Die Angst nach dem Robo-Dance

SID
Fabio Capello ist seit dem 14. Dezember 2007 Nationaltrainer der Three Lions
© Getty

Nicht nur für Kaka ist England der WM-Favorit. Denn seit Fabio Capello die Three Lions regiert, herrscht ein Klima des Gehorsams und der Angst. Offenbar das Erfolgsgeheimnis. In seiner aktuellen Kolumne für SPOX befasst sich Raphael Honigstein mit dem Trainer der englischen Nationalmannschaft.

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Als sich die Tür im Konferenzzimmer "Al Jalbut" (Die Segeljolle) öffnete, ging ein erstauntes Raunen durch die zwanzig mitgereisten Journalisten: Es war... Gareth Barry, der im Ritz-Carlton-Hotel von Doha zum Interview erschien.

Damit, so dachten die Reporter, waren zwei wichtige Personalien endgültig geklärt. Erstens: Kapitän John Terry fällt nach seiner Knöchelverletzung im Training definitiv aus. Zweitens: Barry, 28, würde gegen Brasilien am Samstagabend (17.45 Uhr im LIVE-TICKER) stellvertretend die Armbinde tragen.

Der Mittelfeldspieler äußerte sich allerdings vorsichtig. "Ich weiß nicht, ob ich Kapitän sein werde", sagte er ein wenig verlegen, "ich kann nur sagen, dass man sich mit der Binde am Arm ein paar Zentimeter größer fühlt." Diese Art von Wachstumshilfe wird Barry versagt bleiben: "Wayne Rooney ist Kapitän, falls Terry nicht spielt", sagte Fabio Capello den abermals überraschten Pressevertretern fünf Minuten später.

Eriksson und Co.: Unentschlossene Spielerversteher

Rooney, der erst vor ein paar Tagen nach Manchester Uniteds 0:1 gegen den FC Chelsea "Zwölf Mann" in die Kamera gerufen hatte und damit dem Schiedsrichter unterstellte, für die Blues parteiisch gewesen zu sein? Rooney, der jederzeit für eine Rote Karte gut ist? "Ja, denn er ist ein Anführer auf dem Platz", meint Capello. "Ich bin sehr gespannt was Samstag passieren wird, es wird eine große Chance für ihn sein".

Vielleicht spielt Terry am Ende aber doch noch gegen "die beste Mannschaft der Welt" (Barry). Capello ist alles zuzutrauen. Auch ein doppelter Bluff.

Wer erlebt, mit wie viel Ehrfurcht die englischen Schreiber dem Trainer begegnen, spürt sofort den Unterschied zu früheren Jahren. Kevin Keegan, Sven-Göran Eriksson und Steve McLaren waren allesamt kumpelhafte Spielerversteher. Sie sahen ihre Hauptaufgabe darin, sowohl die Koryphäen als auch die Medien bei Laune zu halten. Vor schwierigen Entscheidungen (Stichwort: Lampard/Gerrard) drückten sie sich gern. Irgendwann kam der Punkt, wo sie niemand mehr ernst nahm.

Bloß keine Adiletten

Capello ist da ganz anders. Rio Ferdinand fühlte sich nach der ersten Trainingseinheit mit dem 63-Jährigen "an den ersten Schultag"  erinnert: Der Mann mit dem kantigen Brillengestell hatte seinen Schützlingen vor dem Unterrichtsbeginn gleich eine lange Liste mit Verhaltensregeln ans schwarze Brett geheftet.

Pünktlichkeit, Handyverbot, eine strenge Kleiderordnung  - keine Adiletten! - und Room-Service-Verzicht: das Leben unter Fabio Capello sollte für Englands seit Jahren verhätschelte Nationalkicker ab sofort härter sein. "CAP-ital Punishment" (Todesstrafe) jubelte "die Sun".

Die disziplinarischen Maßnahmen kamen gut an beim Fußballvolk, das mangelnden Einsatzwillen und eine gewisse Hochnäsigkeit der Kicker als Hauptgründe für das Scheitern in der EM-Qualifikation ausgemacht hatte.
"Er hat uns nur mit unseren Nachnamen angesprochen", berichtete Ferdinand, der Verteidiger von Manchester United, damals schwer beeindruckt. "Er hat schon alles gesehen und kennt sich aus. Ihn umgibt eine Aura, man muss ihn respektieren".

Capello: Respektiert und gefürchtet

Er ist eben: ein Gewinner. Bevor der Meistertrainer als Ein-Mann-Kavallerie in die Stadt an der Themse ritt, blühten die Neurosen in Englands Garten. Nun sind die Versagensängste einem gesunden, realistischen Vertrauen in die eigene Stärke gewichen. Selbstbewusst bis zum Anschlag, überzeugt von der eigenen Urteilskraft, macht sich Capello mitunter einen Spaß, die Zeitungen auf falsche Fährten zu locken.

Auch die Spieler können sich bei ihm nie ganz sicher sein, vielleicht erklärt das schon seinen Erfolg: Die selbstverliebte, von ihrem eigenen Heldenstatus berauschte goldene Generation hat Demut gelernt. Capello wird auf der Insel von den Kickern respektiert und gefürchtet, wie sonst nur Alex Ferguson.

Michael Owen wurde vom gestrengen Don Fabio zum Beispiel eiskalt abserviert. Andere hätten den United-Stürmer aus Angst vor der ständigen Mediendebatte einfach mitgenommen. Seine Unabhängigkeit bewies er auch gegenüber den Vereinstrainern: Den von Liverpool krankgeschriebenen Steven Gerrard ließ er vor einer Partie extra ins Trainingslager kommen und ein zweites Mal von Englands Teamarzt untersuchen.

Ermahnung für Peter Crouch

Seit der unnahbare Friauler den Takt vorgibt, überlegen sich Nationalspieler zwei Mal, ob sie abends ausgehen. Als Peter Crouch neulich leicht angetrunken den "Roboter" auf ein Londoner Disco-Parkett hinlegte, kam am Tag danach mit der Veröffentlichung der Fotos sofort die Angst. Wie würde Capello reagieren?

Im Fall des Spurs-Stürmers beließ es der Trainer bei einer Ermahnung, doch vor der WM in Südafrika wird man Crouchy so schnell wohl nicht zu später Stunde tanzen sehen. "Leistung, Einstellung und Benehmen", lautet Capellos Mantra.

Im Grunde bestätigt seine hervorragende Amtsbilanz (15 Siege, zwei Unentschieden, drei Niederlagen) nur, was Freunde des englischen Fußballs lange vermutet hatten: Den "drei Löwen" fehlte zuvor einfach ein kompetenter Dompteur. Capello ist nach taktischen Experimenten zu einem klaren 4-4-2 zurückgekehrt, er macht nicht viel anders, aber alles eine Spur cleverer. Insbesondere die Raumaufteilung ist sehr viel besser geworden. Weniger Fehlpässe sind die direkte Konsequenz.

Nur eine C-Elf gegen Brasilien

Am Samstag wird es jedoch spannend. England muss auf Frank Lampard, Steven Gerrard, Ashley Cole, David Beckham, Glen Johnson, Carlton Cole, Emile Heskey und wohl auch auf Terry verzichten, im Khalifa Stadion wird also eine bessere C-Elf auf dem Platz stehen.

Gerade die Defensive der Engländer um Innenverteidiger Matthew Upson wird gegen Carlos Dungas Elf mit Sicherheit Probleme bekommen. Barry aber verweist optimistisch auf den 2:1-Sieg gegen Deutschland in Berlin vom November 2008: "Auch damals haben uns viele Stammspieler gefehlt. Die Jungs, die reinkommen, wollen sich beweisen und strengen sich besonders an".

Capello wirkte vor dem Prestigeduell ebenfalls keineswegs beunruhigt. England, von Kaka im Vorfeld zum WM-Favoriten erklärt, ist am Samstag der veritable Underdog und hat nicht viel zu verlieren.

Schlimmstenfalls würden nach einer herben Niederlage am Persischen Golf die WM-Erwartungen der Insulaner auf ein vernünftiges Maß zurückgestützt. Capello, dem alles Überschwängliche, Euphorische ein wahrer Graus ist, könnte damit leben.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 15 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungiert Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 35-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.