"Ich hab gedacht, das ist ein Wahnsinniger"

Von Jochen Rabe
Christian Streich ist der heimliche Trainer des Jahres 2012
© Getty

Als Christian Streich den SC Freiburg im vergangenen Winter übernahm, hatte den Sportclub kaum einer mehr auf dem Zettel. Knapp ein Jahr später sind die Breisgauer die Mannschaft der Stunde: Streich hat aus dem Team einen ernsthaften Europapokal-Anwärter gemacht - und sammelt nebenbei Sympathiepunkte.

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Ausnahmezustand im Mage Solar Stadion Freiburg: La Ola schwappt mehrfach über die Tribünen, die Zuschauer sind begeistert von der Art und Weise, wie ihre Mannschaft den VfB Stuttgart dominiert. Dazu hallen laute, deutlich verständliche Fangesänge durch das weite Rund: "Deutscher Meister wird nur der SCF!"

Dass das Freiburger Publikum auch gerne mal Fangesänge mit Augenzwinkern auspackt, weiß nicht nur Mo Idrissou.

Aber: Die Grundtendenz ist gar nicht mal so unwahr. Der Sportclub kann plötzlich nach oben schauen und hat - so sieht es zumindest derzeit aus - in dieser Saison nichts mit dem Abstieg zu tun.

Die Tabelle der Bundesliga

Unter Streich in andere Richtung

Vor knapp einem Jahr wäre es wohl selbst für humorvoll gehalten worden, hätten die Anhänger so überzeugt den Klassenerhalt besungen. Ende Dezember 2011 war man in der Liga abgeschlagen Letzter, kaum einer traute Freiburg zu, in der Liga zu bleiben. Dann löste Christian Streich den glücklosen Marcus Sorg als Trainer ab und die Dinge entwickelten sich fortan in eine andere Richtung.

Frühzeitig sicherte das Team die Klasse. Aufgrund der überzeugenden Rückrunde hatte die Badener schon im Sommer kaum einer auf dem Zettel der heißesten Abstiegskandidaten.

Trotzdem gab Sportdirektor Dirk Dufner artig das Saisonziel Klassenerhalt aus: "Etwas anderes wäre vermessen." Doch schon damals schob er direkt hinterher: "Wenn ein bisschen mehr geht, wollen wir natürlich auch ein bisschen mehr."

Heynckes: Großes Lob für Streich

Dieses "bisschen mehr" scheint jetzt möglich. Durch den 3:0-Sieg gegen den VfB kletterte Freiburg auf einen Euro-League-Platz. Für Bayern-Trainer Jupp Heynckes ist das Gesicht des Erfolgs der Breisgauer eindeutig Christian Streich: "Der beste Mann in Freiburg sitzt auf der Bank. Er hat nicht nur an der Basis gearbeitet, er hat den Umschwung bewirkt in Freiburg."

Streich ist seit 30 Ligaspielen im Amt und der heimliche Trainer des Jahres. Die Zahlen sprechen für sich: In der Tabelle 2012 steht Freiburg mit 46 Punkten auf Platz sechs - und dass, obwohl das Team zu den Klubs der Liga mit den überschaubaren Etats zählt.

Bei der Kader-Zusammenstellung setzt Streich auf das Kollektiv. Einzelkönner haben in seinem System keinen Platz. So ließ er direkt nach seinem Amtsantritt wichtige Stützen wie Papiss Demba Cisse und Heiko Butscher ziehen und baute stattdessen konsequent auf junge, entwicklungsfähige Spieler, die er aus seinen 16 Jahren als Jugendtrainer im Verein bestens kannte.

"Sozialkompetenz vorhanden"

Innerhalb kürzester Zeit wurden Spieler wie Jonathan Schmid, Daniel Caligiuri oder Oliver Sorg zu Leistungsträgern im Team.

"Sie waren sofort vollwertige Mitglieder des Teams. Das ist auf diesem Niveau nicht selbstverständlich. Aber bei uns war die nötige Sozialkompetenz vorhanden. Die älteren Profis haben die jüngeren von Anfang an respektiert und akzeptiert. Wäre es anders gewesen, wäre ich als Trainer gescheitert. Denn dieser Prozess funktioniert nicht einfach auf Befehl", sagt Streich über die Integration der Talente.

Spielidee weiterentwickelt

Nach der furiosen Rückrunde hat Streich seine Spielidee im Sommer noch einmal weiterentwickelt. Die Breisgauer sind mit durchschnittlich 117,5 km pro Spiel das drittlaufstärkste Team der Liga (im Vergleich dazu: die Bayern laufen 111 km) und spielen taktisch diszipliniert. Das war auch schon im Frühjahr so.

Seit dieser Saison ist aber darüber hinaus noch eine neue Qualität ins Spiel des Sportclubs gekommen: Im Stile von Borussia Dortmund wartet das Team nicht mehr in der eigenen Hälfte auf den Gegner, sondern spielt aggressives Gegenpressing.

Dass die Stürmer im Streich'schen 4-4-2 sehr viel arbeiten und bei Ballbesitz des Gegners die ersten sein müssen, die die Verteidiger anlaufen, zeigt sich auch bei der Wahl des Personals: Zuletzt setzte der 47-Jährige im Angriff mit Jan Rosenthal und Max Kruse auf zwei gelernte Mittelfeldspieler.

Kruse und der Freiburger Weg

Kruse ist ohnehin ein Paradebeispiel für den Freiburger Weg: Der 24-Jährige war in der vergangenen Saison beim FC St. Pauli einer der torgefährlichsten Mittelfeldspieler der 2. Liga. Nach dem verpassten Aufstieg der Hamburger jagten ihn mehrere Bundesligaklubs, doch Kruse entschied sich für das Gesamtpaket Freiburg.

"Dass es uns gelungen ist, einen umworbenen jungen Profi nach Freiburg zu holen, zeigt, dass der SC Freiburg mit seiner Philosophie eine hervorragende Adresse für talentierte Spieler bleibt", sagte Sportdirektor Dufner nach der Verpflichtung.

An Kruse zeigt sich die Idee, die Trainer Streich für das Spiel seiner Mannschaft hat: Er versucht nicht, ihn als einen Stürmer mit der Quote eines Cisse (37 Tore in 65 Ligaspielen) aufzubauen. Stattdessen setzt er auf das Engagement und die Teamfähigkeit des Ex-Hamburgers.

Auch defensiv tragen Streichs Vorstellungen Früchte. Mit erst 14 Gegentreffern stellt der Sportclub hinter den Bayern die zweitbeste Defensive der Liga.

Verein mit Profil

Sportlich hat Streich Freiburg auf Vordermann gebracht. Nebenbei hat der 47-Jährige den Verein durch sein kauziges, authentisch wirkendes Auftreten wieder zu einem Verein mit Profil gemacht. Zu einem Verein, der für die Medien wieder interessant und für das Publikum sympathisch ist. Christian Streich ist Kult.

"Sicher bin ich anders als andere - aber jeder andere ist ja auch wieder anders. Das ist eben so", beschreibt er sich selbst in der für ihn typischen Art.

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Die Andersartigkeit des gebürtigen Badeners äußert sich überall. Er kommt mit dem Fahrrad zum Training, sagt gerade heraus, was er denkt und auch sein teilweise rumpelstilzchenhaftes Verhalten in der Coaching-Zone während der Spiele wurde zu seinem Markenzeichen.

"Er ist ein Irrwisch. Am Anfang hab ich gedacht, das ist ein Wahnsinniger - das kann nicht gesund sein. Aber wenn es seine Methode ist, dann soll er es machen", sagt Franz Beckenbauer über ihn.

Nächste Hürde: Bayern München

Streich könnte in Freiburg die nächste Ära einleiten. Nachdem das Projekt Marcus Sorg gescheitert ist, ist er wieder ein Mann mit Identifikationswert für den Verein mit einer klaren Idee, die den Sportclub sportlich voran bringt.

Ausruhen will sich Streich aber auf dem bisher erreichten nicht. Zumal nach dem überzeugenden Auftritt gegen Stuttgart das Saisonhighlight ansteht: die Bayern kommen (ab 19.45 Uhr im LIVE-TICKER). Für Streich ist klar, dass sein Team klarer Außenseiter ist - noch: "Wir fühlen uns in der Rolle des Kleinen wohl. Aber wir wollen nicht immer klein bleiben, sondern auch mal größer werden."

In der letzten Saison konnte Freiburg den Bayern mit leidenschaftlichem Kampf ein 0:0 abringen. Diesmal soll es unter Umständen ein bisschen mehr werden: "Wir werden auch zu Chancen kommen, auch wenn es nur ein oder zwei sind. Die müssen wir dann nutzen", sagte Jan Rosenthal.

Dass in den Reihen der Gäste mit Javi Martinez der Rekordtransfer der Bundesliga steht, macht Christian Streich nicht neidisch. Im Gegenteil: "Wenn ich 40 Millionen Euro zur Verfügung hätte, würde ich womöglich aus lauter Verwirrung in die andere Richtung laufen und ihm gar nicht begegnen."

Christian Streich im Steckbrief