Edition: Suche...
Von: Voegi
27.04.2015 | 4123 Aufrufe | 4 Kommentare | 6 Bewertungen Ø 7.0
Fünf Fans, eine Leidenschaft
Fünfmal eins ist eins
Aus Liebe zum Fußball.

Die Fröhlichkeit ist nicht aus seinem Gesicht zu verbannen. Christopher ist ein glücklicher Mensch - trotz dieses schweren Schicksalsschlages, der sein Leben innerhalb weniger Monate auf den Kopf stellte. Eine seltene Stoffwechselkrankheit raubte ihm das, was für alle irgendwie so unverzichtbar scheint. Mit sieben Jahren hatte er sein Augenlicht komplett verloren. Nicht einmal Hell oder Dunkel vermochte er wahrzunehmen. Selbst grobe Umrisse waren für ihn nicht mehr zu erkennen: Alles Schwarz. Seit 15 Jahren nun kann Christopher die Welt nicht mehr sehen, nur noch fühlen, hören, schmecken, tasten. Doch von einem "nur noch" will er nichts wissen. Für ihn ist alles intensiv, greifbar, hautnah - vor allem der Fußball. Alle zwei Wochen bahnt er sich den Weg ins Stadion. Treppen erklimmt er, Schilder umkurvt er, Straßen überquert er - kein Hindernis ist groß genug, um Christopher aufzuhalten, wenn er sich, wie er es gerne beschreibt, seinen "persönlichen Kick" gibt. Fußball live im Stadion mit 60.000 Menschen, "was Geileres gibt es nicht". Dass er das Spielgeschehen nicht mit den eigenen Augen betrachten kann, stört ihn nicht. Der von seinem Verein eingerichtete Stadion-Hörfunk, über den ehrenamtliche Laienreporter jede Szene des Spiels in plastischer Präzision beschreiben, lässt in seinem Kopf die Bilder entstehen, die ihm seine Augen nicht mehr zu liefern imstande sind. Doch das Spiel seiner Mannschaft zu Hause im Radio zu verfolgen, käme Christopher nie in den Sinn. Er will dabei sein - in der Masse, eingetaucht in das kollektive Grölen und Jubeln der Fans, als Teil des Ganzen. Mittendrin.

60 Jahre hält sie ihnen schon nun die Treue. Damals, Mitte der 50er Jahre, hatte alles angefangen. Als sie ihr Vater aus einer Laune heraus einfach mal mitnahm. Nur so, zum Probieren, um einmal diese ganz besondere Luft zu schnuppern, wie er gerne sagte. Mit ihren zwölf Jahren hatte sie für Fußball eigentlich nichts übrig. Männersache - nichts für die feinen Damen. So dachte sie auch, als sie mit beachtlicher Skepsis dem seltsamen Vorschlag von Paps, wie sie ihren Vater in liebevollem Respekt nannte, zustimmte. Ein Jahr später starb Paps. Herzinfarkt, ganz plötzlich. Die Familie musste sich neu sortieren, suchte nach Antworten, nach einem Sinn, nach einer Perspektive. Renate suchte nicht, sie konnte keine klaren Gedanken fassen. Der Tod des Menschen, der ihr so viel bedeutete wie kein anderer auf dieser Welt, versetzte sie in einen Schockzustand. Fassungslos, wie gelähmt, unfähig, sich dem Leben wieder zuzuwenden. Eine psychologische Betreuung war damals noch nicht üblich, hätte ihr aber wohl so gut getan. So dauerte es ein halbes Jahr, bis sie lernte, mit dem schmerzhaften Verlust umzugehen. Ein Lehrer, einer, der es gut mit ihr meinte, riet ihr, ihren Vater doch weiter leben zu lassen. Nur ein bisschen, eben so, dass sie ihn an ihrer Seite fühlte. Indem sie etwas täte, das sie beide, nur sie beide miteinander, verband. Fußball! Die Idee befremdete sie zunächst, waren die Stadionbesuche für sie doch eher eine Pflichtübung, wenn auch eine angenehme. Aber jetzt auf einmal wieder damit anzufangen? Renate gab sich einen Ruck und folgte dem Rat. Sie ging (wieder) ins Stadion, alle zwei Wochen, all die Jahre. Oberliga, Bundesliga, 2. Bundesliga und wieder Bundesliga. Ohne Unterlass, ohne Pause. Bis es Ende der 90er Jahre nicht mehr ging. Die Hüfte spielte nicht mehr mit. Seitdem geht sie nur noch selten ins Stadion - zu ganz besonderen Anlässen. Doch ein Spieler ihrer Mannschaft verpasst sie nie. Ob im Fernsehen oder im Radio, sie fiebert mit, leidet, jubelt, feiert. Und denkt dabei immer auch an ihren Paps.

Viele Freunde hat er wohl nicht. Weggefährten, Bekannte, Kollegen ja, aber Freunde? Ganz wenige. In seiner Position kann man sich Freunde wohl auch nicht leisten. Als Unternehmensberater, der sich Rationalisierung und Lean Production auf die Fahnen geschrieben hat, sind ihm Mitleid und Empathie fremd. Nein, Jochen ist gewiss kein Kumpeltyp. Und doch: Er ist kein schlechter Mensch. Er hat es nur gelernt, seine Gefühle zu verbergen, hinter einem dicken Panzer, den nur ganz wenige zu durchdringen vermögen. Er mag die Rolle des knallharten Unantastbaren, auch weil sie die Verunsicherung, die ihn jeden Morgen beim Aufwachen überfällt, überdeckt. Keiner weiß, welche Zweifel und Ängste ihn plagen. Und das ist auch gut so. Sollen ihn die anderen ruhig als Maschine betrachten. Er weiß, dass er noch ein Mensch ist, der seine Gefühle nur selten nach außen treten lässt. So wie alle zwei Wochen, wenn er die angemietete Business Loge aufsucht, um das Spiel seiner Mannschaft aus nächster Nähe zu verfolgen. Jochen weiß um das schlechte Image der Logen-Besucher: Abgekühlt, abgesondert, abgehoben. Keine Fans wie die in den Kurven. Und doch fühlt er sich wie einer von ihnen: Mit dem Anpfiff wird sein Blick auf das Spielfeld gebannt, ohne dass er dieses in den 90 Minuten von diesem wenden könnte. Mal kurz raus einen Happen essen oder ein Schwätzchen halten, das käme für ihn nicht in Frage. Hypernervös, mit schweißnassen Händen und einem Puls von 180 verfolgt er die Heimspiele seines Teams, ohne währenddessen auch nur einmal einen Gedanken an Entlassungen, Umstrukturierungen und Börsenkurse zu verschwenden. 90 Minuten lang ist Jochen nur Fan, nur Mensch.

Die Entscheidung war ihm seinerzeit nicht leicht gefallen. Das Angebot war verlockend: 200.000 Euro Jahresgehalt, verantwortungsvolle Position, dazu ein Haus in traumhafter Lage mit Blick auf den nahegelegenen See. Besser ging's nicht. Doch der deutschen Heimat für lange Zeit den Rücken zu kehren, die Familie aus ihrem gewohnten Umfeld herauszureißen, Freunde zurückzulassen - all das fiel Martin sehr schwer. Und vor allem: Bundesliga nur noch über Satellit. Keine Stadionbesuche mehr, keine Fußball-Fachgespräche mit Kollegen mehr, keine Fahnen und Schals mehr - der Fußball und damit sein Verein würden ein ganzes Stück von ihm wegrücken. Der Kopf sagte Ja, das Herz sagte Nein. Martin hörte auf seinen Kopf und ging den Schritt nach Kanada. In eine andere Welt, in ein neues Zuhause, in eine andere Zukunft, in der für Fußball kein Platz mehr sein könnte, wie er glaubte. Doch auch 7000 Kilometer von der Heimat entfernt ließ er ihn nicht los. Auch in weiter Ferne blieb er seiner Mannschaft ganz nah. Er schaute jedes Spiel im Fernsehen, suchte sich alle Highlights über YouTube-Videos, Sport-Portale und Ticker zusammen und begann irgendwann seinen eigenen Blog zu schreiben: "Martin's View", so unscheinbar und bescheiden betitelte er seine Webseite, über die er seine Wahrnehmung der Bundesliga und von seinem Club zum Besten gab. Schnell wurde die Seite zu einem echten Renner mit beachtlichen Klickzahlen. Die Fans gewannen Gefallen an Martins Außenansicht aus Kanada, die wohl auch wegen der räumlichen Distanz sehr klug, abgewogen und vernünftig klingt. Doch Distanz hat Martin nie gewollt. In seinem Herzen ist er immer ganz nah dran.

Alle lieben Josy - und Josy liebt Fußball. Es ist ihr Leben. Sie schläft in der Bettwäsche ihres Vereins, hat ihr Zimmer mit Postern ihrer Lieblingsspieler plakatiert, Schals und Devotionalien auf Schrank, Schreibtisch und Kommode gepackt. Josy, das ist 24 Stunden Fußball am Tag. Mit kindlicher Begeisterung, unerschöpflicher Leidenschaft und einer Liebenswürdigkeit, wie sie nur Menschen wie sie verströmen können. Trisomie 21 ist die korrekte medizinische Bezeichnung, Down Syndrom die gängige, allgemein verständliche Umschreibung. Doch wer Josy kennenlernt, weiß, dass es nur eine richtige Diagnose gibt für das, woran sie nun schon seit 17 Jahren "leidet": Schwere Form von Herzenswärme - von Geburt an. Man muss Josy einfach mögen. Wie sie nach Toren ihrer Mannschaft in verspielter Eksktase durch ihr Zimmer tanzt, wie sie die Namen der Spieler mit schmachtend-verdrehten Augen in den Raum haucht, wie sie voll ungeduldiger Vorfreude auf dem Weg ins Stadion von einem Bein auf das andere hüpft. Verächtliche Blicke von herzlosen Griesgramen werden von ihr nur weggelächelt. Josy kann nicht traurig sein. Sie lebt, sie liebt, sie träumt - vom Fußball und ihren Lieblingen auf dem Platz. Die ansässige Tageszeitung widmete ihr vor kurzem einen ausführlichen Bericht im Lokalteil. Überschrift "Josy - ein Lächeln für den Fußball". Wie treffend.

Christophers Fußballherz schlägt übrigens für Schalke 04. Renate ist glühender Anhänger des BVB. Jochen ist Zeit seines Lebens Fan des VfB. Martin bleibt auf ewig dem FCB treu. Und Josy liebt den 1. FC Köln. Die Fünf fiebern mit ganz unterschiedlichen Vereinen und doch verbindet sie mehr, als sie trennt: Die Leidenschaft am Fußball, die sie trotz mancher Irrungen und Wirrungen des Leben hemmungs- und kompromisslos ausleben. Damals, heute und in Zukunft. Die Begeisterung für den Fußball ist keine Frage von krank oder gesund, alt oder jung, arm oder reich, behindert oder nicht behindert. Fußball verbindet - über alle (Vereins-)Grenzen hinweg.

ø 7.0
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Voegi
MODERATOR
27.04.2015 | 17:46 Uhr
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Voegi : 
27.04.2015 | 17:46 Uhr
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Voegi : 
Diesen Text hatte ich für eine mögliche weitere Runde im Blogpokal vorbereitet. Da mich Roy aber vollkommen verdient geschlagen hat, komme ich jetzt nicht mehr dazu, das im Blogpokal zu veröffentlichen. Ich will aber dann doch nicht ganz bei Seite lassen und veröffentliche es eben so, außerhalb des Wettbewerbs.
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ausLE
MODERATOR
28.04.2015 | 11:34 Uhr
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ausLE : 
28.04.2015 | 11:34 Uhr
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ausLE : 
Und das völlig zu Recht!!
Gaaaaanz starker Blog Voegi. (mit dem Du RRA mMn locker geschlagen hättest!)
5 verschiedene Vereine - 5 verschiedene Geschichten!
Also ich mag so etwas!!

Jemand hat ja diesen Blog eine 1 gegeben. Mich würde echt mal interessieren, warum?


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Kariro
28.04.2015 | 14:24 Uhr
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Kariro : 
28.04.2015 | 14:24 Uhr
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Kariro : 
Top. Wirklich ein ganz starker Blog.

Vorallem die Message dahinter ist klasse. Egal von welchem Verein man Fan ist und egal von welchem Verein mein Gegenüber Fan ist, es ist die Hingabe für den Fussball die uns in den Farben vielleicht trennt, aber in der Sache vereint
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karimi
28.04.2015 | 14:53 Uhr
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karimi : toller blog aber jochen??
28.04.2015 | 14:53 Uhr
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karimi : toller blog aber jochen??
Eine tolle Idee Voegi und liest sich wie immer hervorragend. Nur was ist mit Jochen? Die Generalisierung über das Berufsfeld kann man sich sparen. ex Berater und Private Equity Investor. Ich hab aber schon 1,2 Freunde ;)
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