Meisterkandidat Hertha: Warum nicht?!

Von Für SPOX in Berlin: Florian Bogner
Andrej Woronin schoss die Hertha mit seinen Saisontore fünf und sechs an die Spitze
© Getty

Heimlich, still und leise hat sich die Hertha die Tabellenführung der Bundesliga erschlichen. Von Meisterambitionen will man in Berlin nach dem 2:1 über den FC Bayern nichts wissen - dabei gibt es ein paar handfeste Gründe, die Hertha doch auf der Rechnung zu haben.

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Andrej Woronin hielt in den letzten Spielminuten nichts mehr auf der Bank. Der ausgewechselte Hertha-Stürmer zappelte an der Seitenlinie umher, fragte den vierten Offiziellen mehrmals nach der Nachspielzeit und ging dabei sogar seinem eigenen Coach auf die Nerven.

Woronin: "Beste Leistung des Jahres"

Nach zähen Minuten des Wartens beendete Schiedsrichter Florian Mayer endlich die Partie. Woronin zündete ein letztes Mal seinen Turbo und knuddelte jeden Kollegen, der ihm über den Weg lief. Die Hertha-Spieler und ihre Tribüne feierten, als habe man gerade die deutsche Meisterschaft gewonnen.

Soweit ist es freilich noch nicht - doch dank zweier Woronin-Tore hat die Hertha immerhin schon mal die Tabellenspitze der Bundesliga erobert. Und hat durchaus das Zeug dazu, dort zu bleiben.

"Das war sicher die beste Leistung des Jahres. Gegen Bayern zu gewinnen ist etwas ganz Besonderes", sagte Woronin. "Ich habe schon lange keinen Doppelpack mehr erzielt. Dass es gegen die Bayern gelungen ist - umso schöner."

Woronin kündigt große Sause an

Woronins anschließender Gruß an die Berliner Unterhaltungsgastronomie: "Heute Abend wird ordentlich gefeiert." Dieter Hoeneß genoss den Sieg, zu viel Euphorie ist dem Hertha-Manager aber zu wider.

"Wir sind sicher kein ernsthafter Titelkandidat. Es gibt Mannschaften, die besser besetzt sind als wir, das hat man auch gegen die Bayern gesehen. Aber wir haben uns erstmal festgesetzt", sagte Hoeneß.

Bruder Uli sah das anders. Klar habe die Hertha das Zeug zum Meisterschaftskandidaten, meinte der Bayern-Manager auf Nachfrage von SPOX. Und: "Wenn ich den Titel einem gönne, dann meinem Bruder." Nichtsdestotrotz werde der FC Bayern am Ende des Jahres oben stehen, so Uli Hoeneß.

Darüber kann man allerdings spätestens seit diesem Nachmittag in Berlin geteilter Meinung sein. Fakt ist: Der Kreis der Meisterschaftsanwärter hat sich in den drei Rückrundenspielen von zwei - Bayern und Hoffenheim - auf fünf erweitert.

Hamburg, Leverkusen und eben Berlin haben mit ihren Siegen über den FCB (HSV/Hertha) und Hoffenheim (Bayer) eindrucksvoll bewiesen, dass mit ihnen zu rechnen ist. Die Hertha hat als einziges Team des Quintetts mindestens einmal gegen die anderen vier gewonnen.

Favre platzt fast vor Stolz

Dass die Ausgeglichenheit an der Tabellenspitze die Hertha nun nach oben gespült hat, ist also kein Zufall. Wie viel Genugtuung der oft gescholtenen Hertha der Sprung auf Platz eins verschaffte, war Trainer Lucien Favre auf der Pressekonferenz anzumerken.

Der Coach platzte fast vor Stolz und war sichtlich ergriffen ob der Leistung seiner Mannschaft. "Das ist der schönste Moment, seit ich in Berlin bin. Es ist fantastisch", meinte der Schweizer und schob artig andere als "Hauptschuldige" für den Höhenflug vor: "Die Spieler sind das Geheimnis unseres Erfolges." Pures Understatement.

Die Hertha zeichnet dieser Tage aus, auf jeden Gegner optimal vorbereitet und mit der richtigen Taktik beseelt zu sein - und daran hat der Coach entscheidenden Anteil.

Des Gegners Stärken erkennen und ausschalten

Von den fünf Spitzenteams der Liga ist keines taktisch so flexibel wie die Berliner. Zum einen kann Favre sein Team ohne große Umgewöhnungsphasen in vier verschiedenen Systemen agieren lassen (4-4-2, 3-5-2, 4-2-3-1, 4-3-1-2), die fast immer auf den Gegner ausgerichtet sind.

Während Klinsmann, Labbadia und Co. auf die eigene individuelle Stärke vertrauen und fast immer dieselbe Grundausrichtung wählen, ist Favre meist einen Schritt weiter.

Gegen den FC Bayern bedeutete dies, mit einer "flachen Vier" im Mittelfeld aufzuwarten und so dem Bayern-System mit Doppel-Sechs positionsgetreu gegenüber zu stehen. Der Unterschied: Die Hertha überließ den Bayern bewusst den Ball, zog sich weit zurück und setzte vorne dafür gezielte Nadelstiche durch den agilen Woronin.

Die Stärken des Gegners erkennen und ausschalten ist eine weitere Spezialität der Herthaner. Heißt im Fall Bayern: Ribery muss gestoppt werden. Bei Ballbesitz der Bayern rückte Marc Stein dem Franzosen derart auf die Pelle.  

Entschied sich Ribery, auf dem Flügel zu bleiben, kam Patrick Ebert zu Hilfe und doppelte. Zog Ribery in die Mitte, war Pal Dardai zur Stelle. Ribery wurde so fast 90 Minuten kaltgestellt und schaffte es nur, eine Handvoll brauchbare Offensivaktionen zu lancieren.

Berlin gewinnt die engen Spiele

Berlin schaffte es so mit einfachen Mitteln - Kompaktheit, schnelles Verschieben, viel Laufarbeit - den Gegner lange in Schach zu halten.

Das zweite Faustpfand der Hertha: Die exzellente Chancenverwertung. Auch hier ist die Hertha der Konkurrenz voraus. 36 Prozent aller Großchancen hat der neue Tabellenführer verwertet - das ist Ligaspitze. Gegen Bayern brauchte Woronin für seine beiden Tore genau zwei Torschüsse.

Zudem haben die Berliner in Jaroslav Drobny einen überragenden Torhüter. Während Michael Rensing, Timo Hildebrand und Rene Adler schwächeln, treibt Drobny mit seinen Paraden Woche für Woche Punkte für die Hertha ein.

Neben der Heimstärke (acht Siege in Folge) ebenfalls auffällig: Die Hertha gewinnt die engen Spiele, normalerweise ein Privileg der Bayern. Neun der zwölf Saisonsiege fuhr Berlin mit nur einem Tor Unterschied ein, das 2:1 ist so was wie das Standardergebnis der Hauptstädter (fünfmal).

Härtetests in Cottbus, Köln und Karlsruhe

Was den Berlinern noch fehlt: Das Rezept, gegen defensive Gegner auswärts zu bestehen. Zuletzt reichte es in Bielefeld nur zu einem 1:1, mit Cottbus, Hannover, Köln und Karlsruhe stehen in den restlichen 14 Spielen ähnliche Aufgaben an. So banal es klingen mag: Dort erwartet die Meistertauglichkeit der Berliner der größte Härtetest.

Dieter Hoeneß wird noch nicht so weit denken, auch wenn er sagt: "Wir sind weiter, als ich gedacht habe." Das Saisonziel bleibe weiter ein UEFA-Cup-Platz, aber "wenn es mehr wird, werden wir uns sicherlich nicht wehren".

Von seinem Meistertipp wollte sich der Manager dennoch nicht abbringen lassen. Hoeneß: "Lucien Favre hat auf Hoffenheim als Meister getippt, ich auf die Bayern. Einer von beiden wird es wohl werden."