Vertrauen plus X

Von Daniel Reimann
April 2010: Bayern-Spieler Schweinsteiger und Bayern-Trainer van Gaal in Manchesters Old Trafford
© imago

Bastian Schweinsteigers Abschied vom FC Bayern kommt zum idealen Zeitpunkt. Bei Manchester United erwarten ihn die Rückendeckung des alten Lehrmeisters und eine gewichtige Rolle - wenn ihm der X-Faktor keinen Strich durch die Rechnung macht.

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Torsten Frings fiel mit Kreuzbandriss lange aus, Michael Ballack plagten Knöchelprobleme, Tim Borowski laborierte an einer Außenbanddehnung. Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Wales im September 2007 gingen Joachim Löw die zentralen Mittelfeldspieler aus.

Dann die nächste Hiobsbotschaft: Philipp Lahm, der Plan B für die Sechser-Position, war wegen einer Innenbanddehnung ebenfalls raus aus der Verlosung. Und Notlösung Bernd Schneider war ohnehin gelb-gesperrt. Also musste Löw improvisieren.

Kurzerhand beorderte der Bundestrainer Bastian Schweinsteiger vom Flügel in die Zentrale - und seine Rechnung ging auf. Der damals 23-Jährige übernahm das Kommando im Mittelfeld, erfüllte die Chefrolle tadellos und hatte damit erheblichen Anteil am 2:0-Sieg. Es war das erste Mal, dass Schweinsteiger auf großer Bühne als Sechser ran durfte.

Knapp zwei Jahre später schulte ihn Louis van Gaal mit seinem Antritt beim FC Bayern endgültig zum defensiven Mittelfeldspieler um. In dieser Rolle reifte Schweinsteiger zum Führungsspieler, er wurde einer der Weltbesten seiner Zunft. "Die größte Veränderung bei mir war, dass ich endlich mal auf meiner Lieblings-Position spielen durfte", sagt er rückblickend über die Zeit unter van Gaal.

Der Degradierung vorgebeugt

Im Jahr 2015 sind die beiden nun wieder vereint. Nach 17 Jahren und über 500 Pflichtspielen in Diensten des FC Bayern wechselt Schweinsteiger zu Manchester United. Zu dem Mann, der ihm einst den Weg zur Weltklasse geebnet hat.

Den Zeitpunkt des Wechsels hätte er besser kaum treffen können. Erstmals nach einer schier endlosen Ära als Stammspieler stand Schweinsteiger in München vergangene Saison immer häufiger zur Disposition. Die Konkurrenz auf seiner Position ist gewaltig, die jungen Spieler um Joshua Kimmich und Co. sollen herangeführt werden. Und ohnehin scheint Guardiola nicht der größte Fan des Fußballers Schweinsteiger zu sein.

Mit dem Abschied aus München erspart er sich eine sportliche Degradierung im Herbst seiner Karriere, die mit fortschreitendem Alter wohl Schritt für Schritt fortgesetzt worden wäre.

Darüber hinaus hat er erst in den letzten zwei Jahren seinen eigenen Marktwert noch einmal entscheidend in die Höhe getrieben. Der Gewinn der Champions League 2013 und der Weltmeisterschaft 2014 haben Schweinsteigers Reputation exponentiell gesteigert. Das Stigma des Unvollendeten ist Geschichte. Der 30-Jährige hat fast alle nur denkbaren Titel gewonnen, neue Herausforderungen wurden für ihn in München zur Mangelware.

Van Gaals Protegé

Jene Mischung aus all den erreichten Zielen, einer starken Verhandlungsposition und dem schwindenden Vertrauen von Pep Guardiola lassen den Zeitpunkt des Abschieds absolut sinnvoll erscheinen. Bei United warten neue Herausforderungen, ein mindestens vergleichbares Gehalt und vor allem: Rückendeckung, wie er sie sonst bei keinem Top-Klub bekommen würde.

Van Gaal war einer der wichtigsten Lehrmeister für Schweinsteiger - und dieser einer seiner Lieblingsschüler. Der Niederländer wird seinen Neuzugang nahezu bedingungslos protegieren, solange es dessen Leistungen irgendwie rechtfertigen.

Schweinsteiger wird in Manchester ausreichend Eingewöhnungszeit erhalten, auch wenn er Anpassungsschwierigkeiten haben sollte. Van Gaals Position ist stark genug, um sich gegen mögliche Forderungen der oft vorschnell urteilenden Presse zu erwehren. Zumal die Medien Schweinsteiger ohnehin mit Vorschusslorbeeren empfangen.

Er wird "pures Gold für United sein", glaubt die Sun. Die Times sieht in ihm "genau die Verpflichtung, die United braucht." Er wird gepriesen als "Anführer, Kämpfer, Maestro".

Eine Verstärkung - Zenit hin oder her

Allerdings meldeten sich auch vereinzelt Skeptiker zu Wort. Liverpool-Legende Jamie Carragher kommentierte via Twitter: "Du verlierst deinen besten Spieler (De Gea) & und verpflichtest jetzt einen, der über seinen Zenit ist. Ich könnte nicht glücklicher sein."

Zwar mag Carragher Recht haben, da Schweinsteigers Blütezeit schon zwei Jahre zurückliegt. 2013, als er die Bayern ein Jahr nach dem Drama dahoam in der Champions League zur Wiedergutmachung führte, als ihn Jupp Heynckes als "besten Mittelfeldspieler der Welt" pries.

Seitdem häuften sich die Verletzungen, auch seine Leistungen waren nicht mehr so unheimlich konstant wie im Jahr des Königsklassen-Triumphes. Dennoch kann auch ein 30-jähriger Schweinsteiger zweifellos eine enorme Verstärkung für Manchester United sein.

Schon die bloße Verpflichtung ist ein Statement. United holt einen Weltstar, der alle Titel gewonnen und viele Jahre lang jedes andere Angebot ausgeschlagen hat, einen, der sich in den letzten zwei Jahren auch endgültig die Anerkennung als Führungsspieler erkämpft hat.

Protagonist des nächsten Umbruchs

Darüber hinaus erwartet Schweinsteiger in Manchester eine gewichtige Rolle, wie er sie nicht überall vorfinden könnte. Bei den Red Devils liegt nach der zweiten titellosen Saison in Folge Vieles im Argen. Der Umbruch unter van Gaal ist längst nicht abgeschlossen, vielmehr wird er in der Sommerpause seine Fortsetzung finden. Der umsatzstärkste Verein der Premier League wird auch in diesem Jahr viel Geld in die Hand nehmen.

Mit Memphis Depay (kommt von PSV Eindhoven), Matteo Darmian (FC Turin) und Morgan Schneiderlin (FC Southampton) sind drei große Transfers bereits in trockenen Tüchern, dazu werden zahlreiche weitere Hochkaräter wie etwa Sergio Ramos gehandelt. Fest steht: Es wird viel Bewegung im Kader geben.

Schweinsteiger muss sich also nicht erst in ein fertiges, erfolgreiches Team hineinkämpfen, in dem kein Änderungsbedarf herrscht. Er selbst ist ein Protagonist dieses Umbruchs. Fortan wird van Gaal das Team um ihn herum bauen.

Die Liste derer, die sich vergangene Saison auf Schweinsteigers Position, also neben oder vor dem gesetzten Sechser Michael Carrick, probieren durften, ist lang. Fletcher, Herrera, Blind, di Maria, Mata, Fellaini, Rooney, Young, Cleverley - doch eine Idealkonstellation für die Zentrale wurde nicht gefunden.

Angst vor dem X-Faktor

Vor allem die ständigen Verletzungen des unverzichtbaren Carrick machten deutlich, wie viel Nachholbedarf United auf dieser Position hat. Die Red Devils verloren nur eines der 16 Liga-Spiele, in denen Carrick in der Startelf stand. In den 22 verbliebenen Partien setzte es insgesamt sieben Niederlagen.

Diese Lücke soll Schweinsteiger füllen, sei es auf der Sechs oder etwas offensiver als Achter. Dass er und Carrick viele Spiele gemeinsam bestreiten werden, darf jedoch als Utopie abgetan werden. Beide sind mittlerweile enorm verletzungsanfällig. Carrick verpasste vergangene Saison 21 Partien aufgrund von Verletzungen, Schweinsteiger sogar 22. Auf langfristige Besserung braucht man wohl bei keinem der beiden zu hoffen. Doch läuft alles "normal", dürfte stets zumindest einer der beiden zur Verfügung stehen.

Es wird von entscheidender Bedeutung für Schweinsteiger sein, ob er seine Probleme mit Sprunggelenk und Patellasehne halbwegs in den Griff bekommt. Sie sind der unberechenbare X-Faktor und könnten somit zur größten Hürde auf seiner neuen Station werden, nicht etwa das oft thematisierte hohe Tempo der Premier League, das ähnliche Spielertypen wie Steven Gerrard und Frank Lampard in weitaus höherem Alter noch mitgehen konnten.

Darüber hinaus bleibt abzuwarten, wie die bisherigen Leitwölfe damit zurechtkommen werden, wenn plötzlich ein gänzlich neuer Spieler mit Führungsanspruch die Hierarchie durcheinanderwirbelt. Es wird an van Gaal sein, in der Führungsstruktur für klare Verhältnisse zu sorgen. Doch dessen Vertrauen wird in Manchester kaum jemand sicherer haben als Neuzugang Schweinsteiger.

Bastian Schweinsteiger im Steckbrief

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