Markus Merk im Karriere-Interview: Tragödie um Foe? "Mein erster Gedanke war: Der lebt nicht mehr"

Von Philipp Schmidt
Markus Merk war einer der besten Schiedsrichter der Welt.
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Wie sah es denn bei den Einsätzen in der Champions League aus, wie konnten Sie die in Ihre Arbeitswoche integrieren?

Merk: Mein gesamter Jahresurlaub ging für Fußball sowie meine humanitären Projekte in Indien, die ich 1991 startete, drauf. Wenn mittwochs ein Champions-League-Spiel anstand, ging es Dienstagmittag von der Praxis an den Frankfurter Flughafen. Um 11 Uhr am Donnerstag war ich zurück und freitags ging es mit der Bundesliga weiter. Das muss man schon wollen und auch können. In den letzten Jahren hatte ich schließlich eine Praxisgemeinschaft, da ich wollte, dass sie läuft, wenn ich nicht da bin.

Was hat es genau mit dem Engagement in Indien auf sich?

Merk: Ich war schon als Messdiener begeistert von Menschen, die in der Dritten Welt gearbeitet haben und zu uns in die Kirche gekommen sind. Eines Tages saß ich in der Praxis und erinnerte mich daran, dass ich mir diesen Wunsch noch immer nicht erfüllt hatte. Ich blätterte so durch die Zeitschriften und sah, dass jemand für Indien gesucht wurde. Das wäre ohnehin meine Präferenz gewesen. Zwei Wochen später sagte ich zu meinem Chef: In sechs Wochen bin ich weg.

Und haben das in die Tat umgesetzt?

Merk: Klar. In der Nacht des Beginns des Golfkrieges im Januar 1991 flog ich nach Süd-Indien und habe 35 Kinderheime mit 2.500 Kindern zahnärztlich versorgt. Das tat ich mehrere Jahre, 1993 fing ich auch mit eigenen Projekten an. Mit meinem Verein Indienhilfe Kaiserslautern haben wir drei Kinderdörfer, fünf Schulen, elf Waisenhäuser und Altenheime. Zunächst half ich als Zahnarzt, später kam die Organisation in Verbindung mit der Praxis und der Schiedsrichtertätigkeit hinzu. Das hat zwar nicht jedem gefallen, aber für mich war alles wichtig. Entscheidend ist, den Hebel umlegen zu können. Man darf nicht auf den Platz gehen und denken: Diese ganzen Sprüche vonwegen ein Spiel auf Leben um Tod - was für ein Schwachsinn! Entscheidend ist es in Indien. Dann kannst du nur Fehler machen.

Markus Merk: Statistiken seiner Schiedsrichter-Karriere

WettbewerbSpieleGelbe KartenRote/Gelb-Rote KartenElfmeter
Bundesliga338125777100
2. Liga852762119
Champions League49166176
EM-/WM-Quali248662
DFB-Pokal238085
UEFA-Cup153154
EM63125
WM52501

Wie nahmen Sie als Schiedsrichter die mit der Zeit stark zunehmende mediale Begleitung des Fußballs wahr?

Merk: Als ich 1988 in die Bundesliga kam, ging es gerade los mit der Sendung ran, in der alle Spiele gezeigt wurden. Live-Übertragungen gab es nicht von allen Plätzen, von einigen Partien war überhaupt nichts zu sehen. Als ich in meinen ersten Jahren Juventus Turin gegen Manchester United leitete und einen Tag später nach Hause kam, fragte man mich, wie das Spiel war. Keiner hatte auch nur eine einzige Szene gesehen.

Auch die Bewertung Ihrer Leistungen wurde dann häufiger vorgenommen.

Merk: Wenn einer schrieb, dass der Merk einen Fehler gemacht hat, dann haben das alle übernommen und wurde zur Tatsache. Insbesondere in der Champions League wurde mit der Zeit jeder Schritt beobachtet. Eigentlich geht das aber schon vor 100 Zuschauern in der E-Jugend mit den Eltern los und endet dann bei einem Spiel zwischen Uruguay und Argentinien vor über 100.000 in Montevideo. Da brennt der Baum, aber das willst du ja auch. Daran wächst man als Schiedsrichter.

Apropos Argentinien: Im August 2005 stellten Sie den 17-jährigen Lionel Messi bei seinem Länderspieldebüt nur 44 Sekunden nach seiner Einwechslung mit Rot vom Feld. Wie erinnern Sie sich?

Merk: Er wurde bei seiner ersten Ballaktion gehalten, schlug nach hinten aus und traf seinen Gegenspieler am Hals. Das geschah im Affekt. Gelb wäre auch vertretbar gewesen. Meine Linie war aber immer, konsequent zu sein - egal, ob in der ersten oder letzten Minute, in einem EM-Finale oder Freundschaftsspiel. Vielleicht half es Messi sogar dabei, später so häufig zum Weltfußballer gewählt zu werden, weil durch ein solch einschneidendes Erlebnis bereits in jungen Jahren ein Lernprozess eingesetzt hat.

In Ihrer gesamten Zeit als Schiedsrichter gab es viele Höhepunkte für Sie. Wie sind Sie denn mit den schwereren Phasen umgegangen?

Merk: Mein Freund Fritz Walter hat mich Demut gelehrt. Auch nach einer guten Leistung kannst du schließlich eine Woche später wieder einen auf den Deckel kriegen. Ich wurde in den Neunzigern trotz guter Leistungen für viele Dinge nicht berücksichtigt, weil die Älteren vielleicht eher dran waren. Dass irgendwann ein Champions-League-Finale kommt, war mir aber seit 1997 klar.

Beckham, Zidane, Messi und Co.: Merk leitete Spiele zahlreicher Legenden.
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Beckham, Zidane, Messi und Co.: Merk leitete Spiele zahlreicher Legenden.

Merk in seinen besten Jahren: "Sicher, dass alles laufen wird"

Trotzdem dauerte es dann noch sechs Jahre, ehe es dazu kam.

Merk: Ich war bereits im Pool für die WM 1994 in den USA. Doch da wäre ich erst 32 Jahre alt gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich international noch weiterentwickeln kann. Ich wusste, dass ich es mir spätestens ab 2000 nur selbst kaputtmachen könnte, um ignoriert zu werden. Konstanz war meine große Stärke, daher war ich total entspannt. Es folgten meine besten Jahre. Vor mir gab es keinen, der zwei EMs oder WMs gepfiffen hatte. Dreimal Weltschiedsrichter zu werden, war für mich das Größte, weil man von neutralen Personen aus über hundert Nationen ausgezeichnet wird. Da geht man dann ins Spiel und ist sich sicher, dass das heute alles laufen wird.

2000 pfiffen Sie bei der EM das Eröffnungsspiel und ein Halbfinale, 2002 waren Sie bei der WM dabei und leiteten 2004 als bisher einziger deutscher Schiedsrichter ein EM-Finale. 2003 kam das erste Champions-League-Finale hinzu. Wieso bezeichneten Sie dieses anschließend als etwas ganz Besonderes?

Merk: Mein Papa hatte akzeptiert, dass ich Schiedsrichter werde. Ihm wäre es aber lieber gewesen, wenn ich Fußball gespielt hätte. Als ich mich mit 14 endgültig für die Schiedsrichterei entschied, hatten wir ein Jahr lang Streit. 1977 saßen wir dann gemeinsam vor dem Fernsehen und guckten das Finale der Landesmeister zwischen Gladbach und Liverpool. Wenn ich so ein Spiel mal pfeife, lade ich dich ein, sagte ich zu ihm. In diesem Moment hat er zum ersten Mal seit einem Jahr wieder gelacht. 2003 wurde an einem Montag öffentlich - ich wusste es schon eine Woche vorher - dass ich das Finale im Old Trafford pfeifen werde. Ich hatte übers Wochenende schon alles besorgt, bin in der Mittagspause zu meinem Elternhaus gegangen, habe in die Tasche gegriffen und gesagt: Papa, ich habe es dir vor 26 Jahren versprochen: Hier sind das Flugticket und die Karte für Manchester. Das war mein persönliches Highlight, weil ich ein hoch emotionaler Mensch bin.