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13.10.2011 um 16:42 Uhr
Eine peinliche Posse
Ich hatte vor kurzem eine interessante Begegnung. Da gab es diesen Typen an unserer Schule, der nie sprach. Er hatte keine Freunde und schien auch nicht daran interessiert, welche zu finden, man sah ihn nicht in der Raucherecke und nicht auf Partys, er sprach mit niemandem und war weder freundlich noch unfreundlich. Folglich wurden allerlei Vermutungen angestellt,was es mit diesem stillen Mitschüler auf sich hatte: wahrscheinlich sei er schüchtern, dumm, schwul, eingebildet, und nach erschreckend kurzer Zeit wurde er, der doch nie ein Wort gesprochen hatte, zum allgemeinen Hassobjekt erklärt. Nun, vor kurzem traf ich diesen furchtbaren Menschen wieder. Er studiert mittlerweile Jura und war äußerst aufgeschlossen und freundlich. Ich fragte ihn, warum er sich so wehrlos mit seiner Außenseiterrolle abgefunden hatte. Er sei halt jemand, war seine Antwort, der nur dann rede, wenn er auch etwas gefragt werde.

Was hat es mit dieser Geschichte auf sich? Sie ist ein schönes Beispiel dafür, wie ohne eigenes Zutun eine Vielzahl von Unterstellungen, Boshaftigkeiten und Gerüchten in die Welt gesetzt werden können, und, nachdem sie eine Zeitlang zirkulieren, für Wahrheiten gehalten werden. Auf ganz ähnliche Weise konnte in den letzten Wochen eine filmreife Story beobachtet werden, in der ein Sportchef gegen den Widerstand eines übermächtigen Gegners versucht, einen geeigneten Trainer zu finden. Es ist auch eine Geschichte darüber, wie Medien unsere Wahrnehmung beeinflussen und damit unser Verständnis von Wirklichkeit. Was war passiert?

Am 19. September wird aus Gründen der Erfolgslosigkeit HSV-Trainer Michael Oenning entlassen. Mögen die Umstände der Entlassung umstritten sein – Sportchef Frank Arnesen bekannte sich noch einen Tag vorher zum Trainer – es war letztlich schon dies eine Entscheidung, die von großem medialen Druck gesteuert wurde. Bereits seit Wochen hatten insbesondere Springer-Medien an der Ablösung Oennings gearbeitet, selten konnte eine gezielte Diffamierungskampagne so gut beobachtet werden wie in den August- und Septemberwochen dieses Jahres (der geneigte Leser scrolle sich durch das Archiv der welt.de-Sportredaktion). Wahrscheinlich dürfte es Arnesen die Arbeit erleichtert haben, hätte er Oenning zu einem früheren Zeitpunkt entlassen. Es wäre das übliche Prozedere gewesen, die Kettenhunde der Springerpresse wären gesättigt, einer der jederzeit Verfügbaren aus der Bundesliga-Reservearmee (Daum, Neururer, Stevens) jetzt womöglich HSV-Trainer. Er hätte es sich ebenso leichter machen können, hätte Arnesen die Entlassung hinausgezögert, und hinter Oennings Rücken einen Trainerwechsel forciert, sozusagen die Staffellauf-Methode. Stattdessen wählt er die in diesem Metier mutigste Variante – er beruft sich auf seinen Verstand. Was geschieht dann? Sofort stellen Arnesen und HSV-Präsident Jarchow klar, dass kein Feuerwehrmann, keine kurzfristige Lösung, sondern ein Kontinuität versprechendes Langzeitprojekt angepeilt wird. Auch wird darauf verwiesen, dass diese Suche umfangreich gestaltet wird, dass mit vielen Trainern gesprochen wird, dass es keinen Favoriten gibt, dass es kein fest gestecktes Zeitfenster gibt, kurzum: die Rahmenbedingungen einer längeren Trainersuche sind skizziert. Es geschieht, was in diesem Trainer-Wechsle-Dich-Spiel immer geschieht: Namen kursieren, werden dementiert, Trainer machen auf sich aufmerksam, es wird dementiert, die Medien hecheln, doch Arnesen kommentiert nicht: er dementiert. Huub Stevens macht einen kapitalen Fehler, der im Nachhinein wie ein kluger Schachzug erscheint: wohl um sich für Schalke freizuhalten, wendet er sich in einer Situation, in der Diskretion gefragt ist, an die Öffentlichkeit. Sergej Barbarez macht einen kapitalen Fehler, der im Nachhinein einfach nur blöd erscheint: er macht dasselbe. Immer wieder wird seitens des HSV darauf verwiesen, dass man zwar nicht endlos, wohl aber bis zum Winter Zeit habe. Der einzige Kommentar zu öffentlich kolportierten Trainern besteht darin, nichts kommentieren zu wollen. Der Interimstrainer, Rodolfo Cardoso, wird öffentlich gestützt und gelobt. Der HSV fängt sich sportlich, liefert zwei überzeugende Spiele, von denen eines gewonnen, das andere nur knapp verloren wird. Aus rechtlichen Gründen darf Cardoso schließlich nicht mehr als Cheftrainer fungieren, also übernimmt Arnesen, der eine Trainerlizenz besitzt, zumindest formal dessen Posten. Gleichzeitig arbeitet er an einer Lösung, die nicht die schnellste, sondern die beste ist. Eigentlich ganz nachvollziehbar, oder?

Weit gefehlt! Als hätte es all die Erklärungen und Erläuterungen des HSV gar nicht gegeben, stürzen die deutschen Print- und Onlinemedien wie hungrige Wölfe auf ihre zwar wehrhafte, aber körperlich unterlegene Beute. Ich möchte die reißerischen Schlagzeilen nicht wiederholen, sie sind jedem Beobachter der Fußballszene geläufig und überdies nicht sonderbar originell. Fast alle tragen die Bezeichnung „peinlich", nicht selten fällt der Begriff „Posse". Sie alle eint, dass sie dem HSV und damit Arnesen kontinuierliches Missmanagment unterstellen. Was die Fragen aufwirft: was war denn nun peinlich? Worin besteht denn nun die Posse?

Die Antwort darauf erübrigt sich, wenn wir auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: was war eigentlich geschehen? Ein Trainer wurde gesucht. Ein Trainer wurde gefunden. Arnesen wollte sich Zeit nehmen. Hat er getan. Er wollte eine konzeptuelle Lösung. Hat er geliefert. Er präsentiert nun tatsächlich nicht die schnellste, sondern eine echte Premiumlösung. Wer ist eigentlich für Erfolg oder Misserfolg des nächsten Trainers verantwortlich? Nicht die Fans, nicht der Aufsichtsrat, und vor allem nicht die Medien.
Zwei Ergänzungen sind an dieser Stelle allerdings zu machen. Zunächst soll nicht beschönigt werden, dass der AR (nicht nur) in informeller Hinsicht ein Problem darstellt. Nur glaube ich, dass in den letzten Wochen weniger Interna denn wilde Spekulationen kursierten, ganz im Gegenteil: gerade weil erstaunlich wenig Informationen durchsickerten, wurde eine angebliche Posse dort geschaffen, wo eigentlich gar keine war. Zweitens waren es nicht nur die Medien, die sich am Arnesen-Bashing beteiligten. Ein Blick in die spox-community-Beiträge der letzten Wochen zeigt überdeutlich, wie das eingangs erwähnte Mob-Prinzip funktioniert: jede Form von Nicht-Wissen wird ausgefüllt mit Vorurteilen und Gerüchten.

Meinen ehemaligen Mitschüler sehe ich jetzt übrigens häufiger. Es hat sich herausgestellt, dass wir beide schon immer große HSV-Fans waren.
Aufrufe: 20679 | Kommentare: 38 | Bewertungen: 33 | Erstellt:13.10.2011
ø 9.4
hsv  |Arnesen  |Oenning  |Fink  |
KOMMENTARE
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Jura
14.10.2011 | 13:45 Uhr
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Jura : 
14.10.2011 | 13:45 Uhr
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Jura : 
Super Blog!!!!

Hab auch selten so einen Blog gesehen.
Ich bin selbst HSV fan und muss zugestehen das ich auch leicht von diesen Printmedien beeinflusst wurde.

Ich zwar immer ein befürworter von Arnesen. Aber in meinen Augen hätte es damals schneller vonstatten gehen sollen was die Trainer suche angeht.
Danke fürs Augen öffnen

@ Schnitzelbrecher
Die Journalist en wollen geld verdienen. Das tun sie durch auflagen.
Der User bacchus tut es für kein Geld somit kann er schreiben was er wirklich denkt oder was auch tatsächlich passiert.
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Rabiatti
14.10.2011 | 14:01 Uhr
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Rabiatti : 
14.10.2011 | 14:01 Uhr
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Rabiatti : 
Du bringst es auf den Punkt bacchus!

Der HSV wurde in den letzten Tage immer wieder als Trümmerhaufen dargestellt, doch so ist es keineswegs.
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Schnumbi
14.10.2011 | 14:03 Uhr
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Schnumbi : 
14.10.2011 | 14:03 Uhr
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Schnumbi : 
@ bacchus: auch ich als nicht HSV fan bin beeindruckt wie gut du die geschehnisse wieder gibst. ganz toll

Fink hat gute arbeit in basel geleistet und bisl tut mir der verein jetzt leid, so mitten in der siason einen neuen trainer ohne not suchen zu müssen.

da stelle ich mir immer wieder die frage "warum gibts keine transferperioden für trainer"?

wenn dies so wäre, wäre ein gewisses maß an kontinuität schon mal gegeben .
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Schnitzelberber
14.10.2011 | 14:08 Uhr
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14.10.2011 | 14:08 Uhr
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@Jura

Sicher doch... Aber ich bin der Überzeugung das auch Auflage ohne Polemik geht.
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Holsti
14.10.2011 | 14:19 Uhr
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Holsti : 
14.10.2011 | 14:19 Uhr
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Holsti : 
Sorry, baccus, mein Fehler.

Ich meinte halt es wurde immer nur mit einem verhandelt. Doof geschrieben von mir. Geredet wurde natürlich mit mehreren. Sonst wüsste man ja gar nicht ob sie grundsätzlich Interesse hätten.

Dennoch bleibt meine Kernaussage:
Es wurde erst mit Stevens verhandelt, dann mit Fink.
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bacchus
14.10.2011 | 14:25 Uhr
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bacchus : 
14.10.2011 | 14:25 Uhr
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bacchus : 
@Schnumbumbel

Dank an dich wie an alle anderen User. Euer Feedback ist wie Wein auf des Bacchus Mühlen .

Dein Mitleid mit dem FC Basel kann ich gut nachvollziehen. Ich hab letztes Jahr eine Weile in Lörrach verbracht (zwei Kilometer von Basel entfernt) und dort viel von der Fink-Begeisterung mitbekommen. Ohne Frage ein echter Schlag für den Verein.
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xxlhonk
14.10.2011 | 14:38 Uhr
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xxlhonk : 
14.10.2011 | 14:38 Uhr
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xxlhonk : 
@bacchus
Erst wollte ich das Teil nicht lesen, weil deine Werbung mich genervt hat.
Obwohl ich eigtl. auf Werbung stehe.

Bin aber froh, dass ich dann doch diesen sehr guten Blog gelesen habe.
Der ist sehr stark und trifft auch genau meine Gedanken dazu.
100%ig

Ich finde es übrigens durchaus richtig, dass man mehrere Kandidaten diskutiert und dann in Einzelverhandlungen geht. Und nicht immer ist die erste Wahl am Ende auch die Wahl die einen überzeugt.
Das muss man dann, und das zeigt Stärke, auch so erkennen und dementsprechend handeln.
Auch wenn der Wunschkandidat selber das macht, was man nicht mehr amchen sollte und wollte und einem auch jeder vorhält, nämlich in dioe Presse zu gehen.
Auch das gehört zu einer Einschätzung der Person und ob diese passt oder nicht.
Es geht schließlich auch um Philosophie, Still und Verhalten.
ich muss sagen, das Arnesen einen super Job gemacht hat.
Auch weil er gegen alle Kritik einen Trainer gefunden hat, der ihn 100%ig überzeugt.
Und zu dem er auch steht.
und ja, das hat er auch bei Oenning gedacht.
Aber einige Dinge zeigen sich erst in der Realität ob sie funktionieren.
Und ob sie der Realität und den Ansprüchen gerecht werden.
Gerade in Krisenzeiten.
Da hat nicht jeder die Eier das dennoch durchzuziehen.
Wie gesagt, starker Blog!
Sehr!
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bacchus
14.10.2011 | 14:45 Uhr
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bacchus : 
14.10.2011 | 14:45 Uhr
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bacchus : 
@holsti

In numerischer Hinsicht hast du sicherlich Recht. Weil Stevens (vermutlich) die erste Wahl gewesen ist, wäre selbst ein Trainerstab aus Mourinho, Ferguson und der Asche von Ernst Happel nur die 1b-Lösung.

Betrachtet man die Trainersuche allerdings als zunächst ergebnisoffenen Prozess, kann man sowieso nicht von einer 1a-Lösung sprechen. Da spielten Faktoren wie Verfügbarkeit, Bereitschaft und Überzeugungskraft des Konzeptes eine Rolle. Fink wird sicherlich früh auf dem Zettel gestanden haben, nur eben nicht als die einzige Option.
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bacchus
14.10.2011 | 14:56 Uhr
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bacchus : 
14.10.2011 | 14:56 Uhr
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bacchus : 
@xxlhonk

Sorry für die Werbung, die war der Befürchtung geschuldet, dass dieser Kommentar ungelesen in den endlosen Weiten des Internets versandet.

Du führst großartig aus, was ich in letztem Kommentar als Faktoren einer Trainersuche bezeichnet habe. Arnesen hat extrem branchenunüblich gehandelt, sich mehrfach in Schusslinie begeben, sehr mutig und konsequent gehandelt, den Verlust seines guten Rufs riskiert, weil er eine Überzeugung hatte. Gefällt mir.
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xxlhonk
14.10.2011 | 15:03 Uhr
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xxlhonk : 
14.10.2011 | 15:03 Uhr
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xxlhonk : 
Ach was.
Werbung ist prima.
Ich habe mir nur angewöhnt das Anteasern von Blogs zu ignorieren.
Deinen habe ich aber direkt bei FB bei HSV@spox angeteasert.
Und das ganze wäre noch schneller passiert, wenn Du als HSV Fan sowieso, den Blog in der HSV@SPOX Gruppe gepostet hättest.
Aber anyway.
Guter Blog!
Sehr gute Schreibe!
Und grüße an den ehemaligen Klassenkameraden!
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