Alles im Fluss mit Cruyff und Voetbal total

Von SPOX/Andreas Renner
Johan Cruyff im WM-Vorrundenspiel 1974 gegen Uruguay, das die Niederlande mit 2:0 gewannen
© Imago

Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2, 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.

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Bevor Johan Cruyff kam, war der holländische Fußball international bedeutungslos. Und damit meine ich: total bedeutungslos.

Erfolge der Vereinsmannschaften in den internationalen Wettbewerben gab es nicht und die Nationalmannschaft hatte sich für kein einziges wichtiges Turnier qualifiziert. In den sechs Jahren zwischen 1949 und 1955 gewann das Nationalteam gerade einmal zwei(!) von 27 Spielen.

Im November 1964 gab Cruyff sein Debüt für Ajax Amsterdam, den Klub, bei dem seine Mutter als Putzfrau arbeitete. Als er zehn Jahre später ging, hatte Ajax sechs Meisterschaften gefeiert, vier Mal den holländischen Pokal geholt und vor allem zwischen 1971 und 1973 drei Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewonnen.

Und die Nationalmannschaft stand kurz davor, das Finale der WM 1974 zu erreichen.

Rinus Michels legte die Basis

Cruyff ist bis heute das Aushängeschild des niederländischen Fußballs geblieben. Er war genau der Spieler, den sein Mentor und Trainer Rinus Michels brauchte, um seine Idee vom Fußball umsetzen zu können.

Michels hatte unter den englischen Trainern Jack Reynolds und Vic Buckingham gelernt, die bei Ajax die Grundlage legten für das technisch geprägte Spiel, das den Klub bis heute charakterisiert. Michels ließ Ajax einen attraktiven und flüssigen Angriffsfußball spielen, der als "Voetbal Total" in die Geschichte einging.

Alles im Fluss

In gewisser Weise war der Ajax-Stil die konsequente Fortsetzung des ungarischen Erfolgskonzepts aus den 50er Jahren. Zu Beginn benutzte Michels' Team sogar das von den Ungarn schon angedeutete 4-2-4 System. Wo diese allerdings nur angefangen hatten, Positionen flexibel zu besetzten und Spieler rochieren zu lassen, gingen die Holländer einen Schritt weiter.

"Voetbal Total" in Idealform bedeutete, dass jeder Spieler jede Position einnehmen konnte. Nun attackierten die Außenverteidiger konsequent, wurden dabei aber von ihren Mitspielern abgedeckt. Ging der Verteidiger nach vorne, so übernahm der vor ihm spielende Mittelfeldspieler seine Position.

Einfacher wurde das Ganze, als Ajax auf das heutige holländische Standardsystem 4-3-3 umstellte. Da wurde das Spielfeld vertikal in drei Teile unterteilt. Und die Akteure konnten sich relativ leicht mit den Kollegen auf der gleichen Seite abstimmen. Dieses 4-3-3 wurde schnell zu dem System, das den niederländischen Fußball für den Rest des Jahrhunderts prägen sollte. Der schmächtige Cruyff agierte bei Michels als Mittelstürmer, der sich jedoch ständig ins Mittelfeld zurückfallen ließ und von dort die Fäden zog. Wie einst Nandor Hidegkuti für die Ungarn.

Keine Spaziergänge mehr

Aber das war noch längst nicht alles. Die Niederländer begannen auch erstmals, konsequent Pressing zu spielen. Damals war das vollkommen unbekannt. Wer sich heute Spiele aus den 70er Jahren anschaut, der wird fassungslos sehen, wie unbedrängt Spieler durchs Mittelfeld marschieren konnten.

Franz Beckenbauer beschrieb es so: "Ich konnte mit dem Ball am Fuß fünfzig oder sechzig Meter weit laufen. Niemand hielt mich auf, weil jeder Gegner einen Mann zu beschirmen hatte. Heute, wo jede Mannschaft Raumdeckung betreibt, das heißt alle paar Meter ein Gegner steht, könnte ich diese Märsche durchs Mittelfeld gar nicht mehr unternehmen. Ich käme bei diesen Läufen nicht weit, würde am dritten, spätestens am vierten Mann hängen bleiben.

Mit Cruyff ging der Erfolg