WM

Marcello Lippi: Elf Schiavones sollt ihr sein

Von Christian Bernhard
Coach Marcello Lippi führte Italien 2006 in Deutschland zum WM-Titel
© Getty

Italien reist als Titelverteidiger zur WM nach Südafrika. Das Team von Coach Marcello Lippi genießt aber bei vielen Experten keinen besonders hohen Stellenwert. Zu alt sei es und die spielerische Klasse fehle, so der Tenor. Auch in Italien selbst bläst den Azzurri ein heftiger Gegenwind ins Gesicht. Doch Lippi vertraut seiner Mannschaft - und sie vertraut ihm.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Alle zwei Jahre grüßt das Murmeltier. Eine WM- oder EM-Vorbereitung ohne Chaos, Sticheleien und Skandale? Unvorstellbar in Italien. In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse südlich des Brenners wieder einmal. Zuerst forderte Minister Roberto Calderoli die Azzurri auf, freiwillig auf die hochdotierten Prämien zu verzichten, um als Vorbild in wirtschaftlich schwierigen Zeiten voranzugehen.

Gianluigi Buffons Reaktion: "Wenn der Minister mir sagt, wohin die Gelder gehen sollten, werde ich darüber nachdenken. Was mich aber stört ist der Fakt, dass die Politiker immer vor Weltmeisterschaften beginnen, gegen uns zu feuern."

"Wir sind auf Rosen gebettet"

Am selben Tag folgte dann der nächste Aufreger aus dem Lager der Azzurri. Claudio Marchisio wurde bezichtigt, im Testspiel gegen Mexiko die Nationalhymne verunglimpft zu haben. Lippenleser wollen festgestellt haben, dass er die Hauptstadt Rom beleidigt habe. Kapitän Fabio Cannavaro hatte für all die Diskussionen nur einen Kommentar übrig: "Wir sind ein lächerliches Land."

Marcello Lippi berührt das alles nicht. Italiens Nationalcoach ist Schlimmeres gewohnt. "Ob ich mir Sorgen um das Klima rund um die Nationalmannschaft mache? Ich bitte Sie, im Gegensatz zu vor vier Jahren sind wir ja auf Rosen gebettet."

Den Weltmeister-Coach bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Zu viel musste er sich bereits anhören. Fantasielos und überaltet sei das Team, so das Leitmotiv der italienischen Öffentlichkeit und Presse. Man könne nicht nur mit dem Kollektiv gewinnen, es brauche auch Qualität, sagte beispielsweise Milan-Legende Franco Baresi - und das Land lechzte förmlich nach Antonio Cassano, Mario Balotelli oder Fabrizio Miccoli. Ein Zauberer sollte mit nach Südafrika, koste es was es wolle.

Das Kollektiv ist der Star

Lippi aber blieb unbeirrt auf seinem Weg und stellte "seinen" Kader zusammen - ohne Zauberer. Seine Begründung: "Es gibt mehrere Wege, um den Vorsprung gegenüber den anderen Teams aufzuholen und die Skepsis um uns herum abzuschwächen. Glaubt ihr, dass das durch die Einberufung von diesem oder jenem Spielern geschieht? Oder indem wir eine Einheit bilden, stark und kompakt, wie wir es schon öfters geschafft haben?"

Das Kollektiv ist der Star, wenige Trainer schwören so sehr auf dieses Prinzip, wie Lippi es tut. Der Gegenwind, der ihm von vielen Seiten entgegenbläst, lässt den 62-Jährigen ebenfalls kalt. Schließlich habe nicht einmal der Papst all seine Jünger hinter sich, geschweige denn die Nationalmannschaft, so Lippi.

Welches System lässt Lippi spielen?

Jetzt, wo der Kader steht, stellt Fußball-Italien sich die Frage, wie der Weltmeister in Südafrika seinen Titel verteidigen möchte. Lippi lässt sich aber nicht in die Karten blicken. In den letzten Tagen der Vorbereitung und im Test gegen Mexiko setzte der Nationalcoach auf ein 4-2-3-1-System mit Claudio Marchisio als Spielmacher in der offensiven Dreierreihe hinter Alberto Gilardino.

Die Verletzung von Andrea Pirlo, der allerfrühestens im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei zum Einsatz kommen könnte, hat diese Pläne aber wohl über den Haufen geschmissen. Im letzten Test gegen die Schweiz liefen die Azzurri im 4-3-3 mit Riccardo Montolivo als Spielmacher auf, auch das 4-4-2 ist eine mögliche Alternative. Lippi will sich nicht festnageln lassen: "Wir haben mehrere verschiedene Systeme ausprobiert und sind deshalb sehr vielseitig."

Lippi fordert totale Hingabe

Lippi hält so oder so nicht viel von den Zahlenspielen auf den Taktiktafeln: "Es ist egal, ob zwei, drei oder vier Stürmer nominell auf dem Platz stehen. Heutzutage spielen fast alle Topteams mit einem Mittelstürmer und neun weiteren Spielern, die angreifen und verteidigen."

Lippi ist die Art und Weise, wie sein Team auftritt, wichtig: "Ich möchte eine Mannschaft, in der jeder jedem hilft. Sie muss kompakt sein, im Block verteidigen und dann blitzschnell auf die Offensive umschalten können. So wie Inter oder 'meine' Juve. Damals schon haben Gianluca Vialli und Fabrizio Ravanelli ihre Gegenspieler bis zur eigenen Eckfahne begleitet."

Das ist es, was Lippi will: totale Hingabe. "Ich habe meinen Spielern gesagt: 'Ich habe euch mein Vertrauen geschenkt, jetzt verlange ich, dass ihr mir euers beweist und all das macht, was ich von euch verlange'", sagte Lippi im Vorbereitungstrainingslager in Sestriere auf über 2000 Höhenmetern. Keines der 32 WM-Teams bereitete sich so hoch auf die Weltmeisterschaften vor.

"Vertraut dieser Mannschaft"

Lippi ist aber überzeugt, dass diese Art der Vorbereitung die richtige war. Dass er spätestens nach der blutleeren Vorstellung beim 1:2 gegen Mexiko auch dafür kritisiert wurde, ist müßig zu erwähnen.

Lippi aber ist sich seiner Sache sicher: "Vertraut dieser Mannschaft. Vor vier Jahren hat der Unterzeichnende zusammen mit dem kompletten Betreuerteam ein herausragendes Ergebnis erzielt. Ich frage mich, wieso man diesem Team nicht zumindest ein wenig Vertrauen entgegenbringen kann." Er, der Meister des Teambuilding, ist gerüstet für seinen letzten großen Auftritt auf der Bank der Italiener - auch oder besonders weil seine Spieler hinter ihm stehen.

Lob für den Trainer

"Wir könnten keinen besseren Coach als Lippi haben", sagt Daniele De Rossi. "Er hat vor vier Jahren eine tragende Rolle gespielt. Er ist fantastisch, als Trainer und als Mensch." Cesare Prandelli wird Lippi nach der WM beerben, eine gute Wahl, wie auch Lippi findet: "Der Verband hat den Richtigen ausgewählt."

Bevor die Ära Prandelli beginnt, will Lippi aber noch das scheinbar Unmögliche möglich machen und den Titel verteidigen. Modell dafür steht eine 1,66 Meter große Tennisspielerin aus Mailand. Ihr Name: Francesca Schiavone, ihres Zeichens French-Open-Siegerin 2010.

Lippi: "Ihr Triumph hat mich begeistert. Er war das Ergebnis eines Mix aus Kampfgeist, Leidenschaft, Mut und Klasse. Ich habe sie sagen hören, dass sie eine unfassbare Energie in sich gespürt hat, welche sie über alle Grenzen getragen hat. Sie wird unser Modell sein."

Teamporträt: Lippi setzt auf die Oldies