Willkommen in der Notaufnahme

Der Hamburger SV steht in der Bundesliga auf Platz 18
© getty

Der Hamburger SV steckt mitten im Abstiegskampf und droht, erstmals den Gang in die 2. Liga antreten zu müssen. Retten soll den HSV nun offenbar Christian Hochstätter als neuer Sportchef. Hat der 53-Jährige die Qualitäten, um den Chaos-Klub vor dem Absturz zu bewahren? Die Vorzeichen stehen schlecht.

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Platz 18. Sieglos. Dürftige vier Buden in zehn Spielen, dafür happige 23 Gegentore. Kostspielige Neuzugänge, die nicht zünden. Trainerwechsel ohne Signalwirkung. Der HSV gleicht einem Trümmerhaufen und taumelt dem ersten Abstieg der Vereinsgeschichte entgegen.

Dabei kommen die Hamburger auch abseits des Rasens nicht zur Ruhe und das fleißige Stühlerücken nimmt in der Hansestadt kein Ende. So hat der ehemalige Mediendirektor Jörn Wolf am Dienstag auf eigenen Wunsch nach fast 14 Jahren seine Koffer gepackt.

"Ich bedaure Jörns Entscheidung, respektiere sie aber. Jörn hat sehr viel für unseren Klub geleistet", wurde Dietmar Beiersdorfer in der entsprechenden Mitteilung zitiert. Lange aufhalten kann sich der Vorstandsvorsitzende mit der Personalie aber nicht, denn er muss eine andere Baustelle stopfen. Neben der anhaltenden sportlichen Talfahrt bekam er auf der Suche nach einem neuen, starken Sportdirektor mächtig Gegenwind.

Hoogma schießt gegen Beiersdorfer

Erst verkündete Beiersdorfer, er habe Nico-Jan Hoogma abgesagt. Nur wenige Tage später schoss der Ex-Kapitän scharf zurück und stellte klar, dass er dem Verein einen Korb gegeben habe und nicht umgekehrt.

Es passt ins Bild, dass der HSV selbst die Suche nach einem Sportdirektor nicht geräuschlos über die Bühne bekommt. Zur Erinnerung: Der Posten ist seit einem halben Jahr vakant. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind nur die Spitze des Eisbergs, der Dino steckt in einem beispiellosen Chaos fest. Retten soll ihn nun Christian Hochstätter.

Dem Vernehmen nach hakt es nur noch an der Freigabe des VfL Bochum, bei dem er einen bis 2020 laufenden Vertrag ohne Ausstiegsklausel besitzt. Gerüchte, wonach der Zweitligist 1,6 Millionen Euro Ablöse ausgerufen haben soll, dementierte der Aufsichtsratboss Hans-Peter Villis. Eine Einigung steht aus.

Deal nur eine Frage der Zeit

Dennoch scheint der Deal nur eine Frage der Zeit. Aber bringt Hochstätter die nötige Qualität mit, um den HSV aus dem Sumpf zu ziehen? Bisher kann der 53-Jährige als Funktionär ein gemischtes Zeugnis einreichen.

Einerseits etablierte er Borussia Mönchengladbach nach dem Abstieg 1999 in seinen sechs Jahren wieder in der Bundesliga und war in seinen rund zwei Jahren bei 96 an Hannovers erstem einstelligen Tabellenplatz seit einer Ewigkeit wegweisend. Auch in Bochum, wo er 2013 anheuerte, genießt er hohes Ansehen - nicht zuletzt wegen des Glücksgriffs Gertjan Verbeek.

Hochstätter, der zwischenzeitlich in der Vermögensverwaltung, in einer Werbeagentur sowie als Spielerberater tätig war, ist in der Branche bestens vernetzt und hat in der Vergangenheit regelmäßig sein wirtschaftliches Geschick unter Beweis gestellt. Er beendete die vergangenen Spielzeiten in Bochum mit einem finanziellen Plus, ohne dabei einen sportlichen Einbruch hinnehmen zu müssen.

Simon Terodde etwa lotste er 2014 ablösefrei ins Ruhrgebiet, im Sommer überwies der VfB für den Stürmer drei Millionen Euro auf das Konto des VfL. Bei Leon Goretzka, dessen Wechsel nach Schalke ebenfalls rund drei Millionen Euro in die Kassen spülte, vereinbarte er eine Klausel, wonach sein Noch-Arbeitgeber bei einem Weiterverkauf mitverdient.

Hochstätter eine "linke Bazille"

Andererseits endeten die Engagements bei Gladbach und Hannover vorzeitig und zum Ende hin stand Hochstätter sinnbildlich für den jeweiligen Misserfolg. Neben unglücklichen Trainer-Entscheidungen griff er auch bei Spielertransfers daneben und überwarf sich mit einigen Weggefährten, was beim Abschiedsspiel von Uwe Kamps sogar in Pfiffen mündete.

Der ehemalige Gladbacher Marcelo Pletsch ließ kein gutes Haar an Hochstätter und bezeichnete ihn sogar als "linke Bazille". Auch Ewald Lienen wetterte nach seiner Freistellung gegen seinen ehemaligen Boss, denn sein Vertrauen "sei von Christian Hochstätter systematisch unterlaufen worden. Ich bin noch nie unter solchen Umständen entlassen worden".

Lienen fürchtete um seine Reputation als Trainer, da die wahren Hintergründe angeblich verschleiert wurden.

Ein Abenteuer beim HSV birgt für beide Seiten also sowohl Chancen als auch Risiken. Ist die Zusammenarbeit von Erfolg gekrönt, hat der HSV seinen starken Sportdirektor und Hochstätter arbeitet wieder in der Bundesliga. Die Vorzeichen stehen aber schlecht, denn nirgends im deutschen Profifußball ist das Durcheinander so groß wie beim HSV und er soll zu einem undankbaren Zeitpunkt aufräumen.

Während er sich nach seiner Ankuft erst ein detailliertes Bild von Kader und Verein machen muss, sollte rund sechs Wochen vor Beginn der Winter-Transferphase das Scouting potentieller Heilsbringer bereits auf Hochtouren laufen. Natürlich wird er in seiner Funktion als Bochums Sportdirektor den Markt ununterbrochen sondiert haben, doch beim HSV unterliegt er anderen Anforderungen und Möglichkeiten.

Unzeit beim Unklub

Zudem hat seit wenigen Wochen ein Trainer das Zepter in der Hand, dessen größter Triumph in der Liga zwei erzielte Tore sind - im fünften Versuch. Im gleichen Zeitraum hagelte es 13 Gegentreffer. Mit zwei vergeigten Elfmetern schenkte Gladbach Markus Gisdol immerhin seinen Premierenpunkt als HSV-Coach.

Zu allem Überfluss ist Beiersdorfer seit Wochen angezählt. Der Vorstandsvorsitzende stand dem Abendblatt zufolge jüngst kurz vor einem Rücktritt. Wie die Hamburger Morgenpost berichtet, wurde Beiersdorfer bereits vom Aufsichtsrat zum Rapport gebeten. Denkbar also, dass Beiersodorfer einen neuen Sportchef installiert, selbst aber nicht mehr allzu lange im Amt bleibt.

Und genau darin liegt das wohl größte Übel beim HSV: Die Personalentscheidungen werden nicht vertikal von oben nach unten getroffen, sondern hektisch und ohne Konzept. Zunächst wird der Trainer ausgetauscht, dem dann ein neuer Sportdirektor vor die Nase gesetzt wird, der sich wiederum möglicherweise mit einem ungewünschten Coach herumärgern muss. Initiiert wird das Stühlerücken von einem Vorstandsvorsitzenden, dessen eigener Stuhl gewaltig wackelt. Ein Konstrukt, das zum Scheitern verurteilt ist.

Seit Jahren erinnert der Aktionismus beim HSV einer Operation am offenen Herzen auf der Suche nach dem passenden Arzt. Mit Hochstätter betritt ein weiterer Protagonist die Notaufnahme.

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