Mehr Chamäleon als Systemtrainer

Lucien Favre steht seit Februar 2011 an der Seitenlinie von Borussia Mönchengladbach
© getty

Lucien Favre hat Borussia Mönchengladbach aus dem sicher geglaubten Abstieg in die Champions League geführt. Die Spielidee des Schweizers ist einzigartig und nicht weniger kompliziert als er selbst, die Defensive der Fohlen trotz einfachster Grundregeln kaum zu überwinden. Aber hat Favre auch die richtigen Mittel für die Königsklasse?

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Lucien Favre ist vieles, aber nicht greifbar. Seit er Borussia Mönchengladbach im Februar 2011 übernommen hat, ist seine Person umgeben von Geschichten, Erzählungen und Mythen.

Vom Fußball-Professor ist die Rede, der seine Spieler mit minimalen Umstellungen zu maximalen Fortschritten führt. Von Marco Reus' Fußstellung beim Dribbling und Tony Jantschkes Verhalten bei Flanken. Vom irren Tüftler, der sich in dunkler Kammer bis zur Erschöpfung mit Analysen und Studien des Gegners beschäftigt, aber nie im Stadion scoutet. Auch von der Diva, die sich in Bezug auf einen Transfer gerne zwei oder auch drei Mal umentscheidet und die ihren Rücktritt intern nicht erst einmal anbot.

Einiges davon mag wahr sein, einiges falsch. Sicher ist, dass Favre der erfolgreichste Trainer der jüngsten Gladbacher Vereinsgeschichte ist. Nach 37 Jahren hat der Schweizer den VfL wieder in die Champions League geführt und weckt Erinnerungen an längst vergessene Erfolge. Die Mittel, mit denen er die Mannschaft auf ein solches Leistungsniveau gehoben hat, sind ebenso diffizil wie Favre selbst. Besonders, weil sie sich innerhalb einer Saison mehrfach ändern können.

Favres Idee geht weiter

"Wenn eine erfolgreiche Mannschaft Konter spielt, wollen wir auch Konter spielen. Und wenn dann ein Jahr später eine andere Mannschaft mit viel Ballbesitz Titel gewinnt, wollen plötzlich alle diese andere Spielidee kopieren. Das ist nicht meine Sache", entgegnete Favre in einem Interview mit Spiegel Online auf die Frage, ob die Zeiten des auf Ballbesitz ausgelegten Fußballs vorbei seien. Real Madrid hatte gerade Bayern München mit berauschenden Tempogegenstößen aus der Champions League befördert. Tatsächlich liegt es Favre mehr als fern, Systeme oder Taktiken zu adaptieren - im Gegenteil.

Favres Spielidee in Gladbach geht sehr viel weiter. "Wir können heute nicht sagen, Gladbach ist kontergefährlich, oder ist nach Balleroberung gefährlich, oder spielt einen Fußball, der auf Ballbesitz angelegt ist. Wir versuchen, all diese Elemente zu beherrschen und dann in den richtigen Spielsituationen das richtige Mittel zu wählen", erklärt der Trainer weiter. Wer sich ein Spiel der Borussen über 90 Minuten anschaut, wird schnell erkennen, dass es nicht bloß beim Versuch bleibt.

Gladbach kann alles

Wie denn die Chancen für den Endspurt um die Europa League wären, wurde Viktor Skripnik gefragt und entgegnete, dass man noch "die aktuell beste Mannschaft Deutschlands" zu Gast hätte und sollte zum Leidwesen aller Bremer in seiner Aussage bestätigt werden. 2:0 gewann eine überlegene Borussia in einem Spiel, in dem sich die Marschroute mehrfach änderte.

Gladbach kann den Ball laufen lassen, geduldig die Lücke in der Abwehr des Gegners suchen und dann blitzschnell umschalten wie beim 1:0, Gladbach kann Gegenpressen und den Gegner zu Fehlern zwingen wie beim 2:0, Gladbach kann aber auch in einer tiefen Grundaufstellung sicher stehen und dann überfallartig kontern wie beim 2:0-Sieg in München.

Genau dieses variable Spiel macht die Borussia so gefährlich und unangenehm. An der Defensive beißen sich auch die besten Sturmreihen der Liga die Zähne aus. Bayern gelang in 180 Minuten kein Tor gegen Gladbach, Leverkusen, Wolfsburg, Schalke und Dortmund erzielten in der Rückrunde zusammen zwei mickrige Treffer gegen Favres Abwehr-Verbund.

Pressing nur mit Sinn

Dabei ist die defensive Grundausrichtung in Favres Spiel längst kein Geheimnis und hat sich seit seinen Stationen in Zürich oder Berlin zwar kontinuierlich, aber nur partiell verändert und verbessert. Die wichtigste Regel: Das Zentrum ist dicht. Dringt der Gegner in die Hälfte der Fohlen ein, rücken die Außenspieler mit ein und die abkippenden Sechser sichern die möglichen Schnittstellen durch die Viererkette. So bietet Gladbach dem Gegner zwar die Außen an, fühlt sich gegen Flanken und Hereingaben mit kopfballstarken Innenverteidigern aber gut gewappnet.

Ein weiterer Schlüssel ist die Disziplin. Am Niederrhein kennt jeder Spieler seine Aufgabe und sein Verhalten in jeder Situation genau. Dass die Verteidigung bereits beim Mittelstürmer beginnt, ist in Gladbach keine hohle Phrase, sondern Realität. Allerdings rennt kein Borusse seinen Gegenspieler in der gegnerischen Hälfte blind an. Bietet sich keine Möglichkeit, dem ballführenden Spieler gleichzeitig seine naheliegenden Anspielstationen auf beiden Seiten zuzustellen, verzichten die Fohlen auf die unnötigen Meter und sparen sich die Kräfte.

Der Schlüssel zur Geduld

Aus einem solchen Bollwerk heraus fällt es Gladbach viel leichter, die nötige Geduld für sein Spiel aufzubringen. Wer kaum Angst hat, hinten in Rückstand zu geraten, hat 90 Minuten Zeit für einen eigenen Treffer. Noch deutlicher wird das neue Selbstverständnis am Niederrhein, wenn die Borussia in einem Spiel in Führung geht und den Gegner mit ihrem kräfteraubenden Spiel zermürbt, gleichzeitig aber auch immer damit droht, die Entscheidung schnell mit einem Konter herbeiführen zu können, wenn sich der Gegner zu weit vorlehnt.

Kein Team traf in der Rückrunde so häufig in der Schlussviertelstunde wie die Borussia, nicht selten sprangen dabei entscheidende Punkte im Kampf um die direkte CL-Qualifikation heraus, wie beim 1:0 gegen Köln, dem 1:0 gegen Wolfsburg oder dem 2:1 in Berlin.

Gladbachs Spielweise ist ermüdend für den Gegner und gleicht einem Dauerlauf mit Zwischensprints. Während die Fohlen, die den Ball meist zu 60 bis 70 Prozent kontrollieren, sich die Kugel zuschieben, laufen die Gegenspieler hinterher und stellen Räume zu.

Verschärft Gladbach dann das Tempo, ist es oft nicht möglich, den schnellen Außensspielern wie Patrick Herrmann oder Ibrahima Traore noch hinterherzusetzen. Zudem kann Favre von der Bank immer noch mit nicht weniger temporeichen Spielern der Marke Andre Hahn oder Thorgan Hazard nachbessern und den Gegner so dauerhaft unter Druck zu setzen.

Ein Landsmann als Dirigent

Den Taktstock im Mittelfeld der Fohlen führt spätestens seit dieser Saison ganz klar Granit Xhaka. Favres Landsmann hat das richtige Gespür für die Spielsituation, nimmt Tempo raus, wenn die Passwege zu sind, verlagert aus dem Stand, wenn eine Seite dicht ist, und spielt Diagonalbälle und Steilpässe auf Gladbachs startende Flügelspieler, wie es in der Bundesliga nicht viele Spieler können.

Für Favre ist der 22-Jährige freilich nur ein Mosaikstein eines funktionierenden Ganzen, auch wenn auch dem Trainer klar sein müsste, welch großen Anteil er an der Entwicklung Xhakas hat. Stars gibt es im System Favre nicht. Nicht auf dem Platz, nicht neben dem Platz, wie der Schweizer gegenüber Westfälische Nachrichten erklärte: "Ganz allein machst du nichts. Du brauchst Kompetenz um dich herum. Ich bin eine Ergänzung zu anderen, eine gute Ergänzung."

Xhaka zahlt das Vertrauen zurück

Am Verbleib Xhakas, der in Gladbach keinen leichten Start hatte, ist auch Favre nicht unschuldig, der gegenüber dem Neuzugang aus Basel immer mit offenen Karten spielte. "Ehrlichkeit ist für mich eine der wichtigsten Qualitäten eines Trainers. Du musst den Mut haben, einem Spieler rechtzeitig zu sagen 'Ich plane nicht mehr mit Dir, es ist besser, wenn Du gehst'. Selbstverständlich ist das keine angenehme Situation, aber anders geht es nicht'", beschrieb Favre seine Devise gegenüber bundesliga.de.

Xhaka wusste die Offenheit seines Trainers zu schätzen und hielt der Borussia die Treue, wohlwissend, dass er auf Favres Wort, er würde in der Zukunft zu einem Schlüsselspieler werden, vertrauen konnte. Erst kürzlich gab der Antreiber dieses Vertrauen erneut zurück, verlängerte seinen Vertrag und verkündete offiziell, Gladbach auf keinen Fall in der kommenden Saison zu verlassen.

Was plant Favre 2015/16?

Es ist gut möglich, dass Gladbach schon in der folgenden Spielzeit wieder einen anderen Fußball spielt. Favre ist kein Sturkopf, der stringent an einem System festhält, unabhängig davon wie die Situation der Mannschaft ist und wen die Borussia als Gegner erwartet.

Vielmehr hat er stets im Blick, wie es aktuell um sein Team beschaffen ist, und ist in der Lage, sich und seine Elf entsprechend anders aufzustellen. Er hört hin, er beobachtet, er setzt um. Als die Elf vom Niederrhein zu Beging der Saison eine englische Woche nach der anderen absolvieren musste, rotierte der Coach aufgrund der Doppelbelastung von Spiel zu Spiel auf im Schnitt fünf Positionen. Zwischen dem 27. und 33. Spieltag nahm Favre hingegen maximal eine Veränderung an der Startelf vor.

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Auch der Fußball war weniger auf Ballbesitz ausgelegt, als er es jetzt ist, sondern vielmehr auf eine sichere Defensive mit geringem Kraftaufwand. Die einzigen Spieler, die auch schon in der Anfangsphase der Saison ein ähnliches Pensum abspielen mussten wie derzeit, waren die Flügel, die Favre fast nie in zwei aufeinanderfolgenden Spielen auf den Platz schickte. Darüber hinaus muss man auch abwarten, welche Verstärkungen Max Eberl seinem Trainer für das Abenteuer Champions League 2015/2016 zur Verfügung stellt.

Klar ist nur: Favre wird einen Weg finden. So wie er ihn 2011 fand, als er eine daniederliegende Mannschaft von Michael Frontzeck übernahm. So wie er ihn 2012 fand, als mit Dante, Reus und Neustädter drei Stützen seiner Mannschaft wegbrachen. So wie er ihn fand, als Gladbach der ungewohnten Doppelbelastung ausgesetzt war.

Über diese hat er sich ohnehin nie beschwert: "Es gefällt uns, dreimal in der Woche zu spielen. Nur so wird auch in Europa wieder über uns geredet." In Deutschland hat er das längst geschafft, jetzt wagt er mit Gladbach den ersten Tanz auf der ganz großen Bühne.

Borussia Mönchengladbach im Überblick