Julian Nagelsmann: Opfer der Umstände oder Teil des Problems beim FC Bayern?

Von Justin Kraft
Richtungsweisendes Spiel für Julian Nagelsmann: Das Rückspiel gegen den FC Villarreal ist wohl das wichtigste Spiel seiner bisherigen Zeit beim FC Bayern.
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Julian Nagelsmann hat beim FC Bayern München vor dem wichtigen Rückspiel gegen den FC Villarreal mit diversen Problemen zu kämpfen. Wie viel Verantwortung trägt er für die aktuelle Situation der Münchner? Eine Analyse.

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Vor dem Champions-League-Rückspiel gegen den FC Villarreal (21 Uhr im LIVETICKER) häufen sich beim FC Bayern die Probleme.

Offensiv war das Team von Julian Nagelsmann zuletzt erschreckend oft harmlos, defensiv kehrt sowieso keine Ruhe ein - und dann kommt noch Unruhe durch die ausbleibenden Vertragsverlängerungen von Robert Lewandowski, Serge Gnabry, Manuel Neuer und Thomas Müller dazu.

"60, 70 Prozent" müsse man im Vergleich zum Augsburg-Spiel drauflegen, um eine Chance gegen Villarreal zu haben, meinte Nagelsmann am Samstag bei Sky.

Oft wird am Trainer vorbei argumentiert, wenn es um die vielen Baustellen geht. Aber wie groß ist eigentlich sein Anteil an der aktuellen Situation?

Nach den jüngsten Auftritten der Bayern muss darüber diskutiert werden, ob der Trainer tatsächlich nur Opfer vieler unglücklicher Umstände, oder nicht doch ein großer Teil der aktuellen Probleme ist.

Im Rückspiel gegen Villarreal hat er die Möglichkeit, eine recht deutliche Antwort darauf zu geben.

Nagelsmann: Blitzstart mit dem umgedrehten Tannenbaum

Dabei wurde Nagelsmann zu Beginn der Saison noch zu Recht gefeiert. Auf ein 1:1 zum Auftakt in Gladbach folgten neun Pflichtspielsiege mit 45:5-Toren. Selbst die darauffolgende 1:2-Niederlage gegen Eintracht Frankfurt schien verkraftbar, weil die Bayern das klar bessere Team waren. Dominant, gewohnt stark im Pressing und Gegenpressing, aber defensiv im Vergleich zu den Flick-Bayern auch noch stabil?

Nagelsmann schien der goldene Griff für den Rekordmeister zu sein. "Manche Trainer lieben es, mit einer sehr breiten Viererkette zu spielen, um den Gegner eher im Mittelfeld auseinanderzuziehen", erklärte der gebürtige Bayer damals seine Anpassungen bei DAZN: "Ich bin eher jemand, der gerne die gegnerische Kette auseinanderzieht und da versucht, schon im vorderen Drittel mehr Räume zu kreieren."

Also im Aufbau zunächst eng und erst spät breit, um den Gegner dort mit Verlagerungen zu überraschen. Wie ein auf dem Kopf stehender Tannenbaum.

Konkret zeigte sich das auf dem Platz mit einer 2-3-5-Formation. Vor den beiden aufbauenden Innenverteidigern gab es in Ballbesitz also zwei Sechser und den in den Halbraum einrückenden Rechtsverteidiger. Links schob Alphonso Davies sehr hoch, weshalb Leroy Sane mehr ins Zentrum zog. Er und Thomas Müller besetzten die offensiven Halbräume.

Nagelsmann entschied sich plötzlich gegen Guardiola-Ansatz

Der große Vorteil: Bayern war flexibel im Spielaufbau, aber auch sehr stark für das Gegenpressing aufgestellt. Presste ein Gegner hoch, konnte der eingerückte Rechtsverteidiger sich schnell fallen lassen, um zur Dreierkette aufzufüllen. Stand der Gegner tiefer, hatte man viele Spieler im Zentrum, die im Falle eines Ballverlustes sofort Druck ausüben konnten.

Die Nagelsmann-Taktik vom Beginn der Saison in der Raumanalyse.
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Die Nagelsmann-Taktik vom Beginn der Saison in der Raumanalyse.

In der Grafik ist zu sehen, in welchem Raum am ehesten ein Bayern-Spieler die Chance hätte, an den Ball zu kommen. Auffällig: Der Gegner hätte selbst bei einem Ballgewinn nur wenig Raum und Zeit, um eine kluge Entscheidung zu treffen. Eine Rückeroberung der Bayern ist wahrscheinlich, die Anlaufwege sind kurz.

Pep Guardiola lässt bei Manchester City ähnlich spielen, Nagelsmann betont immer wieder, dass er ein Fan seiner Ideen sei.

Dennoch entschied er sich spätestens nach der 0:5-Pokalniederlage in Gladbach dazu, seine bis dorthin funktionierende Idee wieder einzustampfen. Vor allem in der Rückrunde bauen die Bayern insgesamt wieder sehr breit auf - häufig mit Joshua Kimmich als einzigem Sechser.

Kimmich ist zu oft auf sich allein gestellt

Der Unterschied ist mit Blick auf die Veränderungen in der Grafik sofort erkennbar: Plötzlich hat der Gegner im Zentrum viel mehr Raum, den er bei Ballgewinnen nutzen kann. Im Gegenpressing werden die Anlaufwege für die Bayern in manchen Bereichen weiter, aber auch mit dem Ball fehlt es im Mittelfeld an Optionen, wenn sich die Offensivspieler wie zuletzt seltener fallen lassen.

Die Taktik des FC Bayern München aus den vergangenen Spielen in der Raumanalyse.
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Die Taktik des FC Bayern München aus den vergangenen Spielen in der Raumanalyse.

Im Pressing haben die Bayern ebenfalls Probleme. Das Gegentor gegen Villarreal ist dafür das Paradebeispiel. Bayern stand mit vielen Spielern sehr hoch, aber keiner konnte wirklich Druck auf den Ball ausüben. Villarreal bedankte sich für den Raum mitten in der Schaltzentrale der Bayern und verlagerte anschließend klug auf den rechten Flügel.

62-mal setzten sie die Spanier im vordersten Drittel unter Druck, nur neun Ballgewinne gab es dort. Zu oft standen sie in Zwischenräumen oder waren zu unorganisiert.

Gegen Augsburg kamen die Bayern vorne sogar nur auf 33 Drucksituationen, immerhin aber auf 15 Ballgewinne. Trotzdem ist das für den eigenen Anspruch und die defensive Sicherheit zu wenig.

FC Bayern: Warum stellte Nagelsmann um?

Für die Veränderung der Ausrichtung könnte es mehrere Gründe gegeben haben. Einerseits waren die Bayern auch damals schon anfällig auf den Außenbahnen. Das hing damit zusammen, dass es den Spielern offenbar schwerfiel, die neue Struktur über 90 Minuten zu halten. Sie verfielen immer wieder in alte Muster. Andererseits gab es intern wohl Kritik. So beschwerte sich Robert Lewandowski im Herbst sehr deutlich darüber, dass ihm die Taktik nicht liege.

"Bei Bayern war es in letzter Zeit nicht einfach für mich, Torchancen oder einen Platz auf dem Spielfeld zu finden", sagte der Pole damals mit Blick auf die vielen Spieler im Zentrum. Regelmäßig traf er dennoch.

Auch der Wechsel zu einer breiteren Grundformation hat aber offenbar nicht für Ruhe gesorgt. Wie der kicker berichtet, sollen Führungsspieler intern die fehlende Balance bemängeln. Im neuen 3-1-5-1 oder 3-1-6 fehlt es jedenfalls klar an Abstimmung.

FC Bayern wird offensiv immer harmloser

Bayern bekommt die theoretisch vorhandene Tiefe durch fünf bis sechs offensive Spieler nicht mehr eingesetzt, weil der Übergang vom Spielaufbau bis zum Torabschluss an vielen Stellen hakt.

Gegen Augsburg kamen sie nur auf 1,8 Expected Goals (xG) - wovon der Elfmeter schon fast die Hälfte ausmacht. Auch gegen Villarreal (1,2) tat sich der Champions-League-Sieger von 2020 schwer. Ausreißer nach oben, jenseits der 2,5-Marke, gibt es nicht mehr so oft.

In den ersten acht von zehn Bundesliga-Spielen gelang ihnen das noch, anschließend in 19 Partien nur noch elfmal. Bayern fällt es in der breiteren Formation schwer, hochwertige Chancen zu kreieren. Angesichts der durchschnittlichen Zahlen immer noch Kritik auf hohem Niveau, aber womöglich ausschlaggebend in der Champions League.

SaisonphasexG pro SpielxG gegen sich pro Spiel
Bis zum 0:5 in Gladbach2,740,76
Nach dem 0:5 in Gladbach2,520,99

Das könnte auch daran liegen, dass die Flügelangriffe schlechter vorbereitet werden. Aus dem Nagelsmann-Prinzip, nur so breit wie nötig zu agieren, wurden teilweise doppelt besetzte Flügel. Untypisch für den Trainer.

Wenn weniger Spieler im Zentrum positioniert sind, können die Gegner das Mittelfeld leichter zustellen. Bayern bleibt dann nur noch der Weg über außen. Gegen Villarreal schlug die Nagelsmann-Elf 30 Flanken, nur sechs kamen an. Kreativ geht anders.

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