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In 40 Sekunden kann sich alles verändern

SPOX taucht ein in die Kunst des Play-Callings
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Wie also läuft das Play-Calling ab? Wie entscheiden Coaches ganz konkret, welchen Spielzug sie ansagen? Ein Trend, der ebenfalls auf Brown und Walsh zurückgeht, ist das Play-Scripting; gemeint ist das Vorausplanen einer bestimmten Anzahl an Plays für ein Spiel. "Opener" nannte Walsh diese Plays, McVay spricht von "Priority Plays". Es ist kein Plan, der blind befolgt wird. Eher ist es das Ziel, bestimmte Spielzüge und damit einhergehend die Defense zu testen.

"Als ich für Marc Trestman gearbeitet habe, der ja ein großer Fan der West Coast Offense ist, wurden ich glaube die ersten 20 oder 25 Plays geskriptet", berichtete Reinebold, und McVay betonte: "Das sind Spielzüge, von denen wir wissen, dass wir sie irgendwann ansagen wollen, wenn wir in normalen Down-and-Distance-Situationen sind. Man muss immer darauf achten, dass man nicht in zu lange Downs zurückfällt. Fleichzeitig muss man auch bereit sein, sich an verschiedene Situationen anzupassen."

Noch unter Brown bereitete Walsh etwa die ersten zwei oder drei Plays vor. Bei den Chargers anschließend schraubte er die Zahl auf zehn bis zwölf hoch, ehe er schließlich in San Francisco erst bei 25 geskripteten Plays den Schlussstrich zog. "Man trifft am Donnerstagabend deutlich bessere Entscheidungen als am Sonntag mitten im Spiel", pflegte Walsh immer zu sagen. So traf er im Vorfeld sorgsam eine Auswahl an Spielzügen, die er möglichst in der ersten Halbzeit unterbringen wollte - mit diversen Zielen im Hinterkopf.

Walsh ging es darum, bestimmte Formationen mehrfach zu nutzen und zu sehen, wie der Gegner darauf reagiert. Darauf aufbauend konnte er später im Spiel aus der gleichen Formation ein ganz anderes Play ansagen. Er konnte seine Trick-Spielzüge und sonstigen Überraschungen gezielter einplanen, was vor allem Brown immer sehr wichtig war. Und er konnte sehen, wie sich etwa seine Offensive Line bei bestimmten Plays gegenüber dem Pass-Rush verhielt, und wo er möglicherweise im Laufe des Spiels Anpassungen vornehmen musste.

"Was ist die Identität des Gegners?"

Arizonas Bruce Arians nutzt das erste Viertel bevorzugt, um verschiedene Spielzüge zu testen und zu sehen, wie die Defense darauf reagiert. Dabei geht es gleichzeitig stets darum, selbst nicht vorhersehbar zu werden oder in gewisse Muster zu fallen. All das hilft dabei, einen Rhythmus zu bekommen.

Das ist gemeint, wenn davon die Rede ist, dass ein Play-Caller ein Gefühl für den Spielfluss hat. Eine Idee, wie die Defense reagiert. Es sind mitnichten schlichte Bauchentscheidungen, dabei spielen vielmehr ganz konkret die Reaktionen der Defense in bestimmten Situationen sowie die Vorbereitung im Game Plan eine große Rolle.

"Was ist die Identität des Gegners? Diese versucht man ihnen dann wegzunehmen. Sie sollen gezwungen sein, auf eine andere Art und mit anderen Spielzügen zu spielen, die sie vermutlich nicht so oft geübt haben", erklärt Campos Neves seine Philosophie in der Vorbereitung auf ein Spiel.

Er schaue sich "immer zuerst die Front und die Safeties an. Dann habe ich ein Gefühl dafür, was sie spielen - gerade die Safeties verraten einem schon viel darüber, welche Coverage die Defense spielt. Der nächste Schritt ist dann: Welche Blitz- und Pressure-Pakete haben sie? Welche Variationen nutzen sie in der Coverage? Wollen sie dabei irgendetwas verstecken?" Reinebold geht in eine ähnliche Richtung: Man müsse "auch auch über den Blitz und Pressure sprechen und sich Pässe dafür zurechtlegen."

Die Kunst, eine Defense zu täuschen

Diese Erfahrungswerte aus den ersten Plays nutzen Play-Caller dann, um im weiteren Spielverlauf mit einem gewissen Gefühl für die Reaktionen der Defense ihre eigenen Plays zu kontern. Hier kommt man zwangsläufig auf McVay zurück, denn eine große Stärke seines Schemes ist es - genau wie im Scheme von Kyle Shanahan - das Run Game mit dem Passing Game zu kombinieren. Bedeutet: Es gibt in Sachen Formation und genereller Aufstellung für die Defense möglichst keinerlei Fingerzeig, ob ein Lauf- oder ein Passspielzug kommt.

Das hat weitreichende Konsequenzen: Das Play-Action-Spiel bei vermeintlichen Run-Downs ist deutlich effizienter, da die Defense tatsächlich einen Lauf erwartet und auch durch die Blocking-Schemes in die Falle gelockt wird. Die Aufmerksamkeit der Defense kann so extrem manipuliert werden. Unter Shanahan entstanden bei den Falcons 2016 stolze 27 Prozent der Passspielzüge via Play Action, der klare Liga-Höchstwert und neun Prozent über dem damaligen Liga-Schnitt. Satte 10,3 Yards sprangen dabei pro Play-Action-Pass heraus, nur ein Team war hier besser: die Washington Redskins (10,4 YDS/Play) mit McVay als Offensive Coordinator.

Und es wird noch schwieriger aus Sicht der Defense: Ein guter Play-Caller verknüpft nicht nur seine Run- und Pass-Plays, er lässt die Defense auch während des Spielzugs weiter im Unklaren. So entwickeln sich manche Rams-Plays aus gleicher Formation im ersten Moment auch nach dem Snap identisch, nur um plötzlich eine ganz andere Richtung einzuschlagen.

Defensiv ist die grundlegende Vorbereitung gar nicht so unterschiedlich, wie Campos Neves erläuterte: "Auch defensiv geht es darum, herauszufinden, wo die Stärken des Gegners liegen. Hat er beispielsweise einen besonders guten Wide Receiver, den wir separat betrachten müssen? Welches System spielen sie? Welche Runs, welche Pass-Konzepte?" Klar ist aber auch: Eine Defense ist im Play-Calling in den allermeisten Fällen in einer reaktionären Position, eine gute Offense kann hier entschieden häufiger den Ton angeben.

Tony Dungy: "... das ist schwer zu verteidigen"

So wird nach und nach klarer, warum Play-Calling unter Coaches als eine ganz eigene Kunst angesehen wird. "Die Jungs, die am schwierigsten zu verteidigen sind, sind diejenigen, die in keinerlei Muster verfallen", betonte Ex-Colts-Coach Tony Dungy, der über Jahre für die Defenses der Pittsburgh Steelers und der Minnesota Vikings verantwortlich war, einst in einem Interview mit der New York Times. "Die problematischsten Teams sind die, welche alles aus der gleichen Personnel-Aufstellung spielen können. Diese Teams geben dir drei oder vier Runs, die einander extrem ähneln, und bauen darauf dann Play-Action-Pässe auf. Das ist schwer zu verteidigen."

Dabei holen sich Coaches auch heute noch gerne den Impuls ihrer Spieler ab und lassen sie beispielsweise Spielzüge an der Line of Scrimmage noch kurzfristig ändern. "Teilweise hat mein Quarterback sogar selbst die Plays angesagt, um herauszufinden, was er sieht, das ich nicht sehe. Das war auch für mich sehr lehrreich und ich denke, dass es auch der Entwicklung der Spieler hilft", bestätigte Campos Neves.

Wenn sie über einen erfahrenen Quarterback verfügen, besprechen Coaches im Vorfeld mit ihm nicht nur den Game Plan. Sie geben ihm auch die Chance, konkreten Einfluss darauf zu haben. Das kann beispielsweise so aussehen, dass der Coach eine Vorauswahl an Spielzügen für sein Play-Scripting auswählt, um den Quarterback dann daraus wählen zu lassen.

Play-Calling ist so eine äußerst individuell geprägte Kunst. Unter welchen Coaches und in welchen Systemen hat der Head Coach selbst gelernt? Über welche Spieler verfügt er? Welche Coaching- und Spiel-Erfahrungen haben ihn geprägt? All das trägt ebenfalls zum "Fluss" im Play-Calling bei, den gute Coaches entwickeln können. Und doch erfordert es auch in jedem Spiel wieder besondere Fokussierung, um in den 40 Sekunden zwischen zwei Plays den Überblick zu wahren und sich nicht zu einer Kurzschlussentscheidung hinreißen zu lassen.

Es ist eine Kunst, die irgendwo schwer greifbar ist. Als ständiges Katz-und-Maus-Spiel, das aus Aktionen und Reaktionen besteht, ist es die Aufgabe eines Play-Callers, den eigenen Spielern eine bestmögliche Chance auf Erfolg zu geben. Das funktioniert mit "enorm viel Tape-Studium": Diese Antwort bekommt man von jedem, mit dem man über das Thema spricht. Die Vorbereitung ist ein entscheidender Aspekt, Walsh war der größte Meister darin. Anschließend geht es aber auch darum, im Spiel die richtigen Schlüsse zu ziehen und auf Formationen und Verhalten des Gegners zu reagieren. Und das ist bei all dem Spektakel und der Athletik der wohl spannendste Part im Football.

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