"Ich scheiß' auf Ruhm und Geld!"

Von Bärbel Mees
Bode Miller stand bei 32 Weltcup-Rennen ganz oben auf dem Treppchen
© Getty

Von den Fans geliebt, von den Funktionären gehasst: Bode Miller fährt halsbrecherisch, aggressiv und kompromisslos. Alles oder nichts - das ist seine Devise. Auf der Piste wie im Leben.

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"Come on, Bode!" Die Anfeuerungsrufe vom 125-Kilo-Koloss Pete Lavin, aka Baby Huey, sind legendär. Lavin ist nicht nur Fahrer, Bodyguard, Fotograf, Masseur und Maskottchen des US-Ski-Teams in einem, sondern vor allem Bode Millers Motivator. Seine Aufgabe: Amerikas Enfant terrible im Starthaus ordentlich Feuer unterm Hintern machen.

Und das braucht Bode Miller. Der 33-Jährige ist einer der erfolgreichsten Skifahrer des Weltcups - aber auch der eigensinnigste. Bei ihm scheiden sich die Geister: Von den Fans wird er geliebt, von Trainern und Funktionären nicht selten gehasst.

Er hat den Ruf eines Rüpels, eines Rebels, eines Großmauls. Zumindest aber ist er unkonventionell - und das war er schon immer.

Leben fernab der Zivilisation

Geboren wird Miller 1977 in Easton, einem kleinen Dorf inmitten der White Mountains in New Hampshire. Mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern lebt er in einer Holzhütte im Wald.

Es gibt kein fließendes Wasser, keinen Strom - und die Toilette ist ein Plumpsklo in einem wackligen Verschlag vor der Tür. Die Hausaufgaben werden im Lichtschein von Kerosinlampen gemacht, und bevor es ins Bett geht, wird noch das Holz für den nächsten Tag gehackt.

Kein bequemes Leben, aber ein glückliches - zumindest für einen Abenteurer wie Miller. Er streunt durch die Wälder, rast auf seinen Skiern die umliegenden Hänge hinunter, kickt mit seinen Freunden und spielt Hockey, Basketball und Tennis.

Miller: "Krieche nicht zu Kreuze"

Im Alter von 15 Jahren wird Miller auf der Carrabassett Valley Academy angenommen, die die Mitglieder der amerikanischen Ski-Nationalmannschaft aufs College vorbereitet. Um zur Schule zu kommen, muss er die eineinhalb Kilometer bis zur Hauptstraße mit dem Schneemobil zurücklegen und den Rest des Weges per Anhalter fahren. Jeden Tag.

Doch nicht der Schulweg bereitet dem Teenager Probleme, sondern die Schule selbst. Miller sind die strengen Regeln zuwider, wird oft zum Rektor zitiert.

"Ich kann Anweisungen Folge leisten, wenn es nötig ist. Doch ich krieche vor niemandem zu Kreuze, ich lecke niemandem dem Speichel, niemand kann erwarten, dass ich mich unterwerfe", erklärt Miller.

Beim Skifahren findet er die Freiheit, die er sucht. "Wenn ich auf Brettern den Berg hinunterfahre, ist meine einzige Beschränkung die Schwerkraft, die Reibungsenergie zwischen Ski und Schnee."

Cash or Crash

Als Jugendlicher nimmt Miller an regionalen und nationalen Rennen teil und macht bald auf sich aufmerksam. Er fährt nicht schön, aber schnell.

Halsbrecherisch stürzt er sich die Pisten hinunter, fährt einen kompromisslosen Kurs - und endet nicht selten in den Absperrungen. Cash or crash ist seine Devise. Langsamer fahren kommt für ihn nicht in Frage.

Statt Ratschläge entgegenzunehmen, schaltet er auf stur. Keine leichte Aufgabe für seine Trainer. "Bode reicht es, wenn er einen tollen Skitag hat. Aber wir sind doch nicht in einer Selbsterfahrungsgruppe", murrte einst Phil McNichol, Ex-Cheftrainer des US-Skiteams.

Miller aber rechtfertigt sich: "Auch wenn ich nicht gewinne, macht es mir trotzdem noch Spaß. Wäre das nicht so, hätte ich einen langen und steinigen Weg gehabt. Mir geht's um Spaß und nicht darum, einen Pokal im Schrank stehen zu haben. Ich scheiße auf Ruhm - und aufs Geld."

Turin 2006: Kneipen statt Medaillen

Deutlich wird diese Einstellung bei den Olympischen Spielen in Turin. Vier Jahre zuvor hatte Miller zweimal Silber gewonnen. Nun erwartet Amerika Gold - und die Medien machen Druck.

Doch Bode Miller reagiert so wie immer, wenn ihm etwas nicht passt: Er schaltet auf stur. Statt Medaillen zu gewinnen, zieht er durch die Bars.

"Ich sollte damals gewinnen und alle haben sich geweigert zu registrieren, dass ich ihnen sagte, das sei unmöglich. Je näher die Spiele kamen, desto mehr trieben sie mich mit ihren Erwartungen in die Falle", erklärt Miller im Rückblick und fügt an: "Wenn so etwas über lange Zeit in den Medien steht und Millionen Menschen dies übernehmen, dann hast du irgendwann das Gefühl, nicht mehr Herr über deine eigenen Aktionen zu sein. Man nimmt dir die Freiheit. Ich habe in Turin die Lust verloren, die Lust am Skifahren, die Lust an mir selbst."

Nach den Spielen denkt Miller ans Aufhören, doch er reißt sich zusammen: "Ich hatte meine persönlichen Ziele noch nicht erreicht."

Neureuther: "Bode ist eine Ausnahmeerscheinung"

Den Beweis für die Richtigkeit seiner Entscheidung liefert er vier Jahre später: In Vancouver gewinnt Miller einen kompletten Medaillensatz. Doch noch mehr als über seine Goldmedaille in der Super-Kombination freut er sich über seinen perfekten Lauf.

"Es kommt eigentlich darauf an, dass man für sich den bestmöglichen Lauf hinlegt. Dass man bereit ist, in diesen Bereich des Risikos zu gehen. Wenn man sich das traut, dann kommt man in eine Dimension, von der man zuvor gar nicht geahnt hat, dass es sie überhaupt gibt. Auf diese Weise inspiriert man sich selbst, die anderen Sportler und die Jugend. Darum geht es bei Olympia und nicht um die Milliarden von Dollar, die im Spiel sind."

Nicht wenigen Funktionären und Trainern ist seine unkonventionelle Art ein Dorn im Auge. Doch die Fans lieben ihn. "Es ist völlig egal, wo im Weltcup er startet. Er wird immer genauso angefeuert, als wäre er ein Einheimischer. Miller ist eine Ausnahmeerscheinung. Ich habe großes Glück, dass ich mit einem solchen Menschen meinen Sport ausüben darf", sagt Felix Neureuther. Österreichs Ski-Crack Stephan Eberharter sieht es ähnlich: "Bode ist ein Glücksfall für den Skisport."

Trainingsmethoden a la Rocky

Miller ist sich bewusst, dass er mit seiner Art aneckt und provoziert, doch es ist ihm egal. "Ich könnte genau das Richtige essen, jede Nacht neun Stunden schlafen und ein kompletter Roboter sein. Und bestimmt hätte ich dann auch eine viel bessere Kondition. Aber glücklich wäre ich damit nicht."

Und so geht er seinen eigenen Weg: Statt mit seinen Kollegen während der Saison in Hotels zu wohnen, tingelt er mit seinem Wohnmobil von einem Weltcuport zum nächsten. Immer mit dabei: Sein Teddybär.

Er trinkt, feiert und genießt, aber: "Ich trainiere hart. Training bedeutet, dass die Slalomstangen einem die Beine peitschen, dass man aus der Spur fliegt, dass man mit der Fresse voraus durch die Strecke pflügt, dass man mit dem Arsch in Absperrungen knallt und das jeden Tag."

Um Farbe in dem Trainingalltag zu bringen, ersinnt Miller Methoden a la Rocky. Mal legt er mit seinem Cousin auf dem Rücken bis zu fünf Meilen auf dem Einrad zurück, mal schiebt er ein verlassenes Schneemobil den Holzfällerweg hinauf. Hauptsache, es tut weh. "Man tut es, bis man kotzt. Und zwar richtig kotzt. Es muss einen würgen, dass es einem den Magen umdreht, die Augen aus den Höhlen treten und der Nabel an der Wirbelsäule klebt."

Ausflug in die Tennis-Welt

So hart Miller im Winter trainiert, so sehr liebt er es, im Sommer eine ruhige Kugel zu schieben: Er grillt mit seinen Freunden, liegt in der Hängematte oder verbringt den Tag auf dem Golfplatz. Doch nach den Erfolgen in Vancouver taucht auch der Gedanke an ein Karriereende wieder auf: Miller zieht sich zurück, denkt nach, spielt Tennis.

Und: In ihm reift eine Idee heran: Er will sich für die US Open im August qualifizieren.

Anfang Juni nimmt er an einem regionalen Ausscheidungsturnier auf Hawaii teil. Doch für den Sportfanatiker, der 1996 Tennis-Einzelmeister von New Hampshire wurde, ist bereits in der ersten Runde Schluss.

Er unterliegt dem Schweden Erik Nelson-Kortland in zwei Sätzen mit 4:6 und 2:6. Ein kurzer Ausflug in die Tennis-Welt, doch Bode Miller hat er genügt, um wieder zu wissen, was er will: Zurück auf die Piste.

Geschwindigkeitsfanatiker und Adrenalinjunkie

Was ihn am Skifahren reize, sagte er einmal, sei die irrsinnige Geschwindigkeit, der Rauhreif in seinem Gesicht, der Schlag der Stange an seinen verschrammten Schienbeinen.

"Mich zieht die ungezähmte Seite an, ich will in die Vollen gehen, will die Geschwindigkeit spüren, von der die Ski gepackt werden und die mir die Luft aus der Lunge drückt, die in meinem Gesicht die Haut zittern lässt, die jedes Gelenk in meinem Körper flattern und alles so schnell vorbeifliegen lässt, dass ich nichts mehr deutlich erkennen kann", sagt Adrenalinjunkie Miller und fügt an: "Es ist besser, zu stürzen und den Rest zu Fuß zu gehen, als mangels Mut und Fantasie Zehnter zu werden."

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