Pragmatismus vs. Rasenschach

SID
Guus Hiddink (l.) und Rafael Benitez jagen ManUtd hinterher
© Getty

"The table never lies", die Tabelle lügt nie, sagt man in England. Das mag sein, aber die ganze Wahrheit verrät sie auch selten. Wer sich an den alten, politisch unkorrekten Achtziger-Jahre-Witz erinnert - "Warum isst Stevie Wonder so gerne Mohnsemmeln?" - weiß, dass Punkte die unterschiedlichsten Geschichten erzählen können. So ist es auch nach dem 28. Spieltag. Hinter dem designierten Meister Manchester United liegen zwei Vereine exakt gleichauf, deren Situationen doch nicht unterschiedlicher sein könnten.

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Während die kickende Belegschaft des FC Chelsea im Anschluss an das 1:0 beim FC Portsmouth mit geballten Fäusten und nackten Oberkörpern ihre Wiedergeburt als stärkste Rumpeltruppe der Welt feierte, herrschte beim FC Liverpool am Dienstagabend zeitgleich - wie der "Guardian" so treffend formulierte - "eine Stimmung wie auf einer Beerdigung."

Die Reds hatten mühsam 2:0 gegen Sunderland gewonnen und den Rückstand auf United für eine Nacht auf vier Punkte verkürzt, doch Rafael Benitez übte sich nicht einmal mehr in Durchhalteparolen. "Die Leute haben diese Saison mehr von uns erwartet", sagte der Spanier enttäuscht.

"Natürlich müssen wir (am 14. März) im Old Trafford gegen United gewinnen", fügte er nur der Form halber hinzu, "das wird sehr schwierig". Dazu machte er ein Gesicht wie ein Junge, der  "Game Over" auf dem Bildschirm der Daddel-Maschine blinken sieht und kein Kleingeld mehr in der Tasche hat.

19 Jahre Hoffen in vier Wochen zerstört

Gerade mal vier Wochen ist es her, dass Liverpool Chelsea an der Anfield Road mit 2:0 besiegte und vom ersten Meistertitel seit 1990 träumen dürfte. Dann flog man im FA-Pokal gegen den Lokalrivalen Everton raus, verlor Fernando Torres und Steven Gerrard mit Verletzungen -  und auswärts beim FC Middlesbrough.

United hat nun sieben Punkte Vorsprung und ein Spiel weniger absolviert, das Titelrennen ist im Grunde beendet. Die gute Ausgangsposition in der Champions League nach dem 1:0-Erfolg im Hinspiel bei Real Madrid kann nicht darüber hinwegtrösten, dass es für Benitez in der Liga auf das gewohnte Finish hinausläuft. 2005 wurde er Fünfter. 2006 und 2007 Dritter, 2008 Vierter. Mit dieser Art von Konstanz geben sich die Liverpool-Supporters nicht zufrieden.

Benitez hat das häufige Fehlen von Torres für die enttäuschenden Ergebnisse verantwortlich gemacht. "Er war in der vergangenen Saison unser wichtigster Stürmer", sagte der 48-Jährige, "mit ihm hätte alles anders laufen können." In der Tat ist Liverpool ohne El Nino nur die Hälfte wert, aber das ist auch die Schuld des Trainers.

Benitez ohne Durchblick?

Im Januar schickte er den sechs Monate vorher für 23 Millionen Euro verpflichteten Angreifer Robbie Keane zurück zu Tottenham. Der Ire mag ein "schädlicher Einfluss in der Kabine" gewesen sein, wie Benitez sagte, aber den Mann ohne adäquaten Ersatz loszuwerden, war sicherlich verkehrt.

Heftige Auseinandersetzungen hinter den Kulissen, die zum Rücktritt von Geschäftsführer Rick Parry führten und die unklare Zukunft des Trainers, der sich weiter weigert, die Vertragsverlängerung zu unterzeichnen, waren dem Erfolg bestimmt auch nicht dienlich, doch der Verdacht besteht, dass der Spanier auch im fünften Amtsjahr nicht richtig weiß, wie die Premier League funktioniert.

Im vergangenen Sommer hat er sich beschwert, dass die Spiele auf der Insel wegen der vielen "50-50-Situationen" schwerer zu kontrollieren seien als in der Champions League. "Sein Problem ist, dass er zu clever und taktisch ist", schreibt Paul Jones im Liverpool-Fanblog der "Times". "Das funktioniert bestens gegen europäische Teams, aber es macht keinen Sinn, gegen Stoke oder Wigan Schach zu spielen."

Chelsea versinkt in Harmonie

Auch Chelsea droht ein weiteres Jahr ohne Meisterschaft, das dritte in Folge. Eine verschenkte Saison, könnte man meinen, doch weit gefehlt: Bei den Blues herrschte selten soviel Harmonie. Obwohl Michael Ballacks Team nur noch indirekt ins Titelrennen eingreifen kann - man spielt nicht mehr gegen United und Liverpool  - glaubt man, Alex Ferguson noch eine ganze Weile länger auf Trab halten zu können.

"Wir haben einen Lauf und das Selbstbewusstsein zurück bekommen", sagte Petr Cech nach dem Sieg bei Pompey, dem vierten in Folge unter Guus Hiddink. "Unser Ziel ist es, im Mai oben zu stehen", sagte der Niederländer, "wir werden nicht aufgeben." Im Gegensatz zu Benitez schien er es auch so zu meinen.

Hiddink, 62, der nach Erfahrungen in Vereinen und Verbänden auf der ganzen Welt ein gänzlich von Philosophien befreiter Pragmatiker geworden ist, hat erkannt, dass die Londoner keine neuen Ideen brauchen, sondern nur die eine, alte. 

"Es dauert Jahre, bis ein Verein sein System verändern kann", hatte Ballack schon kritisch bemerkt, als Avram Grant im September 2007 den egomanischen Chef-Ideologen Jose Mourinho mit dem leeren Versprechen vom "attraktiven Fußball"  beerbt hatte.

Mit Hiddink zurück zur Stunde Null

Nachfolger Luiz Felipe Scolari scheiterte ebenfalls an dem Versuch, dem Team einen neuen Stil zu verpassen. Restaurator Hiddink hat die blaue Maschine jetzt einfach neu hochgefahren, sie mit anderen Worten in den Ausgangszustand versetzt.

Scolaris gründlich verkorkste Ligasaison hat Hiddinks Aufgabe dabei eher leichter gemacht: Er ist seit der Übernahme von Abramowitsch der erste Übungsleiter, der nicht zwingend die Champions League oder einen anderen Titel mit den Blauen gewinnen muss. Die neue Außenseiterrolle tut dem alten Chelsea sichtlich gut.

Didier Drogba ist rechtzeitig zur heißen Saisonphase aus seiner Lethargie erwacht. Die Schlüsselspieler Michael Essien und Ricardo Carvalho sind bald wieder einsatzbereit, Ballack spielt wieder besser. Und Eigentümer Roman Abramowitsch kommt jetzt wieder zu den Spielen, auch wenn er noch so aussieht, als ob er die Regeln nicht ganz versteht.

Nicht einmal die vorübergehende Festnahme von Ashley Cole, der Mittwochnacht vor einer Londoner Disco einen Polizisten anpöbelte, kann derzeit die gute Laune bei den West-Londonern ernsthaft stören.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 15 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungiert Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 34-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.

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