Endzeitstimmung in Berlin

Von Daniel Börlein
Blinde Zerstörungswut in Berlin: Hertha-Fans zertrümmern den Innenraum des Olympiastadions
© Imago

Hertha BSC steht kurz vor dem Abstieg. Nach der Niederlage gegen den 1. FC Nürnberg werden in der Hauptstadt "die Planungen für die zweite Liga forciert", wie Manager Michael Preetz erklärte. Überschattet wurde die Berliner Pleite von schweren Ausschreitungen von etwa 100 Chaoten, die nach der Partie auf den Platz des Berliner Olympiastadions stürmten und den Innenraum verwüsteten.

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Die Chronologie eines Chaos-Tages in Berlin:

14.47 Uhr: Noch ist nicht viel los im Olympiastadion, nur der Hertha-Fanblock ist schon gut gefüllt, als beide Teams zum Warmmachen kommen. "Absteiger?" ist auf einem großen Transparent zu lesen. Schon tags zuvor hatten die Fans ein Banner auf dem Trainingsgelände entrollt. Aufschrift: "Das Spiel eures Lebens". Klar ist: Hertha steht vor der wichtigsten Partie der Saison.

15.16 Uhr: Das war's mit der Aufwärmphase, die erste Elf verschwindet in die Umkleidekabinen. Das Olympiastadion ist nun ziemlich voll, die Berliner stehen heute hinter der Hertha. Club-Manager Martin Bader glaubt: "Das wird hier ein Hexenkessel."

15.32 Uhr: Mit zwei Minuten Verspätung gibt Schiedsrichter Knut Kircher die Partie frei. Berlin, Letzter mit 15 Punkten, braucht einen Dreier gegen den Tabellen-15. aus Nürnberg (21 Zähler). 57.761 Zuschauer sind gekommen - so viel wie noch nie in dieser Saison.

15.33 Uhr: Mit etwas Verspätung nimmt Friedhelm Funkel auf der Hertha-Bank Platz. Der Berliner Coach hat sich absichtlich Zeit gelassen, um der Fotografen-Schar zu entgehen.

15.44 Uhr: Die Hertha ist gut drauf heute - und richtig heiß. Raffael hat die erste Großchance, doch Nürnbergs Dominic Maroh kratzt den Ball noch von der Linie. Fünf weitere hochkarätige Hertha-Chancen folgen. Club-Keeper Raphael Schäfer rettet die Gäste aber mehrmals.

16.09 Uhr: Partystimmung in Berlin - die Hertha führt! Gekas macht das 1:0 für die Gastgeber. Die Funkel-Elf ist nun wieder bis auf drei Punkte dran am Relegationsplatz.

16.18 Uhr: Halbzeit. Die Hertha führt völlig verdient mit 1:0, müsste eigentlich aber viel höher vorne liegen. Dennoch sind die Fans begeistert - so gut hatte man das eigene Team lange nicht mehr erlebt. "Was die Mannschaft in den ersten 45 Minuten abgeliefert hat, war sehr gut", wird Funkel hinterher sagen.

16.50 Uhr: Jetzt ist's passiert, Nürnberg gleicht aus. Arne Friedrich lässt sich von Albert Bunjaku abschütteln, und der Schweizer köpft aus acht Metern zum 1:1 ein. Ungläubige Blicke auf der Hertha-Bank, Kopfschütteln im Fanblock. Eine Stunde lang hatten die Hausherren alles im Griff.

16.54 Uhr: Michael Preetz hält es längst nicht mehr auf seinem Platz. Der Manager tigert neben Funkel nervös durch die Coaching Zone, ruft immer wieder aufs Feld.

17.05 Uhr: Hertha geht nun immer mehr Risiko. Die Zeit läuft den Berlinern davon, und ein Punkt ist eigentlich zu wenig. Der Club kommt vermehrt zu Konterchancen. Das hat nun schon was von Alles oder Nichts bei den Gastgebern. Fast die komplette Hertha-Bank steht mittlerweile, brüllt und fiebert mit. Man merkt: Wenn's heute nicht klappt, dann war's das wohl.

17.21 Uhr: Ganz Berlin in Schockstarre - der Club macht das 2:1. Ilkay Gündogan bedient Angelos Charisteas, der den Ball über die Linie drückt. Hertha ist nun mindestens mit einem Bein in der zweiten Liga.

17.22 Uhr: Die Fans sind sauer und aufgebracht. Preetz ist fassungslos. Dem Hertha-Manager kommen die Tränen. In seiner ersten Saison als Nachfolger von Dieter Hoeneß droht der Hertha der Abstieg. "Ich bin 14 Jahre in diesem Verein. Das ist meine bitterste Stunde. Es tut mir sehr weh", sagt Preetz nach der Partie.

17.23 Uhr: Schlusspfiff in Berlin. Nürnbergs Spieler reißen die Arme nach oben, die Herthaner sacken konsterniert zusammen. Die Zahlen sind ernüchternd: Neun Punkte beträgt der Rückstand nun auf Rang 15, acht Zähler auf den Relegationsplatz. "Jetzt hilft nur noch ein Wunder", sagt Pal Dardai.

17.25 Uhr: Während einige Spieler in den Katakomben verschwinden, andere Interviews im Innenraum geben, klettern plötzlich rund hundert Chaoten über den Stadiongraben und stürmen das Feld. Die Ordner haben keine Chance, die aufgebrachte Meute zurückzuhalten. "Wir wollten zu unseren Fans. Da habe ich nur gehört 'schnell schnell, lauft rein'. Ich habe mich kurz umgeschaut und nur die Menge gesehen, die auf den Platz gestürmt ist. Da nimmst du nur noch deine Beine in die Hand. Die hauen dir sonst die Birne ein", sagt Club-Kapitän Andreas Wolf.

17.28 Uhr: Mit Plastikstangen bestückt und zum Teil vermummt stürmt die Menge den Innenraum und lässt ihrem Frust freien Lauf. Werbetafeln und Trainerbänke werden zerlegt, Feuerwerkskörper abgebrannt. Es bietet sich ein Bild der Verwüstung. So etwas hat man in einem deutschen Bundesliga-Stadion wohl noch nie gesehen.

17.33 Uhr: Die Randalierer machen sich auf den Weg Richtung Katakomben. Erst jetzt greift eine Hundertschaft von Polizisten ein, drängt den Mob zurück in den Fanblock und verhindert dadurch eine weitere Eskalation.

17.52 Uhr: Während die Berliner auf der Pressekonferenz keine Fragen zu den Vorfällen zulassen, äußert sich Präsident Werner Gegenbauer: "Wir verurteilen das Vorgehen dieser Personen aufs Schärfste. Das gehört nicht in ein Fußballstadion. Dagegen werden wir mit allen Mitteln vorgehen. Das Spiel unserer Mannschaft gab keinen Anlass, so mit dem Olympiastadion umzugehen."

17.54 Uhr: Auch im Nürnberger Lager zeigt man sich entsetzt. "Wir müssen aufpassen, dass der Fußball nicht wieder verkommt in alte, schon nicht mehr angedachte Sitten, die sich wieder einzuschleichen scheinen. Es ist sehr bedenklich, vor allem wenn Familien da sind, die ein schönes Fußballspiel sehen und ein Familienfest haben wollen. Und wenn dann solche Idioten auf den Platz laufen, habe ich kein Verständnis", sagte FCN-Coach Dieter Hecking. Insgesamt werden 30 Personen festgenommen, vier Polizisten werden leicht verletzt.

18.02 Uhr: Nachdem sich das Entsetzen über die Ausschreitungen etwas gelegt hat, erklären sich die Hertha-Verantwortlichen auch zur sportlichen Situation. "Wir forcieren nun auch die Planung für die zweite Liga", sagt Preetz. "Ich werde mich jetzt nicht mehr so stark dagegen wehren, wenn man mich auf das Thema Abstieg anspricht", so Gegenbauer, der sich allerdings weiter hinter Funkel stellt: "Der Vorstand hat der sportlichen Leitung erst kürzlich das Vertrauen ausgesprochen. Wir werden jetzt keine neue Diskussion eröffnen."

Hertha - Nürnberg: Daten zum Spiel