Grätschen ist für die anderen

Von David Kreisl
Jerome Boateng stand in 13 von 15 Bundesligaspielen der Bayern in der Startelf
© imago

Zu Beginn seiner Zeit bei Bayern München war Jerome Boateng als Sicherheitsrisiko in der Abwehr verschrien und befeuerte seinen Ruf mit zahlreichen Patzern. Doch der 25-Jährige durchging in den letzten Monaten eine beeindruckende Entwicklung und ist mittlerweile bei der besten Vereinsmannschaft der Welt und im Nationalteam gesetzt. Am Dienstag gibt es das Wiedersehen mit seinem Ex-Klub Manchester City (Di., 20.45 Uhr im LIVE-TICKER).

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Am Ende stand Jerome Boateng im eigenen Tor, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Vor ihm der wild gestikulierende Manuel Neuer, der seinem Ärger über die vorangegangene Szene freien Lauf ließ. Boateng war es, der den langen Ball aus der Hälfte der Mainzer zu lässig klären wollte, vorbei schlug und Shawn Parker das 1:0 für die Gäste ermöglichte.

Der ein oder andere wäre vielleicht noch geneigt zu sagen, die Szene vor wenigen Wochen sei ein typischer Boateng. Doch die Zeiten, in denen der Verteidiger Aussetzer um Aussetzer hatte, sind lange vorbei. Vom Boateng aus der Anfangszeit in München ist wohl nicht viel mehr als der Name geblieben. So gewaltig war die Leistungsexplosion, die er bis zum heutigen Tag durchlebt.

Es ist ein Zeichen großer mentaler Stärke, vor allem wenn man bedenkt, wie schwer der Weg beim Rekordmeister für ihn war. Schon in seinem ersten Liga-Einsatz sorgte der 13,5 Millionen Euro teure Neuzugang in Co-Produktion mit Manuel Neuer für eine 0:1-Niederlage gegen Mönchengladbach. Wenige Spiele später flog er gegen Hannover wegen einer Tätlichkeit vom Platz.

Platzverweis als Wendepunkt

In Folge der Undiszipliniertheiten und Leistungsschwankungen pendelte der gebürtige Berliner zwischen Bank, Innenverteidigung und seiner Ausweichposition auf der rechten Defensivseite.

In der vergangenen Saison schien sich seine Situation zuzuspitzen, als er sich in der Königsklasse gegen BATE Borissow eine unnötige Rote Karte abholte. Eine Sperre für beide Achtelfinalspiele war die Folge, für die es intern angeblich Rüffel von oberster Stelle gab.

Die Bayern gingen mit dem Innenverteidiger-Duo Daniel van Buyten und Dante in die Rückrunde und nicht wenige prognostizierten Boateng, der bis zum Platzverweis eine starke Saison spielte, ein jähes Ende bei den Münchnern. Zumal die Verpflichtung von Jan Kirchhoff im Sommer Boateng zur vermeintlichen Nummer vier in der Rangordnung machte.

"Werde anders beurteilt"

Doch es sollte alles anders kommen. Der Platzverweis gegen BATE schien ein Hallo-Wach-Moment zu sein, ein Wendepunkt in der Geschichte von Boateng bei den Bayern.

"Ich habe gemerkt, dass ich anders beurteilt werde als andere", sagte Boateng vor kurzem gegenüber der "SZ". Und tatsächlich schien es so, als wären die starken Leistungen der Wochen vor dem Platzverweis durch selbigen vergessen gewesen.

Jerome Boatengs Statistiken in der Champions League

Doch Boateng bewies Disziplin und Willensstärke, arbeitete hart an sich und zahlte das Vertrauen, dass ihm Jupp Heynckes in den wichtigsten Spielen der Saison schenkte, zurück.

Im Champions-League-Halbfinale überragte er gegen Barcelona in beiden Spielen, im Endspiel gegen Borussia Dortmund war er neben Javi Martinez bester Mann auf dem Platz (laut OPTA 84,2 Prozent gewonnene Zweikämpfe am Boden, 100 Prozent in der Luft) und damit ein Garant für den Titelgewinn.

"Muss eigentlich gar nicht grätschen"

Nicht nur durch den Erfolg ist Boateng gereift - mental, aber auch in der Spielanlage. "Früher hab ich nach einem verlorenen Ball gedacht: Den musst du dir sofort zurückholen. Ich hab dann sofort wieder attackiert, und da war dann halt auch mal ein blödes Foul dabei", so Boateng.

Mittlerweile schaue er zuerst, "wie man's anders lösen kann, ich spiele mehr mit Übersicht. Und ich weiß, dass ich von meinen Anlagen her eigentlich gar nicht grätschen muss."

Sein Ziel, sich jeden Tag zu entwickeln und zu lernen, kann er unter dem neuen Coach Pep Guardiola voll ausleben. "Wir stehen höher, verschieben extremer. Wir müssen noch besser aufeinander abgestimmt sein als letzte Saison, weil es natürlich riskanter ist, so weit vorne zu verteidigen", erklärt er den Unterschied zum Spiel von Jupp Heynckes.

Für den athletischen Verteidiger, dem Sammer schon lange "Anlagen auf Weltklasseniveau" attestierte kein Problem. Er fühle sich gut mit der neuen Spielweise, "weil ich zum Glück nicht der Langsamste bin: Wenn der Gegner mal einen langen Ball über die Abwehr spielt, dann rennt mir der Stürmer nicht so schnell weg."

Lob von Sammer, Scholl und Neuer

Er sei "ruhiger geworden und gehe anders mit dem Druck um. Vor allem mache mir nicht mehr selber so viel Druck", erklärte Boateng gegenüber der "B.Z." das Geheimnis hinter seiner neuen Stärke, die sich auch in der Statistik niederschlägt. So hat Boateng diese Saison weniger Fouls begangen als Nebenmann Dante - und das bei mehr Einsatzminuten.

Boateng hat sich mittlerweile Anerkennung von allen Seiten erarbeitet. Mehmet Scholl, der sich für seine öffentlichen Aussagen, Boateng wäre bei Bayern kurz vor dem Aus gestanden, bei ihm entschuldigte, bescheinigte ihm eine komplette Veränderung.

"Ich erkenne ihn fast nicht wieder, er ist auf dem Weg auch sein komplettes Potenzial abzurufen", schwärmte der ehemalige Bayern-II-Coach. Sammer lobte seine Verlässlichkeit, Neuer brachte es auf den Punkt: "Bei uns ist er zur festen Größe gereift."

Auch im Nationalteam gesetzt

Das gilt allerdings nicht nur für die Bayern, sondern auch für die Nationalelf. Am Anfang war er zumeist nur als Rechtsverteidiger im Einsatz, da auf dieser Position dringender Bedarf war. "Und als junger Spieler habe ich da gerne ausgeholfen. Am Anfang ist man erst mal froh, dass man überhaupt dazugehört."

Der Bundestrainer habe ihm aber immer gesagt, "dass er mich innen am stärksten sieht und dass ich auf Sicht gesehen da spielen werde". Dort ist er mittlerweile gesetzt - Per Mertesacker und Mats Hummels konkurrieren um einen Platz neben ihm.

Alleine Boatengs Statistiken aus den letzten Freundschaftsspielen mit Deutschland sind für Gegenspieler furchteinflößend. Gegen England gewann er laut OPTA alle Duelle in der Luft und 83,3 Prozent am Boden, gegen Italien schaltete er Mario Balotelli komplett aus und verlor nicht einen einzigen Zweikampf.

Endlich unverrückbar

Boateng hat es geschafft, "unverrückbar zu werden", wie er es selbst einmal nannte. Auch wenn sein Ex-Verein Manchester City am Dienstag in die Allianz Arena kommt (20.45 Uhr im LIVE-TICKER) und mit den Bayern um den Gruppensieg kämpft, wird er aller Voraussicht nach in der Startelf stehen.

Seine Rotsperre aus dem Hinspiel hat Boateng nämlich abgesessen. Im Etihad Stadium kassierte er kurz vor Schluss einen Platzverweis wegen Notbremse. Jedoch nicht, weil er gepatzt hatte, sondern weil er einen Fehler von Dante und Kirchhoff ausbaden musste. Von den beiden, die ihm angeblich schon den Rang abgelaufen hatten.

Jerome Boateng im Steckbrief

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