Zwischen Held und Sündenbock

Von SPOX
Kevin-Prince Boateng ist bislang noch ohne Scorerpunkt in dieser Saison
© getty

Kevin-Prince Boateng findet nur schleppend in die Saison. Auf Schalke hat er seine Ausnahmestellung ein wenig eingebüßt. Im Derby gegen Borussia Dortmund bietet sich die Chance, ein Ausrufezeichen zu setzen. Allerdings ist nicht klar, ob Trainer Jens Keller überhaupt auf Boateng vertraut.

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Am Dienstag in Bremen war Kevin-Prince Boateng nicht dabei. Die Sperre nach seiner Gelb-Roten Karte aus dem Frankfurt-Spiel zwang den Schalker zu einer Pause. Und trotzdem war der Name Boateng nach der Partie mindestens so präsent wie die Protagonisten des 3:0-Siegs, wie Ralf Fährmann, Roman Neustädter oder Max Meyer.

Boateng ist auf Schalke gemeinhin immer ein Thema. In den Tagen vor dem Derby gegen Borussia Dortmund erst Recht. Also wurde Trainer Jens Keller noch auf der Pressekonferenz nach dem Bremen-Spiel auf Boateng angesprochen und ob dieser denn am Samstag (15.30 Uhr im LIVE-TICKER) gegen seinen Ex-Klub auflaufen dürfe.

Keller schmunzelte süffisant, die Frage kam nun wirklich nicht überraschend. Und doch etwas unpassend, wenige Minuten nach dem ersten Saisonsieg, der genügend andere Fragen aufgeworfen hatte.

Keller lässt Boateng zappeln

"Es sind ja noch ein paar Tage bis Samstag. Da kann einiges passieren. Wir müssen mal schauen, ob er spielt oder nicht", sagt der Trainer. "Er ist fit, aber die Mannschaft hat es auch ohne ihn gut gemacht. Das lassen wir offen."

Vor etwas mehr als einem Jahr holte der FC Schalke den 27-Jährigen zurück in die Bundesliga. Schalke hatte den Anschluss an die nationale Spitze verpasst, die Bayern und Borussia Dortmund waren den Königsblauen enteilt. International ist Schalke ein solider Champions-League-Teilnehmer - aber kein Wettbewerber, der es abgesehen von einer Ausnahme unter die acht besten Mannschaften des Kontinents schafft.

Der Transfer von Boateng sollte zumindest ein Fingerzeig sein, an die eigene Mannschaft, die Fans und die Konkurrenz. Der Spieler wurde schnell überhöht und mit ziemlich unsinnigen Erwartungen an seine Person überladen. Boateng hat sich allerdings auch nur selten dagegen verwehrt, der Hoffnungsträger in Gelsenkirchen zu sein.

"Ich denke, dass Horst Heldt ein Zeichen setzen und sagen wollte: 'Seht her: Ein großer Spieler - oder Leader - kommt nach Schalke'", sagte Boateng etwa einigermaßen selbstbewusst unmittelbar nach seiner Verpflichtung.

Gekommen als Anführer

Es ist einiges passiert in diesem ersten von insgesamt vier Jahren, die er auf Schalke seinem Beruf nachgehen will. Von Beginn an haben sich viele gefragt, wie der in jeglicher Hinsicht auffällige Boateng mit dem Pragmatiker Keller zurecht kommt und umgekehrt. Boateng schlüpfte schnell in die Rolle des Anführers, auf und neben dem Platz. "Er stellt auf dem Platz etwas dar", sagte Julian Draxler gleich in den ersten Tagen nach Boatengs Wechsel.

Schalke hat in der abgelaufenen Saison die beste Rückrunde aller Zeiten hingelegt, Boateng war in der heiklen Phase - auch für den Trainer - eine verlässliche Größe. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch eine Vorrunde, die so schlecht war wie nur selten eine davor in den letzten Jahren. Am Ende reüssierte Schalke wie gewohnt: Platz drei, direkte Qualifikation für die Champions League. Aber auch: Sieben Punkte Rückstand auf den BVB, 26 Zähler auf Bayern München.

Boateng ist für Schalke natürlich mehr als einer von 31 Spielern im Profikader. Er ist auch mehr als ein Anführer auf dem Platz. Im Frühjahr 2013 sprach Boateng bei einer Veranstaltung der Vereinten Nationen, nachdem er als Spieler des AC Milan nach rassistischen Verbalattacken gegnerischer "Fans" in einem Testspiel das Dribbling unterbrach und den Ball wutentbrannt ins Publikum drosch.

Er verließ den Platz daraufhin, seine Mannschaft folgte ihm geschlossen. Die Episode hat hohe Wellen geschlagen, die "Gazzetta dello Sport" widmete ihm fast die komplette Seite 1: "Wir sind alle Boateng!" Seit dem Auftritt bei der UN ist er eine Gallionsfigur im Kampf der Verbände gegen Rassismus. "Davon werde ich keinen Kindern erzählen. Ich habe mich gefühlt wie ein kleiner Obama."

Durchaus anfällig für Verletzungen

Das mediale Interesse an seiner Person hat sich seitdem vervielfacht. Das ist für Boateng manchmal auch anstrengend. Auf der anderen Seite sucht er auch bewusst die Öffentlichkeit. Seine Freundin Melissa Satta ist Model und Moderatorin und seit wenigen Monaten auch Mutter von Boatengs zweitem Sohn Maddox. Die Tage rund um die Geburt wurden von beiden öffentlich zelebriert. Das gehört offenbar dazu. Genauso wie gemeinsame Auftritte auf dem Roten Teppich oder den Covern bestimmter Hochglanzmagazine.

Dem FC Schalke war natürlich klar, auf was er sich da einlässt. Für den Klub ist eine Persönlichkeit wie Boateng für die Außendarstellung ein spannendes Projekt. Jedenfalls wird Schalke bei jeder noch so nichtigen Neuigkeit Boateng betreffend erwähnt. Dazu gehören allerdings auch die weniger erfreulichen Nachrichten, wilde Gerüchte mit eingeschlossen.

Die Aufregung war groß, als Ottmar Hitzfeld wenige Wochen nach Boatengs Ankunft auf Schalke vorpreschte. "Man munkelt, dass er vielleicht schon angeschlagen war, als er gekommen ist", sagte in einer Gesprächsrunde des Senders "Sky". Demnach seien Boatengs Knieprobleme schon "bei der Untersuchung" diagnostiziert worden. Hitzfeld deutete weiter an, dass Schalke den Spieler "dadurch auch bekommen hat".

Es folgten jede Menge energische Dementi von allen Seiten. Tatsache ist aber auch, dass Boateng nun schon mehrere Male mehrere Wochen ausgefallen ist. Wegen anhaltender Knieprobleme, einer Verletzung an der Wade, Oberschenkelproblemen und zuletzt einer Verletzung am Sprunggelenk.

Seine Körperstatik sei das eigentliche Problem, sagte Trainer Keller schon im Winter. "Das ist nicht in zwei, drei Monaten erledigt. Bei höheren Belastungen müssen wir ihn deshalb immer wieder mal rausnehmen."

Als Sechser mit weniger Torgefahr

Keller hatte zu der Zeit die Idee, seinen Spielgestalter eine Linie weiter nach hinten zu ziehen: weg von der Zehn und auf die Doppel-Sechs. Auch wegen dieser Umstellung gelang Schalke die historische Rückrunde zuletzt. So ganz glücklich erscheint Boateng auf der Position direkt vor der Abwehr aber nur bedingt.

Er kommt naturgemäß seltener im gefährlichen Raum zum Abschluss. Fünf Toren in der Vorrunde konnte Boateng in der Rückrunde nur noch einen weiteren Treffer hinzufügen.

Das beraubt ihn einer seiner großen Stärken. Boateng ist für einen Spielgestalter im gegnerischen Strafraum enorm gefährlich. Seine Explosivität, sein starkes Kopfballspiel und natürlich der beidfüßige, präzise Abschluss auch aus der Distanz sind eine Waffe. Eingesetzt wird die zuletzt aber nur noch sporadisch.

Bisher mit Hoch und Tiefs

In dieser Saison wechseln sich bei ihm gute bis sehr gute mit schwachen Leistungen ab. Im Rampenlicht der Champions League spielte Boateng sein bisher bestes Spiel.

An der Stamford Bridge gegen den FC Chelsea war der Boateng zu sehen, den sich alle auf Schalke wünschen. Als er nach der vermutlich besten Halbzeit, die er im Schalker Dress überhaupt absolviert hatte, in der Pause seine Auswechslung andeutete, flehte ihn Jens Keller regelrecht an, doch noch bis zum Ende durchzuhalten. Das gab der Trainer nach der Partie auch unumwunden so zu.

Schalke holte ein sehr beachtliches Remis. Für Keller war der Punkt überlebenswichtig. Für Boateng war es ein Highlight nach davor eher tristen Wochen. Im DFB-Pokal flog Schalke bei Drittligist Dynamo Dresden gleich in der ersten Runde raus, in der Liga folgte der Fehlstart mit nur zwei Punkten aus vier Spielen.

Beim einen Remis gegen die Bayern war Boateng verletzungsbedingt nicht dabei. Beim anderen gegen Eintracht Frankfurt flog er nach einem unnötigen Foul im Mittelfeld mit Gelb-Rot vom Platz. Danach kam Schalke zum ersten Sieg in dieser Saison überhaupt. In Bremen, ohne Boateng.

Zeit für ein Ausrufezeichen

Das große Ereignis des Sommers hat Schalke zwei Weltmeister beschert, Julian Draxler und Benedikt Höwedes. Der war schon vor Boateng eine Schalker Institution, dessen Wort in der Kabine Gewicht hat.

Mit dem Selbstverständnis eines Weltmeisters gerierte sich Höwedes aber nach den ersten beiden Niederlagen im Pokal und in der Bundesliga auch öffentlich als Kritiker. Schalke kassierte ungewöhnlich viele Tore nach gegnerischen Kontern. Ein Adressat, wenngleich auch nicht namentlich erwähnt, von Höwedes' Kritik war Boateng.

Der ist auf Schalke weit davon entfernt, umstritten zu sein. Aber zumindest deutet die Mannschaft an, dass sie auch ohne ihn bestehen kann. Die Abhängigkeit von Boateng war in der letzten Rückrunde jedenfalls größer. Was das alles für die Partie am Samstag gegen den BVB bedeutet? Trainer Keller bleibt nebulös.

Ob eine etwas defensivere Ausrichtung gegen die konterstarken Gäste, auf der Doppel-Sechs besetzt mit den defensivdenkenden Dennis Aogo und Marco Höger, unter Umständen eine Option wäre? "Das sind natürlich Überlegungen, die wir einbringen, keine Frage", sagt Keller. "Aber wir dürfen auch nicht zu abwartend spielen, denn die Dortmunder haben auch auf engem Raum hohe Qualität. Wir müssen schauen, dass wir unser Spiel durchbekommen."

Dafür wäre Boateng eigentlich unverzichtbar. Mit einem Sieg im Derby könnte Schalke nach langer Zeit mal wieder am BVB vorbeiziehen. "So ein Derbysieg kann eine Lawine auslösen", sagt Keller. Das gilt im Kleinen auch für Kevin-Prince Boateng, dessen Saison bisher nur schleppend verläuft: Zwischen Held und Sündenbock.

Das ist Kevin-Prince Boateng