Ermin Bicakcic von der TSG 1899 Hoffenheim im Interview: "Ich kann eigentlich niemanden zu mir nach Hause einladen"

Ermin Bicakcic spielt seit 2014 für die TSG Hoffenheim.
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Innenverteidiger Ermin Bicakcic hat eine bewegte Lebensgeschichte hinter sich: Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der 29-Jährige, wie er als Kriegsflüchtling nach Deutschland kam, von Jahren der Ungewissheit mit einem Container als Zuhause und der Rolle, die der Fußball damals für ihn spielte.

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Die TSG startet am Sonntag mit einem Auswärtsspiel bei Eintracht Frankfurt in die neue Saison (15.30 Uhr im LIVETICKER) - ein Spiel, in dem "Eisen-Ermin" auch als Freistoßschütze in Erscheinung treten könnte.

Außerdem verrät der Bosnier, warum er bei Interviews den Ton ausschaltet, was den neuen Trainer Alfred Schreuder ausmacht und warum er seinen Sport gern mit einem Bürojob vergleicht.

Herr Bicakcic, Sie haben im letzten Jahr einmal gesagt, dass Sie bei Interviews manchmal den Ton ausschalten, weil sowieso klar ist, wie die Antwort lauten wird.

Ermin Bicakcic: Was ich damit meinte: Manchmal fehlt mir in Interviews die Ehrlichkeit, das authentische Reden "frei Schnauze". Vor allem, wenn es um unangenehme Fragen geht, zum Beispiel nach verlorenen Spielen. Da brettern selbst erfahrene Spieler ihre Antworten runter, als würden sie Karteikarten ablesen. Das finde ich schade.

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Schalten Sie denn auch manchmal auf "Autopilot", wenn sich eine Frage an Sie ständig wiederholt?

Bicakcic: Das kann vorkommen. Oft ist es so, dass man die gleiche Frage noch einmal gestellt bekommt, nur anders formuliert, und man sich denkt: "Das habe ich doch schon vor einer Minute gehört." Dann spule ich meine Antwort auch schon mal runter. Aber ansonsten bin ich ein großer Freund davon, offen zu sprechen und den Emotionen freien Lauf zu lassen.

Ich frage auch deshalb, weil ich mit Ihnen gern über Ihre Vergangenheit als Flüchtling sprechen würde, auch wenn Sie dazu natürlich schon häufig befragt worden sind. Ihre Familie ist aus Bosnien geflohen, als Sie zwei Jahre alt waren. Zuerst waren Sie in einem Auffanglager in Österreich, schließlich landete Ihre Familie in Neckarsulm. Was ist das Erste, woran Sie sich in diesem Zusammenhang erinnern können?

Bicakcic: An besondere Einzelheiten erinnere ich mich nicht, dafür ist damals zu viel passiert. Mir war nicht klar, warum wir Bosnien verlassen mussten, ich war ja fast noch ein Baby. Durch Erzählungen meiner Eltern und meiner älteren Schwester wurde mir die Situation schließlich mehr und mehr bewusst, umso älter ich wurde. Woran ich mich aber bei unserer Flucht noch genau erinnere: Es gab lange keinen Ort, bei dem wir sagen konnten: Hier sind wir angekommen, hier sind wir wieder zuhause.

Bei den Fans der TSG Hoffenheim kommt Ermin Bicakcic gut an.
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Bei den Fans der TSG Hoffenheim kommt Ermin Bicakcic gut an.

Wann hatten Sie zum ersten Mal wieder das Gefühl, zuhause zu sein?

Bicakcic: Als wir über Freunde nach Möckmühl kamen und mein Vater eine Arbeit fand, war es das erste Mal, dass ich wieder mehr Kontakt zu anderen Kindern hatte. Wir wussten aber immer noch nicht, ob und wie lange wir bleiben durften. Ich würde sagen, dass dieses Gefühl des Ankommens so richtig bei meiner Einschulung kam: Jetzt schließe ich Freundschaften, jetzt bleiben wir erstmal. Bis zu diesem Moment war alles sehr kurzfristig.

Von vielen Sportlern aus dem ehemaligen Jugoslawien weiß man, wie sie im Krieg damals unter widrigsten Bedingungen trainierten und sich in den Sport quasi "flüchteten". Wie war das bei Ihnen?

Bicakcic: In den Sport "geflüchtet", das würde ich nicht sagen. Ich habe aber im Fußball definitiv meine Freude gefunden und konnte den Rest zumindest zeitweise vergessen. Auch heute noch schöpfen die Menschen in Bosnien, in ganz Ex-Jugoslawien, Freude aus dem Fußball. Da bist du als Spieler ein Volksheld, die Leute geben ihre letzte Mark für ein Ticket aus. So holen sie sich das Gemeinschaftsgefühl zurück, das damals im Krieg zerstört wurde.

Hat Ihnen der Fußball geholfen, sich zu integrieren? Oder war das nicht notwendig, weil Sie so jung nach Deutschland kamen?

Bicakcic: Auch wenn ich in Deutschland aufwuchs, so bin ich doch als Flüchtling gekommen. Jeden Monat mussten wir bangen: Dürfen wir weiter in Deutschland bleiben? Es war nicht einfach, sich unter diesen Umständen ein neues Leben aufzubauen. Ich musste mich also integrieren, und am besten konnte ich das durch den Fußball, zumal ich schon in jungen Jahren richtig gut war. So habe ich auch die Aufmerksamkeit der anderen Kinder bekommen. Unser Umfeld hat uns ebenfalls unterstützt, etwa als es darum ging, die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.

So wie Ihrer Familie damals geht es derzeit sehr vielen Menschen in Deutschland. Die Flüchtlingskrise der letzten Jahre muss Ihnen sehr nahe gegangen sein.

Bicakcic: Natürlich geht das nicht spurlos an mir vorbei. Die aktuelle Situation ist sehr komplex und kaum zu überschauen. Ich versuche zu helfen, soweit es geht, und habe meiner Familie und meinen Freunden gesagt: Wenn es Möglichkeiten gibt und ihr wisst, wo ich helfen kann, womit auch immer, dann bin ich der Erste, der sich beteiligt. Ich kann nicht allen helfen, aber ich kann ein Dominostein in dem Ganzen sein.

Wie früh war bei Ihnen der Gedanke da, Fußballprofi zu werden? Vielleicht auch nur deshalb, um den schwierigen Umständen zu entkommen oder Ihre Familie unterstützen zu können.

Bicakcic: Ich muss ehrlich sagen, dass ich als Kind nicht an eine Profikarriere gedacht habe. Angesichts unserer Umstände ging es zunächst darum, das Drumherum zu vergessen und etwas zu finden, das mir Freude macht und Halt gibt. Aber irgendwann machte es auch bei mir Klick. Man darf nicht vergessen, unter welchen Umständen wir lebten.

Erzählen Sie.

Bicakcic: Wir wohnten bei dem Arbeitgeber meines Vaters auf dem Firmengelände, zu viert in einem kleinen Container mit einem Stockbett, wie man es aus der Jugendherberge kennt. Da realisierst du als Kind irgendwann: Ich kann eigentlich niemanden zu mir nach Hause einladen - denn ein wirkliches Zuhause habe ich ja gar nicht. Oder wenn deine Mutter zu dir sagt: "Ich wünschte, ich könnte dir mehr ermöglichen." Das sind Momente, die dich prägen. Dann sagst du dir: "Irgendwann mache ich das schon für uns." So etwas gibt dir Energie und Motivation, es bis zum Profi zu schaffen. Wann mir dieser Gedanke aber genau kam, das kann ich nicht sagen.

Ermin Bicakcic: Stationen seiner Karriere

ZeitraumVerein
2005 - 2009Jugend VfB Stuttgart
2009 - 2011Stuttgart II
2011 - 2012VfB Stuttgart
2012 - 2014Eintracht Braunschweig
2014 -TSG Hoffenheim
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