WM

"Mein Vater wurde wie der Papst gefeiert"

Von Interview: Christian Bernhard
Salvatore Schillaci erzielte in 16 Länderspielen für Italien sieben Tore
© Imago

Vor 20 Jahren wurde Deutschland letztmals Weltmeister. Das Gesicht von Italia 90 war jedoch Salvatore "Toto" Schillaci. Der Italiener wurde mit sechs Treffern Torschützenkönig und spielte sich die Herzen der Tifosi, obwohl er kurz davor noch ein Nobody war. Im SPOX-Interview spricht der 45-Jährige über den damaligen Wahnsinn, Roberto Baggio und den "nächsten Schillaci".

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SPOX: Herr Schillaci, was geht in Ihnen vor, wenn Sie im Radio "Notti magiche", den Soundtrack zur WM 1990, hören?

Salvatore Schillaci: Sobald eine WM vor der Tür steht, gehen meine Gedanken unweigerlich an den Sommer 1990 zurück. Alle vier Jahre bekomme ich Anrufe aus der ganzen Welt, dazu laufen die Bilder von Italia 90 wieder im Fernseher. So etwas Tolles ist schwer zu vergessen - auch wenn es schon 20 Jahre her ist. Mir kommt es so vor, als wäre es gestern passiert. Die WM 1990 war eine Riesen-Sache für mich, sie hat mich in der ganzen Welt bekannt gemacht.

SPOX: Sie wurden in jenem Sommer zum Symbol einer ganzen Nation. Haben Sie das bereits während der WM realisiert?

Schillaci: Ich wurde zum Symbol, als ich anfing zu treffen. Die Tifosi verfolgten uns überall hin, besonders in Palermo war die Hölle los: Vor unserem Haus versammelten sich Tausende von Menschen, mein Vater wurde wie der Papst gefeiert, wenn er sich am Balkon zeigte. Das alles war fantastisch und schwierig in Worte zu fassen.

SPOX: Wie war dieses Märchen möglich?

Schillaci: Ich hatte das Glück, Teil einer tollen Gruppe zu sein. Gianluca Vialli, Roberto Baggio, Franco Baresi, Paolo Maldini, Giuseppe Bergomi, Roberto Donadoni - das waren allesamt große Persönlichkeiten. Der Druck war da, aber im Mannschaftsquartier waren wir ruhig und konzentriert. Wir wussten, dass das sehr wichtig ist. Ich persönlich war sowieso die Ruhe selbst, habe gar nicht über all das nachgedacht. "Was soll mir schon passieren?",  habe ich mir immer gesagt. Ein Jahr zuvor war ich ja noch in der 2. Liga, alles was noch kam, war eine Zugabe. Ich hatte überhaupt keinen Druck.

SPOX: Können Sie sich noch an den Beginn Ihres WM-Abenteuers erinnern? An den Anruf von Nationalcoach Azeglio Vicini?

Schillaci: Ich wurde als allerletzter Spieler in den WM-Kader berufen. Das war sehr überraschend für mich, ich habe es nicht erwartet - auch weil ich bis dahin nicht ein einziges Freundschaftsspiel mit dem Nationalteam bestritten hatte. Ich war überglücklich, überhaupt dabei zu sein.

SPOX: Ermöglicht hat Ihnen das eine tolle Saison mit Juventus Turin.

Schillaci: Im Sommer 1989 stand ich ja noch beim Zweitligisten Messina unter Vertrag. Nachdem ich dort Torschützenkönig geworden war, verpflichtete mich Juve. Zur Verwunderung vieler, auch meinerseits, wurde ich gleich Stammspieler und wir gewannen den UEFA- und den Italienpokal. Ich traf insgesamt 21 Mal. Plötzlich wollten mich die Öffentlichkeit und die Presse auch im Nationaldress sehen - und so kam es dann ja auch.

SPOX: Dann kam das Auftaktspiel gegen Österreich, ihr erstes Tor...

Schillaci: Ich hätte mir vieles träumen können, aber das mit Sicherheit nicht. Anfangs dachte ich, dass ich auf der Tribüne sitzen werde. Vialli, Carnevale und Baggio standen in der Hackordnung vor mir, ich war die Reserve der Reserve. Aber im Training habe ich durch starke Leistungen auf mich aufmerksam gemacht und so hat mich Coach Vicini mit auf die Ersatzbank genommen. Dann kam die 75. Minute: Vicini schickte mich aufs Feld und drei Minuten später traf ich per Kopf zum 1:0-Sieg. Dieser Treffer hat mir die Türen geöffnet.

SPOX: Sie haben dann zusammen mit Baggio gespielt, Vialli und Andrea Carnevale saßen nur noch auf der Bank. Wie haben Sie Baggio erlebt?

Schillaci: Robby war mein Zimmerkollege. Er war ein toller Sportler, pflichtbewusst und verlässlich. Ein Profi durch und durch, der seinen Beruf über alles liebte. Technisch brauchen wir gar nicht über ihn reden, ihm hat nichts gefehlt. Abseits des Platzes war er sehr ruhig und introvertiert, so wie ich. Wir haben uns sehr gut verstanden.

SPOX: Italiens Traum endete schließlich im Halbfinal-Elfmeterschießen gegen Argentinien.

Schillaci: Eine Sache vorweg: Hätten wir dieses Spiel in Rom ausgetragen, wäre es anders gelaufen. In Rom kannten wir jeden Zentimeter auf und neben dem Platz, in Neapel hingegen war ein Teil der Tifosi auch für Argentinien, da ihr Held Maradona auf dem Platz stand. Wir hätten davor in Neapel spielen sollen, nicht gegen die Argentinier.

SPOX: Und die Sache mit dem Elfmeter? Stimmt es, dass sie sich geweigert haben, an den Punkt zu gehen?

Schillaci: Ich habe nicht geschossen, weil ich total am Ende war. Ich konnte aufgrund von Adduktorenproblemen nicht einmal mehr richtig laufen. Deshalb habe ich anderen, fitteren Spielern, den Vortritt gelassen.

SPOX: Das Märchen war abrupt zu Ende. Wie war der Tag danach?

Schillaci: Nach Spielschluss war es schlimm. So eine Niederlage im Elfmeterschießen schmerzt sehr. Ich glaube heute noch, dass wir Deutschland im Finale geschlagen hätten, die Argentinier waren die größte Hürde. Nach zwei, drei Tagen hatten wir das Ganze dann etwas verdaut. Da wurde uns auch bewusst, dass wir eine große WM gespielt haben. Wir hatten schließlich kein einziges Spiel regulär verloren, nur die Elfmeter wurden uns zum Verhängnis.

SPOX: Für Sie war die WM trotz der Halbfinalniederlage ein riesiger Erfolg. Sie wurden zum besten Spieler des Turniers gewählt.

Schillaci: Ja, plötzlich war ich der beste Spieler und der beste Torschütze des Turniers. Wenn wir Weltmeister geworden wären, hätte ich wohl auch die Wahl zu Europas Fußballer des Jahres gewonnen. So holte sich Lothar Matthäus die Auszeichnung, ich wurde Zweiter. Persönlich war es fantastisch, aber ich hätte gern auf einen der Titel verzichtet, wenn wir dafür den WM-Pokal geholt hätten.

SPOX: Welches Bild "Ihrer" WM ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Schillaci: Die Zuneigung der Menschen, die Tifosi, die unseren Bus mit den Kleinmotorrädern begleitet haben. Diese Bilder werden für immer in meinem Herzen sein.

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SPOX: Wie war die Rückkehr ins normale Leben für Sie?

Schillaci: Es war schwierig, denn die Erwartungshaltung mir gegenüber war ins Unermessliche gestiegen. Alle waren besonders motiviert gegen mich, die Verteidiger kannten mich genau. Mein ganzes Leben wurde schwieriger, mir wurden keine Fehler mehr verziehen.

SPOX: War das auch ein Mitgrund für ihre schwachen Saisons nach der WM bei Juve und später Inter?

Schillaci: Bei Juve ging nach der WM alles drunter und drüber. Viele Spieler hatten Probleme - und am meisten bekamen logischerweise wir, die großen Namen, ab. Bei Inter war es eine andere Situation. Dort begann ich gut, traf viermal in den ersten drei Spielen. Dann verletzte ich mich aber an den Adduktoren und musste ein halbes Jahr pausieren. Von dieser Verletzung habe ich mich nicht mehr richtig erholt.

SPOX: Sie wechselten schließlich als erster italienischer Profi nach Japan zu Jubilo Iwata. Wie war diese Zeit?

Schillaci: Mir war klar, dass ich mich damit aus dem großen Fußballgeschäft verabschiede. Aber es war eine tolle Erfahrung. Ich war neugierig, wollte etwas Neues erleben. Klar haben finanzielle Gründe auch eine große Rolle bei dieser Entscheidung gespielt. Ich habe mich in Japan sehr wohlgefühlt und viel dazugelernt. Die Japaner sind sehr zuvorkommend und rücksichtsvoll.

SPOX: Was macht Toto Schillaci heute?

Schillaci: Ich führe ein Sportzentrum in meiner Heimatstadt Palermo. Ich bin zu meinen Wurzeln zurückgekehrt, denn in diesem Zentrum habe ich selbst vor 35 Jahren mit dem Fußball begonnen. Damals gab es nur ein Fußballfeld, mittlerweile wurde es schön ausgebaut. Mehr als 400 Kinder sind bei uns, es ist Hobby und Arbeit für mich zugleich.

SPOX: Wer ist Ihr Favorit auf den WM-Titel?

Schillaci: Ich glaube, dass es eine sehr ausgeglichene WM wird. Spanien, England, Deutschland, Brasilien und Argentinien schätze ich stark ein, ich sehe aber kein Überteam. Italien gehört vor einer WM oder EM so gut wie nie zu den ganz großen Favoriten, so auch dieses Jahr. Schlussendlich kommen die Azzurri aber doch immer weit - so wie zum Beispiel vor vier Jahren.

SPOX: Wer wird der "Toto Schillaci" der WM in Südafrika?

Schillaci: Ich hoffe, ein Italiener.

SPOX: Ein Name?

Schillaci: Antonio Di Natale. Ich wünsche ihm, dass er das schaffen kann, was ich vor 20 Jahren geschafft habe. Er hat die Qualitäten dazu.

SPOX: Eine Kuriosität zum Schluss. Stimmt es, dass der Spitzname "Toto" Ihnen nie wirklich gefallen hat?

Schillaci: Den Spitznamen bekam ich im Alter von 17 Jahren in Messina. Salvatore war zu lang für die Fans, deshalb wurde ich Toto genannt. In Neapel nennen sie mich Antonio, zuhause Salvo. Sie sehen, an Spitznamen mangelt es mir nicht. (lacht)

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