Balance statt Hurra-Fußball

Von Daniel Reimann
Markus Gisdol führte 1899 Hoffenheim an die Tabellenspitze
© getty

Der Hoffenheimer Hurra-Fußball ist Geschichte: 1899 feiert einen historischen Saisonstart - weil Traner Markus Gisdol an den richtigen Stellschrauben gedreht hat. Doch die Vergangenheit dient als mahnendes Beispiel: Fehleinschätzungen können tödlich sein.

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Nicht ein Einziger traute sich. Auch nach dem Sieg gegen Schalke wollte man in Hoffenheim tunlichst jegliche Kampfansagen vermeiden. Bayern-Verfolger? Nicht mit uns! Eine Spitzenmannschaft? Noch lange nicht. "Das möchte jetzt natürlich jeder schreiben, aber das lassen Sie mal weg", so die liebevolle Empfehlung von Trainer Markus Gisdol an die Journalisten.

Nur einer ging vorsichtig scherzend einen Schritt weiter. Pirmin Schwegler betonte zunächst, auf die Tabelle "schauen wir nicht so sehr" - auch wenn man ihm das angesichts der aktuellen Konstellation kaum abnehmen mag. Aber man könne über die Tabellensituation sprechen, "wenn wir kurz vor der Meisterschaft stehen, also am vorletzten Spieltag", witzelte er laut "RNZ".

Doch trotz der leicht identifizierbaren Ironie wollte Schwegler auf Nummer sicher gehen. "Bitte nicht schreiben", bat er die Journalisten scherzhaft. "Sonst krieg' ich einen auf den Deckel".

Bester Saisonstart der Klubgeschichte

Bescheidenheit ist dieser Tage oberste Maxime in Hoffenheim. Bei der TSG will man vorlaute Ansagen unbedingt vermeiden, stattdessen Taten sprechen lassen. Letzteres klappt in der noch jungen Saison bislang hervorragend. 1899 ist nach dem 7. Spieltag noch immer ungeschlagen - der beste Saisonstart der Vereinsgeschichte.

Nachdem sich der Klub in der vergangenen Saison vom Beinahe-Abstieg erholt und im Mittelfeld der Liga sportlich konsolidiert hatte, hat Gisdol über die Sommerpause offensichtlich an den richtigen Stellschrauben gedreht.

Offensiv bot Hoffenheim schon in der vergangenen Saison ansehnlichen Fußball, bisweilen ein wahrhaftiges Torspektakel. Doch die Defensive krankte gewaltig, in der Rückwärtsbewegung beging das Team teils verheerende Fehler. Das hatte zur Folge, dass Hoffenheim selbst nach klaren Führungen, Spiele noch aus der Hand gab. Eine Führung verwalten, den Sieg souverän nach Hause bringen? Das funktionierte nur selten.

Am Ende stand ein Torverhältnis von 72:70, ein Rückblick auf viele spektakuläre Partien und die Frage: Wie kann man die Defensive stabilisieren, ohne die Offensive zu lähmen? Gisdol fand eine Antwort.

Endlich eine stabile Defensive

Der 1899-Trainer hat an den richtigen Stellschrauben gedreht. Zumindest deutet der bisherige Saisonverlauf vehement darauf hin. "Wir haben unglaublich stabil gespielt", schwärmte er nach dem Schalke-Spiel. Zwar kam S04 durch einen Einzelaktion durch Klaas-Jan Huntelaar noch zum Anschluss, doch gefährdet war der Sieg der TSG nie. Huntelaars Treffer war Schalkes einziger Torschuss in der zweiten Halbzeit.

Tatsächlich steht Hoffenheim gerade defensiv deutlich besser da als in der vergangenen Spielzeit. Letztes Jahr hatten die Kraichgauer nach dem 7. Spieltag sage und schreibe 18 Gegentore auf dem Konto. Diese Saison sind es derer sechs - der drittbeste Wert der Liga.

Mittlerweile können die Hoffenheim-Fans auch nach einer Führung ihres Klubs ruhig bleiben. Nur gegen Wolfsburg setzte es noch den unglücklichen Ausgleich durch Ivica Olic. Dass es gegen Schalke trotz des späten Rückschlags durch den Hunter nicht mehr spannend wurde, deutet auf Besserung hin. "Letzte Saison hätten wir das Spiel wahrscheinlich noch hergegeben", gab Kevin Volland zu.

Doch in der aktuellen Spielzeit hat Gisdols Team endlich an defensiver Stabilität gewonnen. Die Mannschaftsteile arbeiten besser zusammen, die Abstimmung funktioniert. Das Umschaltspiel nach Ballverlust gleicht längst nicht mehr einem heillosen Durcheinander, sondern verläuft koordinierter und konzentrierter.

Hoffenheims Zweikampfkönige

"Wir verteidigen als Mannschaft viel konsequenter, viel souveräner", erkannte auch Manager Alexander Rosen. Dabei funktioniert Hoffenheim in dieser Saison auch als Team beeindruckend gut. Mit 152 erfolgreichen Tacklings liegt 1899 laut OPTA in diesem Ranking an der Spitze.

Und in den Top 10 der zweikampfstärksten Spieler finden sich mit Ermin Bikakcic (75 Prozent, Platz 2), Niklas Süle (72,8 Prozent, Platz 5) und Yannik Vestergaard (71,4 Prozent, Platz 7) gleich drei Hoffenheimer. Das kollektive Defensivkonstrukt wird getragen durch individuell besonders zweikampfstarke Abwehrspieler.

Doch weitaus bemerkenswerter ist, dass die unübersehbaren Fortschritte im Defensivverhalten nicht entscheidend zulasten der Qualität im Angriffsspiel gingen. Das direkte Kombinationsspiel funktioniert noch immer prächtig, wie die Partie gegen Schalke unlängst bewies. Nur Bayern und Gladbach haben bislang mehr Großchancen kreiert als 1899. Besonders Roberto Firmino strahlt ständig Gefahr aus: Mit 21 Torschüssen steht auf auf Platz fünf aller Bundesligaspieler.

Die perfekte Mischung

Dass den Brasilianer derzeit noch Ladehemmung plagt (erst ein Tor), fällt kaum ins Gewicht. Denn in dieser Saison dreht einer auf, der vergangene Spielzeit noch als Chancentod verschrien war: Tarik Elyounoussi ist mit vier Treffern Hoffenheims bester Schütze und derzeit in Hochform.

Die Anlaufschwierigkeiten sind passe. Laut Rosen hatte er selbst einst über sich gesagt: "Ich bin wie eine Ketchup-Flasche: Du haust ständig drauf, es kommt erst mal nichts. Und dann kommt alles auf einmal." Und so kam es tatsächlich.

Dank Elyounoussi kann 1899 die bisher mangelnde Torausbeute seiner letztjährigen Topscorer Firmino und Volland problemlos kompensieren. Spektakel braucht es nicht mehr, sondern vielmehr die richtige Balance aus defensiver Stabilität und zielstrebigem Offensivfußball. "Wir sind hinten stabil und spielen vorne klasse", schwärmt Volland vom neuen Hoffenheimer Spielstil. Tatsächlich scheint Gisdol mittlerweile die optimale Mischung gefunden zu haben.

Aus Fehlern gelernt

Dennoch erwehren sich die Verantwortlichen jeglicher Euphorie - oder gar der Rolle als Bayern-Jäger. "Wir sehen uns nicht als Bayern-Verfolger", stellte Volland klar. Die Vergangenheit hat Hoffenheim gelehrt, wie tief man fallen kann und welch verheerende Folgen Fehleinschätzungen des eigenen Potenzials bewirken können.

2008 wurde die TSG als Aufsteiger spektakulär Herbstmeister, gewann in der Rückrunde aber nur noch vier von 17 Spielen und wurde letztlich Siebter. Ein hervorragendes Resultat für einen Liga-Neuling, doch der Fall von der Spitze raus aus den Europacup-Rängen war dennoch beträchtlich.

Vier Jahre später wähnte sich Hoffenheim als Europa-League-Anwärter und verweigerte sich so lange der Realität, bis der Abstieg unmittelbar bevorstand. Gisdol übernahm als letzter Hoffnungsträger, bewahrte Team und Verein vor dem Worst Case. Übrig blieb die wertvolle Erkenntnis, wie gefährlich überzogene Selbsteinschätzung sein kann.

So vermeidet Hoffenheim selbst jegliche Kampfansagen, die den Verantwortlichen später noch um die Ohren fliegen könnten. "Wir sind sensibilisiert, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen", schwor Andreas Beck. Und Trainer Gisdol brachte es auf den Punkt: "Im Erfolg machst du die größten Fehler."

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