kam man nicht mehr über die Gruppenphase hinaus und war zuletzt 2017 überhaupt bei der Endrunde dabei. Bei der U17-EM gab es vor der Auflage in diesem Jahr zweimal das Aus in der Vorrunde (2019 und 2018) und einmal im Viertelfinale (2022). Schon vergangenes Jahr war die individuelle Klasse der Spieler allerdings sehr hoch, beim Turnier 2023 in Ungarn folgte dann auch ergebnistechnisch der Beleg dafür, dass man sehr wohl weiterhin auf höchstem internationalem Level mehr als konkurrenzfähig sein kann. Deutschlands U17 spielte begeisternden Fußball, bezwang Portugal (4:0) sowie zweimal Frankreich (3:1 in der Gruppe, im Finale nach Elfmeterschießen), holte den Titel und hatte einige hochveranlagte Jungs dabei: Dortmunds Paris Brunner und Charles Herrmann zum Beispiel, Noah Darvich vom SC Freiburg, Assan Ouédraogo von Schalke 04 oder Fayssal Harchaoui vom 1. FC Köln (alle Jahrgang 2006).

Und auch abgesehen vom kürzlich gewonnenen U17-EM-Titel ist der deutsche Nachwuchs hinsichtlich der Ergebnisse ganz sicher nicht so schlecht, wie er manchmal gemacht wurde. Weitere Beispiele dafür: Die U16 gewann im Februar das UEFA Development Tournament vor Frankreich, Portugal und Holland, besiegte die Franzosen dann zuletzt auch Ende Mai in einem Testspiel mit 4:2.

Die deutsche U17 wurde 2023 Europameister.
© getty

DFB: Scouting auf den Bolzplätzen?

Potenzial ist also natürlich noch da. Umso mehr lohnt es, dieses sich wieder freier entfalten zu lassen - anstatt es mit einem viel zu umfassenden Nachwuchssystem eher zu limitieren. Und warum bemüht man sich nicht mal wirklich nachhaltig darum, dem deutschen Fußball eine neue Identität zu verleihen? Eine, die das technisch schöne Spiel ins Zentrum stellt, die authentisch auf Gespür und Straße setzt anstatt auf Konzepte und Belastungssteuerung. Eine, mit der sich allen voran auch die jungen Spieler identifizieren können. Es wäre eigentlich ziemlich einfach, das zu leben.

Möglicherweise ist es auch einen Versuch wert, das Scouting nicht nur auf Vereine zu beschränken, sondern speziell in großen Städten wie Berlin, München, Köln, Hamburg oder Frankfurt auch mal explizit auf den Bolzplätzen und Käfigen nach Talenten zu schauen. "Ja klar, das wäre eine Option", betont auch Eintracht Frankfurts Nachwuchschef Alexander Richter bei SPOX und GOAL.

Eine weitere Idee dabei wären von den großen Klubs organisierte Straßenfußball-Turniere auf den Bolzplätzen ihrer Städte, bei denen zum Beispiel in Köln dann auch Jugendspieler des FC - ob nun als eigene Teams oder verteilt in unterschiedliche Mannschaften - mitspielen. Vielleicht würde das Straßenfußball und Vereinsfußball auch wieder näher zueinander bringen, vielleicht liegt darin viel Potenzial.

In jedem Fall viel Potenzial liegt in einer Reform des Vereins-Spielbetriebs. In den jüngsten Altersklassen wird künftig auf kleinere Mannschaftsgrößen gesetzt, Spiele werden im Zwei-gegen-Zwei, Drei-gegen-Drei oder Fünf-gegen-Fünf ausgetragen. Eine sehr gute Veränderung, die den Kindern deutlich mehr Aktionen ermöglicht, mehr Zeit am Ball, mehr Zweikämpfe, mehr Chancen für Dribblings. Zudem soll es von U6 bis U11 keine klassischen Meisterschaftsrunden mehr geben, stattdessen werden kleinere oder größere Turniere organisiert. Auch das kann sehr positive Effekte nach sich ziehen.

In den ältesten Junioren-Altersklassen wurde derweil inzwischen vom DFB beschlossen, dass es die U17- und U19-Bundesligen ab der Saison 2024/25 in ihrer bisherigen Form nicht mehr geben wird. Stattdessen wird dann für A- und B-Jugend jeweils eine DFB-Nachwuchsliga eingeführt, aus der NLZ-Vereine nicht absteigen können und an der auch einige Amateurklubs teilnehmen. Eine sinnvolle Maßnahme, um negativen Druck wie Abstiegssorgen zu vermeiden. Und zu verhindern, dass sich Trainer zu sehr auf das Ergebnis fokussieren (müssen) und dabei die Entwicklung der Spieler hintenanstellen. Herthas A-Jugendtrainer Oliver Reiß begrüßte eine derartige Reform schon vor deren Beschluss: "Erfolgsdenken und Siegeswille sind ohnehin da, alleine schon durch das Streben danach, es in den Profibereich zu schaffen. Und alles, was dazu führt, dass dieser Wille zum Sieg bleibt und gleichzeitig die Angst vor der Niederlage, sprich vor Abstiegen, wegfällt, ist meiner Meinung nach sehr sinnvoll", erklärt er bei SPOX und GOAL.

Und auch Frankfurts Nachwuchsleiter Richter ist eindeutig für eine Reform: "Die Jugend-Trainer setzen sich selbst unter Druck oder werden zusätzlich extern unter Druck gesetzt, weil sie einen bestimmten Tabellenplatz erreichen müssen. Das ist alles überflüssig."

Artikel und Videos zum Thema