"Wie ein engagiertes Jugendspiel"

Szene aus der Vorsaison: Die VfB-Offensive beim Affentanz
© getty
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SPOX: Welche Nachteile hat die Idee Zornigers noch?

Himsl: Durch das weite Aufrücken in die gegnerische Hälfte muss das Spielfeld in der Breite und Tiefe eng gemacht werden. Die hoch aufgerückte Viererkette hat damit sehr große Räume im Rücken zu verteidigen. Außerdem verschiebt die Mannschaft extrem ballseitig, um die Abstände bei der Balljagd gering zu halten, so dass auf der anderen Seite sehr viel Platz ist. Der Gegner muss in diesem engen Raum festgemacht werden. Gelingt das nicht, kann er mit schnellen Ballverlagerungen die offenen Räume auf den Seiten und hinter der Abwehr nutzen. Allerdings waren diese Nachteile beim VfB vor allem in den letzten Spielen bis auf Einzelfälle nicht besonders auffällig.

SPOX: Also hat Zorniger Recht, wenn er immer wieder sagt, die Niederlagen hätten nichts mit der neuen Spielweise zu tun?

Himsl: Die Frage, die man sich dabei stellen muss, ist: Würden die Spieler die Fehler auch machen, wenn die Spielidee eine andere wäre? Meine Antwort ist: ja. Ich habe noch keinen Fehler gesehen, der in der Idee Zornigers begründet wäre. Außerdem geben ihm die Anzahl der herausgespielten Torchancen und die Anzahl der zugelassenen Torchancen des Gegners Recht. Es ist ja nicht so, als ob die Gegner des VfB pro Spiel zehn bis zwanzig Großchancen hätten.

SPOX: Allerdings hat der VfB mit 19 Gegentreffern die meisten der Liga kassiert. Wie passt das jetzt zusammen?

Himsl: Die Gegentore resultieren zu einem Großteil aus extremen individuellen Fehlern. Hier kann man sich natürlich wieder die Frage stellen, ob die ständige Unruhe im Stuttgarter Spiel sich auch negativ auf die Verteidigung auswirkt. Aber Zorniger zwingt seine Spieler nicht in Situationen, die für einen Fußballer völlig neu wären. Insofern ist das auch eine Frage der individuellen Fähigkeit, 90 Minuten lang eine fehlerfreie Leistung abzurufen. Die stellt sich auch bei Torhüter Przemyslaw Tyton. Der Pole war bisher nicht der Rückhalt, den sich ein Trainer wünscht und er konnte die Mannschaft durch entscheidende Abwehraktionen noch nicht im Spiel halten.

SPOX: Es wurde auch immer wieder von fehlender Balance zwischen Offensive und Defensive gesprochen beim VfB. Ist das kein Problem, das Zorniger angehen muss?

Himsl: Balance ist nicht das Ziel des VfB. Das ganze Spiel ist Jagen gegen den Ball und Überfallspiel nach Ballgewinn. Die Frage, lohnt sich die Umschaltaktion oder sollten wir eher auf Ballbesitz spielen und das Spiel beruhigen, stellt sich der VfB nicht.

SPOX: Ist das nicht etwas einseitig gedacht?

Himsl: Zorniger hat einen klaren Plan A, den zieht er durch. Und bis auf die eklatant schlechte Chancenverwertung funktioniert dieser Plan auch.

SPOX: Wäre ein Wechsel aus den Strategien Umschaltspiel und Ballbesitz nicht besser?

Himsl: Die Ballbesitzverhältnisse bei Spielen des VfB sind meistens etwa 50 zu 50. Vor dem Hintergrund des aggressive Pressings und der erzwungenen hohen sowie langen Bälle des Gegners, die dann meist in der Abwehr landen und von dort wieder nach vorne getragen werden müssen, wäre ein Plan B sicher von Vorteil. Zum einen das schnelle Umschalten und zum anderen das Kombinieren im Spielaufbau aus der eigenen Hälfte. Der VfB hat offensiv viele Spieler mit Spielintelligenz und Übersicht, die richtig gut kombinieren können. Aber der VfB will im Moment keinen Gegner von hinten heraus auseinanderspielen. Dieser Baustein fehlt, er erfordert aber auch viel Training anderer Komponenten des Spiels.

SPOX: Unter Stevens war die Mannschaft mit starken Flügelspielern wie Filip Kostic sehr erfolgreich. Wie schaut der Spielaufbau der Stuttgarter aus der eigenen Hälfte im Moment aus?

Himsl: Das Flügelspiel ist noch immer da, das belegt auch die Statistik eindeutig. Stuttgart hat zusammen mit Wolfsburg (102) die mit Abstand meisten Flanken (110) geschlagen und sich zusammen mit Leverkusen (63) die mit Abstand meisten Ecken erspielt (61). Aber Stuttgart will das Spiel nicht kontrolliert beziehungsweise horizontal eröffnen und sich aus einer guten Vorbereitung eine Torchance erspielen. Da der VfB mit sehr hohen Außenverteidigern spielt, die im Spielaufbau weniger gesucht werden, ist der erste Plan, mit langen Bällen beziehungsweise viel vertikalem Spiel in die rote Zone zu kommen. Dort sollen die vier Offensiven den Ball festmachen oder den Kampf um den zweiten Ball gewinnen. Das defensive Mittelfeld um Gentner rückt nach. Von dort werden die Bälle dann verteilt.

SPOX: Aber der in der Rückrunde der Vorsaison überragende Filip Kostic ist nicht mehr so gut ins Spiel eingebunden.

Himsl: Die Außenverteidiger spielen beim VfB im Flügelspiel eine wichtige Rolle. Kostic muss sich als einer der Offensiven eher in die Mitte orientieren, um die Bälle zu holen. Den freien Raum auf außen sollen dann die Außenverteidiger für Vorstöße nutzen. Kostic kommt auch nach wie vor über außen. Er bewegt sich nur in-and-out, also aus dem Halbraum von innen nach außen. Das Ziel bleibt immer, hinter die Abwehrkette des Gegners zu kommen.

SPOX: Daraus resultieren auch die vielen Flanken und Ecken. Liegt auch hier das Problem in der Effektivität?

Himsl: Die Effektivität ist in jedem Fall noch zu verbessern. Der VfB gehört zwar mit Darmstadt nach Standards, also Ecken, Freistößen, Elfmetern, zu den erfolgreichsten Teams der Liga. Aber nach Ecken hat Stuttgart erst zwei Tore erzielt, das sind 30,5 Ecken pro Treffer. Schalke brauchte als effektivste Mannschaft für zwei Tore nur 37 Ecken.

Die Statistiken des VfB Stuttgart im Vergleich in der Saison 2015/16

SPOX: Wenn Zorniger so sehr auf seinen Plan A vertraut, welche Ansatzpunkte bleiben ihm dann noch?

Himsl: Ein Trainer braucht für seine Idee Erfolg. Unterm Strich fehlt die Chancenverwertung. Zorniger wird sich vermutlich weiter damit beschäftigen: Warum kriegen wir die Kugel nicht über die Linie? Von seiner Idee wird Zorniger nicht abweichen.

SPOX: Wie lang geht die Mannschaft diesen Weg mit, wenn die Erfolge ausbleiben? Und wann wird das Ganze auch eine Frage der Psyche?

Himsl: Im Moment ist es beeindruckend, wie die Mannschaft diese Idee annimmt. Die Körpersprache ist positiv und zeugt von einem guten Geist in der Mannschaft. Die Spieler betreiben den geforderten, hohen Aufwand und versuchen, 90 Minuten das Ding auf ihre Seite zu drehen. Der Trainer kann nur weiter die Erfolgszuversicht hochhalten. Er kann die objektiven Daten, die für den VfB sprechen, und die guten Momente aus den Spielen zeigen. Und er kann Abschlüsse sowie die letzten und vorletzten Pässe trainieren lassen.

Seite 1: Himsl über die Idee Zorniger, die Vorteile und Parallelen zum Biathlon

Seite 2: Himsl über die Nachteile, einen fehlenden Baustein und Kostic