Das deutsche Turn-Lazarett hebt ab

SID
Philipp Boy will zusammen mit seinen Teamkollegen in London angreifen
© Getty

Gerade noch rechtzeitig zur Qualifikation am Samstag sind Philipp Boy, Fabian Hambüchen und Marcel Nguyen fit. Schmerzen gehören für die deutschen Turner dennoch dazu.

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Der dumpfe Aufprall war bis in den letzten Winkel der riesigen North Greenwich Arena zu hören, auch das erschreckte Luftholen der wenigen Beobachter.

Philipp Boy, Europameister im Mehrkampf, war beim Podiumstraining der Kunstturner aus den Ringen gerutscht und furchtbar aufgeschlagen, nun schien er kurz zu prüfen, ob alles noch beweglich sei, ehe er sich aufrappelte. "Ich bin heilfroh", sagte Boy später. Diesmal war nichts passiert. Noch Ende Juni in Cottbus hatte er sich bei einem Sturz den Rücken gestaucht und auf die Zähne gebissen - Alltag für Turner.

Kein Alltag war allerdings die Verletzungsserie, die die deutschen Spitzenkräfte in den vergangenen Jahren ereilt hatte und die noch Wochen vor den Spielen Trainerstab und Medizinern Sorgen machte.

Zeitweise entstand der Eindruck eines Lazarettes, das nun - gerade rechtzeitig vor der Qualifikation am Samstag - einen kraftvollen Eindruck verströmt, bereit zum Abheben zu artistischen Höhenflügen.

Verletzungspech der Deutschen

Das Timing ist erstaunlich. Bei Boy waren es - in wechselnden Kombinationen - Schulter, Handgelenk und Fuß. Der ehemalige Reck-Weltmeister Fabian Hambüchen verletzte sich 2009 schwer am Außenband, im Januar 2011 riss die Achillessehne, was seine Olympia-Vorbereitung zu einer heiklen und meist einsamen Prozedur machte. Marcel Nguyen schließlich klagt seit einem Wadenbeinbruch 2010 immer wieder über Schmerzen.

Schmerzen wiederum gehören bei diesem Sport mit den gewaltigen Kräften, die auf den Körper wirken, und den riskanten Manövern durchaus zum Alltag. "Die sind schon hart im Nehmen", sagt Teamarzt Hans-Peter Boschert über seine Schützlinge, die mit gewöhnlichen Blutergüssen und Schrammen gar nicht erst bei ihm vorstellig werden.

Dafür bestreitet Boschert energisch, seine Sportart sei besonders verletzungsintensiv: "Im Gegenteil, Turnen liegt im unteren Drittel." Außerdem seien die Turner perfekt auf die Belastungen vorbereitet, "für mich ist es in der Ausbildung des Körpers die vollkommene Sportart." Ihre Probleme würden sich Turner meist beim Fußballspielen holen, in der Freizeit.

Empfehlung eines Arztbesuchs

Verletzungen sind aber auch eine Frage der Maßstäbe. Wer den Sport nicht kennt und nach einer Barrenübung von Fabian Hambüchen aus der Nähe sieht, was die Holme mit seinen Armen gemacht haben, die die Flugeinlagen auffingen, würde ihm womöglich einen Arztbesuch empfehlen.

Für Boschert dagegen waren auch Boys starke Rückenschmerzen nach dem Cottbuser Sturz keine eigentliche Verletzung: "Da war ja kein struktureller Schaden." Bei Olympia mischt sich dazu jede Menge Adrenalin in die artistische Welt der Schmerzen. "Hier gelten eigene Gesetze, da nimmt man viel in Kauf", sagt Boschert. Schmerzmittel würden eher niedrig dosiert, die mentale Seite sei wichtiger.

Das bestätigt Hambüchen indirekt, wenn man ihn auf seine Verletzungsgeschichte anspricht: "Ich bin hier und ich bin fit, das zählt. Die anderen Gedanken brauche ich nicht im Kopf."

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