Kein anderer verkörperte die zerstörerische Urkraft des Boxsports so wie er: Mike Tyson. Zum 50. Geburtstag des früheren Schwergewichts-Weltmeisters zeichnet SPOX sein Leben nach. Sein Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen zum jüngsten Champ aller Zeiten. Wie ihn Ziehvater Cus D'Amato zur Killermaschine formte. Und wie er danach alles verlor. Dabei wollte er eigentlich immer nur eins.
Mitte der 80er ist im Schwergewichtsboxen nicht viel los. Nach Muhammad Alis Karriereende, spätestens aber nachdem Larry Holmes seinen WBC-Gürtel 1983 abtritt, beherrschen Eintagsfliegen den Box-Olymp. Superstars hat der Sport immer noch zu bieten, große Namen wie Sugar Ray Leonard, Marvin Hagler oder Roberto Duran. Aber im Schwergewicht wandern die Gürtel durch die Hände von Mike Weaver, Tim Witherspoon, Pinklon Thomas oder Tony Tubbs. Wer? Genau.
Zur gleichen Zeit trainiert ein gewisser Constantine "Cus" D'Amato in seinem heruntergekommenen Gym in Catskill, New York, schon einige Jahre seine große Nachwuchshoffnung, einen Teenager namens Michael Gerard Tyson. D'Amato, ein glatzköpfiger Box-Guru jenseits der 70, zusammen mit einem, ja, heute würde man wohl sagen "kriminellen Intensivtäter" aus schlimmsten Verhältnissen. Mit 13 bereits 38 Mal verhaftet und dergleichen.
Und als dieser D'Amato den jungen Tyson, ohne jegliche Box-Erfahrung, im Sparring mit dem Sozialarbeiter einer Jugendhaftanstalt sieht, sieht er den kommenden Heavyweight Champ. "Der verrückteste Moment meines Lebens", soll Tyson später sagen. "An diesem Tag hat Bobby Stewart die Scheiße aus mir rausgeprügelt. Und Cus sagte, ich werde Schwergewichtsweltmeister. Wie zu Teufel hat er das gewusst?"
Dampf in den Nüstern
22. November 1986. Im Hilton in Las Vegas tritt WBC-Champion Trevor Berbick zu seiner ersten Titelverteidigung an. Gegner des 32-Jährigen: dieser erst 20 Jahre alte Mike Tyson. Noch nicht die ganz große Nummer, aber spätestens nach einem großen Artikel in der Sports Illustrated eben die "nächste große Nummer". Fast zehn Zentimeter kleiner als Berbick, aber dafür ist "Iron" Mike fast drei Pfund schwerer, mit einem Körper wie aus Granit gehauen.
Und ein Knockout-Künstler ist er: 27 Kämpfe, 27 Siege, 25 durch Knockout - zwölf davon im laufenden Jahr. Ein derartiger Killer im Ring ist er, dass ihn Vegas als klaren Favoriten positioniert. Kunststück, ein Blick in diese Augen genügt. Eine Mischung aus Bulle und Panther in kurzen schwarzen Trunks, irgendwie fehlt nur noch Dampf, der aus seinen Nüstern aufsteigt.
Berbick hat keine Chance. Ab dem ersten Gong marschiert Tyson nach vorn, sucht den Infight und bringt immer wieder zerstörerische Haken und Uppercuts an den Mann. Schon in Runde eins geht der Weltmeister zum ersten Mal zu Boden, beschränkt sich danach auf verzweifeltes Klammern. In Runde zwei fällt der Vorhang nach einem massiven linken Haken. Berbick fällt, steht, taumelt, fällt wieder, fällt ein drittes Mal. Ein absolut verheerender Niederschlag. Ende. Tyson ist der jüngste Schwergewichts-Champion aller Zeiten.
Cus D'Amato hatte also Recht. Den Sieg feiern kann das ungleiche Gespann aber nicht mehr: Tysons Lehrmeister war vor einem Jahr gestorben.
Cus D'Amato: Mehr Imperator als Yoda
Weiser Lehrmeister trifft auf ungehobelten Schützling, trainiert ihn und schreibt mit ihm allen Widrigkeiten zum Trotz Geschichte? Hallooooo, Hollywood! Hat doch "Karate Kid" erst vier Jahre zuvor die Kassen klingeln lassen, und "Das Imperium schlägt zurück" noch einmal vier Jahre früher. Das Skript schreibt sich da doch förmlich von selbst. Wie er als übergewichtiges, lispelndes Kind von allen gehänselt wurde. Wie er sich zum ersten Mal prügelte, weil ein älterer Junge eine seiner geliebten Tauben tötete. Und wie ihn D'Amato nach dem Tod seiner Mutter zu sich nach Hause nahm und sein Vormund wurde. Ka-Ching!
Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn D'Amato ist kein Mr. Miyagi, und schon gar kein Yoda. Wenn schon, dann vielleicht der Imperator zu Tysons Darth Vader. "Lass den Hass durch dich fließen" und so. Es ist Freundschaft und Zweckgemeinschaft zugleich. D'Amato ersetzt die in Tysons Leben fehlende Vaterfigur, schreckt aber gleichzeitig vor nichts zurück, um aus seinem Boxer die ultimative Vernichtungsmaschine im Ring zu machen. "Der Typ im Ring, das war ich nicht", so Tyson heute. "Aber er hat mich dazu gebracht, an mich als diesen vor Kraft strotzenden Typen zu glauben."
Es ist der rote Faden, der sich durch das Leben Tyons zieht: die Suche nach Anerkennung, nach Wertschätzung. Die ihm in seinen kaputten Familienverhältnissen verwehrt bleibt ("Ich habe meine Mutter nicht einmal stolz auf mich gesehen"), auch in der Schule, wo er ständig Schläge einstecken muss. Die ihm D'Amato schließlich gibt. Aber nicht ohne Hintergedanken.
"Im Ring werde ich unaufhaltsam"
"Da bin ich, der unsicherste, ängstlichste Mensch der Welt. Und im Ring werde ich eine unaufhaltsame Dampfwalze", blickt Tyson 2015 in der Sports Illustrated zurück. "Genau diese Verwandlung wollte Cus. Einmal sagte er zu mir: 'Ich wünschte du wärst größer. Du bist so klein. Warum hast du keine Schultern wie Mike Weaver oder Ken Norton?' Und ich sagte: 'Warts nur ab, Cus. Eines Tages wird die ganze Welt Angst vor mir haben. Du wirst schon sehen!' Und dann fing ich an zu weinen. Er hat mich manipuliert. Er hat mich richtig reingelegt."
Daraus eine Täter-Opfer-Rolle zu konstruieren, gerade im Hinblick auf die dunklen Stunden im Leben Tysons, die noch folgen sollten, wäre ein Fehler. Doch D'Amato, der auf jahrzehntelange Erfahrung im Box-Geschäft zurückblicken kann, weiß, welche Knöpfe er zu drücken hat, um das Tier in Tyson zu entfesseln. Und der erweist sich als williger Schüler. "Alle haben geschrien und mir applaudiert. Das war ein unglaubliches Gefühl, obwohl mir mein Herz bis zum Hals klopfte", erinnert er sich an seine erste Prügelei im Alter von elf Jahren. Der Ring, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, verstärkt dieses Gefühl tausendfach. Dabei wollte er mit dem Sport ursprünglich eigentlich nichts zu tun haben, "aber ich dachte mir, ich kann diese weißen Typen abziehen."
Wie eine Pistolenkugel
Der jüngste Heavyweight Champion macht in den Jahren nach 1986 da weiter, wo er gegen Berbick aufgehört hat. Ein K.o. brutaler als der nächste, seine Kämpfe sind absolute Pflichttermine. Der "Baddest Man on the Planet" wird zum bekanntesten Boxer und reichsten Sportler des Planeten, er ist der ultimative "Endgegner" (siehe Mike Tyson's Punch Out!!). Im Juni 1988 steht er gegen Michael Spinks im Ring, nur dessen IBF-Gürtel fehlt ihm noch. Spinks steigt in 31 Kämpfen unbesiegt in den Ring, er ist der technisch versierte Boxer, der als Gegenmittel zum animalischen Tyson gilt. Nach 91 Sekunden und zwei Niederschlägen ist der zu diesem Zeitpunkt lukrativste Fight der Geschichte vorbei. 30 Schläge. Spinks, ein gebrochener Mann, beendet anschließend seine Karriere. Und Tyson hält als Erster drei Gürtel.
Herausforderungen gibt es im Ring danach eigentlich keine mehr: "Ich fühlte mich unbesiegbar. Wie ein Gott." Doch ohne die ordnende Hand D'Amatos schwappt Tysons Ringnatur über in sein Privatleben. Frauen, Exzesse, Don King. "Ich wollte meine Gegner zerstören, ich wollte sie umbringen." Doch hinter dieser sorgsam für den Fight kultivierten Persönlichkeit, die von der ganzen Welt andächtig bestaunt und bejubelt wird, verwischt sein zweites Ich.
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"Als mein Trainer Cus D'Amato starb, hatte ich niemanden mehr, dem ich noch vertrauen konnte. Ich war erfolgreich, aber schoss wie eine Pistolenkugel umher, von einem Extrem ins andere", erzählt er der GQ. "Nach seinem Tod musste ich mein eigener Trainer sein. Das hat nicht immer funktioniert." Mehr Parties, weniger Sparring. Mit Kevin Rooney entlässt er auch noch einen weiteren langjährigen Coach, was sich in seiner Leistung niederschlägt. Nie der sauberste Boxer, vernachlässigt er danach seine Doppeldeckung umso mehr.
"Ich brauche als Fighter eigentlich vier Kämpfe im Jahr. Aber nachdem ich mich mit Typen wie Don einließ, hielten sie mich nicht mehr beschäftigt", gibt er sich im Nachhinein selbstkritisch. Unter dem exzentrischen Promoter sind es nur ein oder zwei Kämpfe pro Jahr. "Und weil ich nichts zu tun hatte, fing ich andere Dinge an. Mit Cus wäre das nicht passiert."
"Buster Douglas hat Mike Tyson entzaubert"
Bis schließlich die wohl größte Überraschung der Box-Geschichte ansteht. Das Ergebnis einer Titelverteidigung in Tokio gegen Buster Douglas ist so klar, dass man in den meisten Casinos nicht einmal darauf wetten kann. Und so trainiert Tyson auch - wenn man es so nennen kann: "Ich glaube, das meiste Gewicht habe ich durch Sex mit den Ladies in Japan verloren. Lauftraining gab es vielleicht ein oder zweimal."
Douglas ist nach dem Tod seiner Mutter dagegen hochmotiviert und liefert den Fight seines Lebens, steckt sogar einen Niederschlag weg. Und auch Tyson muss einstecken. "Sie hatten nichts gegen die Schwellung, also füllten sie ein Kondom mit Eis und Wasser", erinnert sich Journalist Tim May im Playboy an den Kampf. "Etwas so Kurioses habe ich noch nie gesehen." In Runde zehn schickt Douglas den großen Tyson zu Boden - zum ersten Mal in dessen Karriere.
Wenn es nicht Douglas gewesen wäre, hätte ihn früher oder später jemand anders geschlagen, betont Tyson. "Ich habe einfach nicht genug an meinem Boxen gearbeitet." Auch wenn er sich den WM-Gürtel nach einer dreijährigen Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung - Tyson beteuert bis heute seine Unschuld - später zurückholen sollte: Ausgerechnet Donald Trump, Freund und Geschäftspartner von Don King, fasst es treffend zusammen: "Buster Douglas hat Mike Tyson entzaubert. Er hat ihm seine Aura geraubt."
"Ich habe einfach alles und jeden gehasst"
Und obwohl Tyson nach drei Jahren hinter Gittern topfit zurückkehrte und unter großem Jubel wieder Weltmeister wird, ist er danach einfach nicht mehr derselbe. Er ist nicht mehr unbesiegbar - und jeder weiß es. Schlimmer noch: Mehr und mehr schwindet seine Lust darauf, sich dem Boxzirkus auszusetzen, die Spielchen mitzuspielen, "Iron" Mike, der schlimmste Mensch des Planeten zu sein. "Dieser grausame Killer, vor dem alle Angst haben ... das bin ich nicht" gesteht er im Telegraph. "Ich wünschte, ich könnte das sein, aber ich bin es nicht. Ich bin ein verschüchterter, unsicherer kleiner Junge."
Und dieser kleine Junge in Tyson fängt an, wieder um sich zu schlagen. Verbale Attacken gegen Lennox Lewis ("Ich will sein Herz essen! Ich will seine Kinder auffressen!"). Der berühmte Biss in Evander Holyfields Ohr: "Ich habe einfach alles und jeden gehasst! Ich hasste mich selbst!" Es folgt die hässliche Abschiedstour so vieler großer Boxer, mit Niederlagen gegen früheres Fallobst. In seinem letzten Kampf im Juni 2005 bleibt er vor der siebten Runde einfach sitzen. Er kann nicht mehr. Er will nicht mehr.
Aus diesem Jahrzehnt bleiben am Ende neben schlechten Fights nur noch jede Menge Skandale. Alkohol, Drogen, Kämpfe mit Papparazzi. Eine zweite Scheidung. Finanzieller Bankrott. 2009 stirbt seine vierjährige Tochter Exodus bei einem tragischen Unfall. Er werde wohl nicht älter als 40, hat er einmal gesagt. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich niemand gewundert.
Abschließen mit der Vergangenheit
Stattdessen erlebt man in den letzten Jahren einen anderen Tyson. Einen, der bemerkenswert offen mit den Fehlern in seiner Vergangenheit umgeht, viele Interviews gibt. Und mit seinem Dasein als "Iron" Mike abgeschlossen hat: "Ich habe mit meiner Vergangenheit ein für allemal Frieden geschlossen." Das Tier in ihm sei gebändigt.
Seinen Sport beobachtet er zwar noch aus der Ferne, doch in Erinnerungen schwelgt er nicht. "Ich hasse Boxen, weil es einen schlechten Menschen aus mir gemacht hat", gesteht er der Welt. "Als Boxer bist du ein egoistischer Eroberer, der niemand neben sich duldet." Stattdessen ist er heute mit früheren Kontrahenten gut befreundet - sogar mit Evander Holyfield, der ihm 2009 in einer Talkshow öffentlich vergibt.
An erster Stelle stehen heute acht Kinder, dazu seine dritte Ehefrau Kiki, die sein Leben organisiert. Und natürlich seine geliebten Tauben. Er ist aber kein neuer Mensch geworden, wie er freimütig bekennt. Das Verlangen nach Alkohol und Drogen etwa ist geblieben, Entziehungskuren und cleane Phasen wechseln sich mit Rückfällen ab. "Ich versuche nüchtern zu leben, weil ich weiß: Wenn ich das nicht tue, sterbe ich", sagt er 2013.
Einfach nur geliebt werden
Auch die Unsicherheit ist geblieben: "Ich bin sehr dankbar, dass ich eine Frau und Kinder habe, die mich lieben. Weil ich meistens denke, dass ich es überhaupt nicht wert bin, geliebt zu werden." In der Öffentlichkeit springt seine Pistolenkugel weiter von Projekt zu Projekt, mit einer eigenen Fernsehserie, einer Stiftung. Die Frage im Hinterkopf: Wo komme ich am besten an? Derzeit ist es die Schauspielerei, etwa die Hangover-Trilogie. "Andere finden mich komisch - dann bin ich wohl komisch", sagt er der GQ.
Er wird wohl noch mehr ausprobieren, in den nächsten 50 Jahren. Weiter auf der Suche nach Anerkennung, Respekt und Zuneigung. Dabei hat er sie längst sicher. Der wahre Mike Tyson, der mit seinen Dämonen offen umgeht, seine lustige Seite zeigt und seine Familie an erster Stelle hat, ist in den USA längst ein Publikumsliebling.
Mike Tyson: vom Saulus zum Paulus? Nicht ganz. Aber ein bisschen älter, ein bisschen weiser. Die Killermaschine im Ring brachte Geld, Ruhm und Ehrfurcht. Aber die ist längst K.o. gegangen.
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