Kanadas prügelnder Musterknabe

Von Anant Agarwala
Jarome Iginla ist seit 2000 in jeder Saison Topscorer der Calgary Flames geworden
© Getty

Jarome Iginla ist zusammen mit Eishockey-Legenden Olympiasieger geworden. Jetzt ist er selbst eine Legende und will Team Canada in Vancouver erneut zur Goldmedaille führen. Iginla ist in jeder Beziehung ein außergewöhnlicher Typ. Er ist ein dunkelhäutiger Eishockey-Star, ein netter Kerl - und ein Prügelknabe.

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Die Fanghand von Mike Richter schießt nach oben, ist noch dran an der Hartgummischeibe. Abgefälscht trudelt diese durch die Luft Richtung Tor. Schläger-Kellen wischen nach ihr. Verpassen sie. Direkt links vom rechten Pfosten kommt sie auf - und rutscht gerade so über die Linie. Die Entscheidung. Team-Manager Wayne Gretzky hopst wie ein kleines Kind hinter der Bande, ganz Kanada liegt sich in den Armen. Noch sind vier Minuten zu spielen, doch es ist dieses Tor von Jarome Iginla zum 4:2 gegen den Gastgeber USA, das aus einem Traum Gewissheit werden lässt. Olympiasieger. Nach 50 Jahren.

Das war 2002 in Salt Lake City. Iginla hatte mit seiner Nominierung für das Turnier keineswegs gerechnet. "Ja, klar. Einer aus dem Team spielt mir einen Streich", war seine erste Reaktion, als seine damalige Freundin und jetzige Frau Kara ihm sagte, der kanadische Verband hätte für ihn angerufen. Aber der Anruf war echt - und lohnenswert für beide Seiten.

Eine Reihe mit Crosby?

Neben Legenden wie Mario Lemieux oder Joe Sakic wurde Iginla zu einem nationalen Helden. Acht Jahre später ist er mit seiner Rolle als Superstar längst vertraut und soll in Vancouver wieder Geschichte schreiben.

Am 30. Dezember hat Steve Yzerman, mit dem Iginla in Salt Lake City noch in einer Reihe spielte, den Kader bekannt gegeben. Iginlas Nominierung galt trotz des schier unerschöpflichen Reservoirs an kanadischen Eishockey-Größen schon früh als sicher. Vermutlich zusammen mit Rick Nash und Sidney Crosby wird Iginla eine mehr als außergewöhnliche erste Reihe der Kanadier bilden.

Persönlichkeit von Widersprüchen gekennzeichnet

Seit dem zarten Alter von drei Jahren steht Iginla auf Schlittschuhen. Seine Leidenschaft für den Sport ist der rote Faden in einer sonst von kleinen und größeren Widersprüchen gekennzeichneten Persönlichkeit.

Als Sohn eines Nigerianers und einer Kanadierin ist Iginla sich früh seiner Besonderheit in der "weißesten" Major-Sportart Nordamerikas bewusst. Er ist der einzige dunkelhäutige Spieler in seinem Jugendteam, den St. Albert Raiders. Wenn seine Mitspieler ihn fragen, wie er es als Schwarzer in die NHL schaffen wolle, sagt er, "schaut euch Grant Fuhr an, der hat den Stanley Cup geholt."

Wegen dieses berühmten dunkelhäutigen Torwarts stellt sich auch der junge Jarome zunächst zwischen die Pfosten, merkt aber schnell, dass ihm das Toreverhindern lange nicht so viel Spaß macht, wie den Puck selbst in der Kiste unterzubringen.

Diese früh entdeckte Leidenschaft für Tore ist ihm nie abhanden gekommen. 429 Treffer in der NHL sind es bislang (Stand: 30.12.09, Playoff-Tore ausgenommen) - allesamt für die Calgary Flames, den Erzrivalen der Oilers aus seiner Heimatstadt Edmonton. "Ich habe immer noch Probleme damit, meine alten Freunde zu Flames-Fans umzuerziehen", beschreibt Iginla die Schwierigkeiten für einen Mann aus Edmonton, beim Battle of Alberta mit dem "falschen" Trikot aufzulaufen. Als Kind hatte Iginla, natürlich, auch noch für die Oilers gejubelt. Doch heute ist er das Gesicht der Flames, ihr Franchise-Player.

Zwei Vorbilder: Messier und Shanahan

Zwei große Spieler spielen für Iginla als Vorbilder schon früh eine bedeutende Rolle: Brendan Shanahan und Mark Messier, den Iginla als seinen persönlichen "Playoff-Helden" bezeichnet. Wenn man so will, ist Iginla eine Mischung aus beiden.

"Mitgefühl, Können, Herz und Zielstrebigkeit" - mit diesen Attributen charakterisierte Messier Iginla, als er ihn nach der letzten Saison als Preisträger "seiner" Trophäe, des "Mark Messier Leadership Awards" auszeichnete. Mit diesem Preis werden jene Spieler geehrt, die auf und abseits des Eises als Führungspersönlichkeiten glänzen und sich in besonderer Weise engagieren.

Jarome Iginla tut dies zweifellos. KidSport, eine kanadische Non-Profit-Organisation, jubelt bei jedem Tor über 2000 Dollar, die Jarome Arthur-Leigh Adekunle Tig Junior Elvis Iginla - so sein vollständiger Name - pro Treffer spendet. Über 450.000 Dollar hat Iginla so bereits "erzielt".

Von Teamkollegen hoch geachtet

Sein karitatives Engagement beschreibt aber nur oberflächlich den Charakter Iginlas, der auch von sportlichen Gegnern als "classy guy" beschrieben wird. Sein Verständnis für seine Mitspieler und das Anführen seines Teams hat sein ehemaliger Flames-Kollege Andrew Ference mit dem Satz beschrieben, Iginla zu folgen, sei wie "einem Freund zu folgen".

Glänzt Iginla nicht als Führungsspieler, versucht er sich gerne auf den Greens in Calgary, sein größtes Hobby ist der Golfsport. Aber an diesen fachfremden Schlägern sei er nur "Durchschnitt", betont der Vater von drei Kindern immer lachend, wenn er nach seinem Handicap gefragt wird. Überhaupt lacht Iginla gerne. Eloquent, bescheiden und dennoch selbstbewusst und eben lachend - so reagiert er auf die Fragen der vielen Reporter, die im Mutterland des Hockey nach jedem Training, nach jedem Spiel auf den Superstar warten. Iginla, der Musterknabe.

Prügelknabe a la Shanahan

Das sonnige Gemüt und zuvorkommende Auftreten außerhalb des Platzes steht dem Eishockey-Spieler Iginla jedoch konträr gegenüber. Da kommt der Brendan-Shanahan-Part ins Spiel.

Wie dieser ist Jarome Iginla ein Power-Forward wie aus dem Lehrbuch. Aggressiv an beiden Enden des Spielfeldes, krachende Checks entlang der Bande, dazu ein präziser, sehr harter Schuss und trotz seiner Wucht und Masse viel Finesse und Geschicklichkeit im Umgang mit der Scheibe. "Er bringt alles mit. Er prügelt sich, er checkt und schießt Tore", sagt Craig Conroy, der Iginla 2003 das Kapitänsamt aus freien Stücken übergeben hatte, weil er merkte, dass der damals 26-jährige Iginla schon reif war, diese Verantwortung zu übernehmen.

Schon mehr als ein Gordie-Howe-Hattrick

Das Amt des Kapitäns bringt es für Iginla mit sich, des Öfteren die Handschuhe fallen zu lassen, wenn er ein Zeichen setzen will. Viele harte Zweikämpfe, höchste Intensität gehören zu Iginlas Spiel, so dass ihm schon mehr als einmal ein Gordie-Howe-Hattrick, also ein Tor, Assist sowie ein Faustkampf innerhalb eines Spiels, gelungen ist. Rekordhalter in dieser inoffiziellen Statistik: Brendan Shanahan.

In Salt Lake City standen die beiden noch gemeinsam für Kanada auf dem Eis, das ist jetzt anders. Wie auch Messier, Yzerman, Lemieux oder Sakic ist Shanahan mittlerweile zurückgetreten. Die Gold-Hoffnungen bei den Heim-Winterspielen ruhen für Kanada daher zu einem wesentlichen Teil auf Jarome Iginla - ihrem prügelnden Musterknaben.

Oh Canada! 23 Spieler, 23 Superstars