Im Nazi-Silberpfeil auf den Olymp

Nürburgring 1939: Rudolf Caracciola feiert seinen sechsten Sieg beim Deutschland-GP
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Die Machtergreifung der Nationalsozialisten hat der Wirtschaft einen Aufschwung verliehen, Daimler-Benz Geld in die Kassen gespült. Die Stuttgarter Ingenieure haben im Verborgenen den W25 nach dem neuen Formel-Reglement mit der Maximalmasse von 750 Kilogramm entwickelt.

Caracciola ist von dem Auto begeistert. Sein Ehrgeiz ist geweckt: Er will trotz der schweren Verletzungen wieder Rennen fahren. Er darf es trotz der Zweifel an seiner körperlichen Verfassung. Als der Gips weg ist, lernt er das Laufen neu. Fünf Zentimeter kürzer ist das rechte Bein im Vergleich zum linken. Die Schmerzen sind immens. Charly steht ihm zur Seite und stützt ihn. Bis zum 2. Februar 1934.

Aufgrund seiner Behinderung hatte Caracciola das geliebte Skifahren widerwillig aufgegeben, doch seine Ehefrau nahm eine Einladung von Freunden nach Arosa an. Er wartet stundenlang. Als es gegen Mitternacht klingelt und ein Polizist ihm mitteilt, dass Charlotte von einer Lawine erfasst wurde und tot ist, bricht für den 33-Jährigen die Welt zusammen.

"Caratsch" kapselt sich ab, zieht sich ins Schweizer Exil zurück. Erst als Louis Chirons mit seiner Lebensgefährtin Alice Hoffmann aus Paris anreist, wird seine Trauer erträglich. "Baby", wie die seit langem mit den Carraciolas befreundete Amerikanerin mit deutschem Vater und schwedischer Mutter genannt wird, wird für den Rennfahrer unverzichtbar. Drei Jahre später, am 19. Juni 1937, heiratet er Alice.

Der Silberpfeil-Mythos entsteht

Im Auto ist Caracciola trotz seiner Behinderung unantastbar. Seinem langjährigen Bergrivalen Hans Stuck nimmt er bei seinem Comeback am Klausenpass im August 1934 gleich 3,2 Sekunden ab. Sieg. Doch er hat Schmerzen. "Jeder Druck auf die Bremse fährt wie ein Messerstich auf den Oberschenkel", beschreibt er später in einem Buch die Qualen: "Wenn ich aufgebe, gebe ich mich selber auf."

Beim Grand Prix der Schweiz und in Monza gibt Caracciola im vor der Premiere ein Kilo zu schweren und deshalb vom Lack befreiten Silberpfeil auf. Im nächsten Jahr macht ihm Teamkollege Luigi Fagioli Konkurrenz. Nach einem Motorschaden in Monaco gewinnt Caracciola in Tripolis, auf dem Nürburgring, in Frankreich, in Spa, in der Schweiz und im spanischen San Sebastian. Am Ende entschädigt ihn der Europameistertitel des Jahres 1935. Caracciola steht auf dem Olymp des Motorsports.

Dann macht Caracciola allerdings eine unbekannte Erfahrung: Er verliert. Auto-Union überflügelt die Stuttgarter. Es ist der Aufstieg Bernd Rosemeyers, der Daimler-Benz zur Restrukturierung zwingt. Mit dem W125 fährt Caracciola im Jahr 1937 seinen zweiten EM-Titel ein. Mit Stromlinienkarosserie erreicht das Geschoss fast 400 km/h. Auto-Union hält mit dem Typ C dagegen.

Tödliche Propaganda für die Nazis

Den Nazis in Berlin gefiel die Entwicklung. Der rennfreie Winter wurde fortan für Propaganda genutzt. Auf der Avus, bei Budapest und auf den Autobahnen bei Dessau und Frankfurt fand die "Reichsrekordwoche" statt. Mercedes und Auto-Union duellierten sich mit Geschwindigkeitsrekorden.

Der eigens konstruierte 736 PS starke Benz fuhr mit Caracciola am Steuer am 28. Januar 1938 bei Frankfurt zu einem neuen Weltrekord. Nach acht Sekunden war der erste fliegende Kilometer absolviert. 432,692 km/h - bis heute auf einer öffentlichen Straße unerreicht.

Auto-Union soll den Rekord wenig später mit Rosemeyer am Volant überbieten. Sorgenfalten bei sämtlichen Beteiligten. Der Wind ist stärker geworden, Reif auf der Strecke. Caracciola geht zu seinem Kollegen hinüber: "Ich fahre nicht mehr, weil auf der Strecke Seitenwinde zu verspüren sind an einer Waldschneise bei Mörfelden." Rosemeyer gratuliert zum Rekord und zwängt sich umgehend ins Cockpit. "Und jetzt bin ich dran", ruft er Caracciola zu, der auf weitere Warnungen verzichtet. "Viel Glück, Bernd", gibt er seinem Konkurrenten noch mit auf den Weg.

Rosemeyer startet. Er kehrt nie mehr zurück. Bei weit über 400 km/h erfasst eine Windböe sein Auto. Mehrere Überschläge, der Fahrer fliegt aus dem Wagen und landet 20 Meter von der Bahn entfernt in der Böschung. Rosemeyer stirbt mit nur 29 Jahren. Die Leibstandarte Adolf Hitler marschiert zur Beerdigung auf, der Führer und Heinrich Himmler höchstpersönlich kondolieren der Witwe des SS-Mitglieds.

Der Tod wird zum Begleiter

"Rennen fahren ist kein zahmer Beruf. Er verlangt alles von einem Mann, wenn es sein muss: das Leben", gibt Caracciola später zu Protokoll: "Niemand hat uns dazu gezwungen. Oder doch: das Herz, die Freude am sportlichen Wagnis und das Bekenntnis zum Fortschritt."

Caracciola macht weiter. Der Tod ist für Rennfahrer ein ständiger Begleiter. Selbst das geänderte Reglement der Formel 1 hält ihn nicht auf. Per Kompressor ist der auf drei Liter geschrumpfte Motor aufgeladen. Zwölf Zylinder, 468 PS - Mercedes ist unschlagbar. Nur zwei Rennen gewinnt der Deutsche und sammelt trotzdem genug Punkte, dass er zum dritten und letzten Mal die Europameisterschaft gewinnt.

Doch der Zahn der Zeit nagt. In der Saison 1939 trumpft sein junger Teamkollege Hermann Lang auf und holt den Titel. Neubauer und Caracciola geraten aneinander, weil der 38-jährige Altmeister um seinen Platz fürchtet. Am 23. Juli 1939 gewinnt Caracciola abermals am Nürburgring den Deutschland-GP. Er wird "Großdeutscher Meister" und zieht sich nach Lugano zurück. Doch der Rennzirkus kriselt. Der neue Weltkrieg lässt die Motoren verstummen.

Im Konflikt mit der Diktatur trotz irritierender Gedanken

Allein in Berlin will man ihm seine Altersruhe nicht gönnen. Die Reichskanzlei fordert ihn zur Rückkehr nach Deutschland auf. "Caratsch" verweigert sich. Seine mit Daimler-Benz vertraglich vereinbarte Rente wird gestrichen. Desertation, Fahnenflucht, gar Verrat am Vaterland werden ihm aus der Reichskanzlei angedichtet.

Caracciola ist zu diesem Zeitpunkt Obersturmführer der Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), auch wenn er nie Mitglied der NSDAP oder wie Rosemeyer SS-Hauptsturmführer wurde. Ohne diese Mitgliedschaft hätte "Caratsch" seinen Beruf nicht ausüben können. Im Gegensatz zu einigen anderen Rennfahrern sonnte er sich nicht dauerhaft im Glanz der Partei-Propaganda.

Trotzdem war er ein politischer Mitläufer. Obwohl in der Schweiz lebend, von Berlin um seinen Unterhalt gebracht und selbst auf Distanz zu den Nationalsozialisten gegangen, endete sein zweites Buch "Rennen-Siege-Rekorde" mit den Worten: "Wenn der Sieg der Waffen errungen ist, wird der Führer auch wieder den Befehl zum Kampf der Rennwagen geben." Ob er sich so für den Fall des deutschen Siegs eine Fortsetzung seiner Karriere sichern wollte?

Das gescheiterte Comeback

Die Versuche, seine Rennfahrerkarriere wieder aufleben zu lassen, verlaufen tragisch. Beim Training zum Indianapolis 500 im Jahr 1946 verunglückt er schwer, als ihn ein Vogel am Kopf erwischte. Caracciola überlebte, weil die Organisatoren darauf bestanden hatten, er müsse den Helm eines Panzer-Fahrers tragen. Die Mille Miglia 1952 schloss er zwar als Vierter ab, doch kurz darauf verunglückte er beim Preis von Bern erneut.

Zwischenzeitlich in Führung liegend, überholten ihn die Markenkollegen Hermann Lang und Karl Kling. Caracciola erhöhte das Risiko, in der 13. Runde verlor er die Kontrolle über den 300 SL. Er prallte mit dem Heck gegen einen Baum. Blutüberströmt wurde er aus dem verbeulten Totalschaden geborgen. "Caratsch" überlebte, dieses Mal war sein Bein schwer verletzt.

F1-Legenden-Serie: Die Besten aller Zeiten

Nach 137 Siegen für Mercedes beendete ein dreifacher Unterschenkelbruch die sportliche Laufbahn des Rheinländers endgültig. Erst vier Jahre später kehrte er in seinen gelernten Beruf als Autoverkäufer zurück und kümmerte sich für Daimler-Benz um die amerikanischen und britischen Soldaten in Europa.

Einen Ruhestand konnte er nicht genießen. Nur sieben Jahre nach seinem letzten Rennen starb der erst 58-Jährige am 29. September 1959 nach Organversagen infolge einer Leberzirrhose im Stadtkrankenhaus von Kassel. "Rudolf Caracciola war stets ein bescheidener und stiller, enthaltsamer, fairer Sportsmann, der viele Freunde hatte", lautet eine Passage des Nachrufs der Rhein-Zeitung vom 30. September 1959.

"Für mich war Fahren mehr"

Wahrscheinlich trifft die eigene Beschreibung seines Lebens es besser: "Für mich war Fahren mehr! Mochte es Leute geben, die darüber lächelten oder die Achseln zuckten, dass man sein Leben daransetzte ein paar Sekunden schneller zu sein als andere. Für mich war's das Glück! So im Wagen sitzen, geduckt hinter der Windschutzscheibe, und warten, dass der Starter die Flagge senkt, und dann losrasen, vielleicht den Bruchteil einer Sekunde schneller als die anderen."

Erst zu seinem 100. Geburtstag wurde ihm in seiner Geburtsstadt Remagen ein Denkmal gesetzt. Die Inschrift trägt das verkürzte Zitat Alfred Neubauers: "Meiner Meinung nach ist, von allen Fahrern der ganzen Welt, Rudolf Caracciola der Größte gewesen." Der Nürburgring zog nach und benannte das Karussell nach ihm, die einzige Umbenennung eines Streckenabschnitts der Nordschleife seit dem Bau. 2008 wurde er in die deutsche Hall of Fame des Sports aufgenommen, bereits 1998 als bisher einziger Deutscher in die US-amerikanische International Motorsports Hall of Fame.

Vielleicht erklären die fragwürdigen Sätze seines zweiten Buchs, dass Caracciola in Vergessenheit geriet. Sportlich war er ein Held - ein Perfektionist, den Unfälle nur bei mechanischen Fehlern ereilten.

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