Mit ungefähr dreizehn Jahren, zu Zeiten als noch Paul Breitner im Bayern-Trikot auflief, besuchte ich zum ersten Mal das Olympiastadion in München. Natürlich war ich damals enorm beeindruckt ob der Konstruktion, Größe und Geschichtsträchtigkeit der damaligen Heimstätte des FC Bayern München - dem Fußballklub, an den ich mein Herz gehängt hatte. Hätte mir damals jemand erzählt, ich würde je den Bau eines neuen Stadions für meinen Lieblingsklub und die Abkehr von diesem für mich heiligen Ort fordern, ich hätte vermutlich so überrascht und verständnislos dreingeblickt, als wäre mir gerade ein Abgesandter außerirdischen Lebens begegnet. In über dreißig Jahren Fan-Dasein hat sich selbstverständlich Vieles geändert, aber es gibt ja heute auch keine gelben Telefonzellen mehr und weit mehr als nur drei Fernsehprogramme. Man nimmt es wie es ist - heute ist heute und damals ist vorbei.

Viele Veränderungen zu früher sind ein echter Fortschritt im besten Sinne. Fußball ist athletischer, schneller geworden; die Stadien sind deutlich komfortabler als zu Zeiten eines Lothar Matthäus; es gibt eine Reihe von sinnvollen Regeländerungen - und wir sind heute in der Lage Laufwege und Passstatistiken in Sekundenschnelle abrufen zu können, so wie wir die Zwischenstände von anderen Plätzen abrufbereit in der Hosentasche haben. Die zunehmende Kommerzialisierung des Sports treibt hingegen seltsame Blüten. Stadien erhalten absurde Sponsorennamen; der moderne Spieler inszeniert sich auf dem Platz selbst und seine Jubelposen werden unmittelbar in Computerspielen adaptiert. Während man damals seinen Unmut auf eine Person, "den schwarzen Mann", konzentrierte, ist es nun eine ganze Gruppe von Knallbonbon-farbenen Herren, die über die Einhaltung des Reglements wachen.

Ich lebe seit über dreißig Jahren in diesem Paralleluniversum Fußball, in dem man leidenschaftlich die Leistungen des vergangenen Spieltags Woche für Woche diskutiert und über Aufstellungen und Personalien fabuliert, umrahmt von merkwürdigen Fachtermini und fußballtypischen Floskeln. Ich hoffe, leide und bin schlecht gelaunt; ich jubiliere und strotze vor Stolz - obwohl ich selbst gar kein Protagonist bin, sondern nur Beobachter. Dieser Mikrokosmos unserer Gesellschaft, fokussiert auf ein Ballspiel, ist die Welt in der ich mich auskenne. Es gibt kaum Überraschungen - wenig, was ich nicht schon erlebt oder gesehen habe - ich kenne die Regeln, den Habitus und weiß was mich erwartet. Argwöhnisch betrachte ich Modifizierungen und neue Trends und komme mir manchmal vor, wie ein alter, knorriger Kauz - irgendwann stehengeblieben in der Zeitschleife. Der Realist in mir weiß, viele Dinge sind heute einfach besser, manches hätte es nicht gebraucht.

Als Fan dieser Sportart und in gewisser Hinsicht natürlich auch als Konsument des Fußballs steht es mir zu, die Entwicklungen kritisch zu beäugen und Dinge wie überhöhte Kartenpreise oder wirre Anstoßzeiten anzuprangern. Ich bin ein mündiger Bürger - ich bin auch ein mündiger Fan. Doch ist es mein Recht jede vereinspolitische und sportliche Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen und meinen Senf dazu zu geben, selbst wenn mir ein gewisses Maß an Hintergrundinformationen fehlt? Es mag die heutige medial vollkommen erschlossene Welt sein, die uns dazu ermutigt unsere Meinung in diversen Kanälen zum Ausdruck zu bringen und öffentlich zu machen. Damit erlangt sie auch mehr Gewicht. Ich tue das auch, als Blogger. Aber verleitet uns diese Öffentlichkeit nicht auch dazu unseren Standpunkt zu wichtig zu nehmen? Müssen unsere Fankurven in der heutigen Zeit zu einem steten Ort von Demonstrationen und plakativen Protests werden? Wenn wir den "modernen Fußball" in Teilen ablehnen, sollten wir dann nicht auch selbst in eine eher traditionelle Rolle zurückfinden?

Wie es im Leben so ist, man selbst ändert sich im Laufe der Jahrzehnte auch - schleichend, kaum spürbar - der Fußballfan der ich heute bin, ist nicht mehr der von damals. Mit knapp zwanzig konnte kein Verständnis für all die Fernsehsofa-Fans aufbringen, war doch der Stadionbesuch das einzig Echte in dieser Welt des Fußballs. Kein Weg war zu weit, keine Busfahrt zu lang. Heute hingegen ist mir die mühselige An- und Abreise zu Spielen meist zuwider - und so komme ich vielleicht noch auf zehn bis zwölf Stadionbesuche im Jahr. Das Stadionerlebnis heute ist zumindest in der ersten Liga Welten von dem in früheren Zeiten entfernt. Heute flaniert man durch die ganze Palette gastronomischer Vielfalt, während man damals nur die Wahl zwischen Bratwurst und Krakauer hatte, dazu Bier - was sonst? Mitunter wird es ärgerlich, wenn man heutzutage die gute alte Wurstbude zwischen Pizza, Nordsee-Fisch und Backwaren aller Art gar nicht mehr findet. Bargeldzahlung ist heute eher die Ausnahme; Kartenzahlung soll effizienter sein - gefühlt ist das anders. Während der Name eine Fußballtempels früher noch einen Begriff darstellte, mit dem jeder Anhänger im Land etwas anfangen konnte, kann man sich heute kaum mehr merken welchen Sponsorennamen manches Stadion in der laufenden Saison trägt? Auch die selbsternannten Moralapostel der heutigen Zeit machen vor dem Fußballstadion nicht halt - und versuchen mit all ihrer Energie rauch- und alkoholfreie Stadien durchzusetzen. Ich würde mir wünschen, dass solche Menschen ihre Energie und diesen Enthusiasmus für Dinge aufwenden, die diese Welt besser machen - statt für noch mehr Verbote und Reglements einzutreten und diese Gesellschaft endgültig für unmündig zu erklären. Vinotheken werden Bestandteil der Stadionbewirtung - ein edles Tröpfchen vom Sommelier kredenzt! Im Fußballstadion! Wie soll man sich da noch mit seinem Klub identifizieren können?

Der Fußball ist - wie unsere Welt heute - viel komplexer geworden. Eine Komplexität, die eine Vielzahl an Diskussionen ermöglicht - doch am Ende ist es immer noch ein einfaches Spiel mit ungewissem Ausgang. Und so gerne ich das möchte, es wird mir nur noch selten gelingen, dieses Spiel mit den großen Augen eines kleinen Jungen zu sehen. Als Mensch und auch als Fan habe ich meine Unschuld verloren. Das nennt man wohl Erwachsenwerden.



André Zechbauer thematisiert in seinem Blog "FernglasFCB" Woche für Woche den Fußball im Allgemeinen und insbesondere alles rund um den FC Bayern München. Nach Jahrzehnten auf Fußballtribünen im In- und Ausland beobachtet er den Klub mittlerweile mehr aus der "Fernglas"perspektive.

Der Autor ist seit nunmehr 35 Jahren Fan des FCB, seit 25 Jahren Mitglied des Rekordmeisters und lebt in der Nähe von Köln.