Klinsmann: "Fußball ist globaler Wild West"

Von Interview: Stefan Rommel
Jürgen Klinsmann übergab den 16 Teilnehmerländern der Frauen-WM die Mannschaftsbusse
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SPOX: Glauben Sie, dass Ihre Zeit beim DFB damals den Weg frei gemacht hat für die "neue" Generation der Trainer?

Klinsmann: Das will ich so nicht beurteilen. Wir wollten damals vor allem alles für die WM 2006 auf den Weg bringen, was uns wichtig erschien. Es ist aber doch immer so: Wenn du Veränderungen willst, stößt du sofort auf Resistenz. Sie lassen dich dann gegen die Wand laufen, du bekommst viel Widerstand. Es kostet Arbeit und Energie, die Veränderungen dann letztlich doch durchzuboxen. Nur diese Dinge benötigen einfach Zeit. Vielleicht hilft das späteren Generationen.

SPOX: Wenn das jeweilige Vereins- oder Verbandsumfeld es zulässt...

Klinsmann: Die Personen sind immer andere, es gibt eine interne Politik. Das sind Faktoren, die immer unterschiedlich sind. Prinzipiell glaube ich aber schon, dass eine neue Bewegung da ist. Die Arbeit von Thomas Tuchel in Mainz oder von Jürgen Klopp in Dortmund war grandios. Da hat sich einiges getan. Und Jogi Löw ist der Vorreiter der Bewegung. Er zeigt nach wie vor, dass man attraktiven Fußball mit Erfolg verbinden kann. Dass man Risiken eingehen kann auch wenn man in Kauf nimmt, manchmal eine auf die Nuss zu bekommen. Aber man kann so mehr Emotionen herauskitzeln. Seine Arbeit ist sensationell.

SPOX: In Deutschland kommen ausgebildete Spieler und Trainer im Profibereich unter - eigens dafür ausgebildete Manager aber nur selten. Dabei sind die verantwortlich für ein mittelständisches Unternehmen. Brauchen wir eine Managerschule, analog zur Trainerausbildung beim DFB?

Klinsmann: Es gibt ja auch einige Ausbildungsfälle in der Bundesliga. Aber insgesamt kann dieser Bereich noch deutlich professionalisiert werden. Auf diesem Gebiet sind uns die amerikanischen Franchises um Welten voraus. Jeder dieser Klubs wird von Diplom-Studienabgängern geleitet, die sich in ihrem Metier auskennen - vom Steuerrecht über die Gesetzgebung bis zur Finanzbuchhaltung. Da gibt es keine Lücken. Dagegen ist der Fußball noch ein globaler Wild West.

SPOX: Welche Komponente des Fußballs wird in - sagen wir mal fünf bis zehn Jahren - noch bedeutender werden?

Klinsmann: Die Grundausbildung unserer ganz jungen Talente. Der FC Barcelona ist da auf einem Level angekommen, das für uns im Moment nicht erreichbar ist. Geschaffen wurde dies durch die Ideen von Johan Cruyff und den Aufbau ihrer Nachwuchsschule.

SPOX: Das ist aber schon 20 Jahre her...

Klinsmann: Und vor zehn Jahren wurden bei uns unter Gerhard Mayer-Vorfelder die Nachwuchsleistungszentren aufgebaut. Jetzt ernten wir die ersten Früchte der Änderungen von damals. Der nächste Schritt heißt jetzt: Wir müssen den Spaß am Spiel wieder fördern. Wie schaffen wir es, unsere jungen Talente auf so ein hohes technisches Niveau zu bringen, wie es der spanische Fußball geschafft hat? Die wurden im Prinzip über 20 Jahre dorthin geführt. Pep Guardiola setzt jetzt um, was er unter Cruyff gelernt hat und was Barcas Philosophie ist. Das Epizentrum ist der FC Barcelona, die Nationalmannschaft spielt nicht von ungefähr den Stil von Barca.

SPOX: Ist das wirklich so unerreichbar?

Klinsmann: Wir haben bereits vor zwei, drei Jahren gesagt, dass das ein anderes Level ist. Damals sind wir mit den Bayern an Barca gescheitert. Ich finde Barca faszinierend. Die haben das auf so einen hohen Sockel gesetzt, dass es wahnsinnig schwer werden wird, dahin zu kommen.

SPOX: Einen anderen Weg gibt es nicht?

Klinsmann: Mit Athletik ist ihnen nicht beizukommen, man kann sie so nicht bekämpfen. Dann lassen sie den Ball so schnell laufen, dass selbst die beste Fitness nicht ausreicht, um sie zu schlagen. Man muss sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, mit Technik, Spielfluss und Antizipation. Das sind aber die Dinge, die man am schwersten lehren kann. Nur wird das der wesentliche Kern werden. Hier muss man eine neue Dimension erreichen, um auch in zehn Jahren noch mit der Elite mitzuhalten.

SPOX: Muss sich jetzt jeder am FC Barcelona orientieren?

Klinsmann: In der Major League Soccer orientieren sich alle daran. Aber das sind auch noch junge Klubs. Doch selbst der FC Arsenal oder Manchester United schauen genau, wie die das in Barcelona machen. Warum ist der Zug ohne uns abgefahren, warum sitzen wir nicht drin? Hier gilt es anzusetzen.

SPOX: An der viel zitierten ganzheitlichen Ausbildung?

Klinsmann: Schauen Sie sich Xavi oder Iniesta an: Die wissen, wovon sie reden. Was sie verkörpern. Dass es nicht um das nächste große Auto geht, sondern um Demut, Respekt und Bescheidenheit. Zuerst kommt die Identifikation, dann das Individuum. Das ist für uns Deutsche sehr schwer. Wir wollen immer erst einen Namen, und dann erst das Thema haben. So läuft das aber nicht. Jeder ist dem großen Ganzen untergestellt.

SPOX: Das hört sich für die Nationalmannschaft nicht gerade optimistisch an. Hat Deutschland gegen Spanien beim nächsten großen Turnier wieder keine Chance?

Klinsmann: Wenn wir fünfmal gegen Spanien spielen, verlieren wir dreimal, spielen ein Mal unentschieden und gewinnen ein Spiel - wenn es gut läuft. Aber dieses eine Spiel könnte es ja demnächst sein. Man muss dann bereit sein, auch ein gewisses Risiko zu gehen und sich mit ihnen in ihrer Spielform zu messen. Mit brutaler Defensive und einer Zerstörungstaktik wird es schwer, ihren Fußball zu knacken. Unser Anspruch muss sein, dass wir sie jetzt angreifen wollen. Das heißt: Mitspielen, kreativ sein, das Spiel ohne Ball leben, ihren Rhythmus aufnehmen.

SPOX: Oder sich darauf verlassen, dass die Spanier bald nicht mehr den nötigen Biss haben.

Klinsmann: Das ist eine Schwierigkeit, mit der sie früher oder später zu kämpfen haben werden: Sie müssen sich ihren Hunger bewahren. Und das ist als Welt- und Europameister und Champions-League-Sieger verdammt schwer. Irgendwann sackt man ein bisschen ab und wird leer. Das wird spannend sein zu beobachten, wie sie das beibehalten wollen. Barca schafft es durch Druck der Generation von unten, da stoßen ständig neue Spieler nach, die noch nichts erreicht haben.

SPOX: Ist Deutschland in Europa die einzige Mannschaft, die Spanien herausfordern kann?

Klinsmann: Ich glaube schon. Selbst Holland sehe ich nicht so weit. Die haben natürlich eine sehr gute Mannschaft - die aber ihre eigene Identität aufgegeben hat. Die Holländer sind taktisch gut geschult und organisiert, fast ein wenig deutsch. Aber sie haben nicht mehr ihre spielerische Dynamik und Ästhetik. Sie werden weiterhin ein Wörtchen mitreden, aber am Ende wird es sich zwischen Spanien und Deutschland abspielen.

SPOX: Wie sieht Ihre nähere Zukunft aus? Können Sie sich ein neues Engagement in Europa demnächst wieder vorstellen?

Klinsmann: Im Moment liegt mein Lebensmittelpunkt rein in den USA, mir geht es hier hervorragend. Es war damals eine Entscheidung für die Familie, wieder zurückzugehen und die Familie wieder in Balance zu bringen - und nicht gleich wieder in ein neues Abenteuer zu stürzen. Aber wer weiß, was morgen passiert. Wenn es eine Konstellation gibt mit den richtigen Leuten am richtigen Fleck, dann kann man darüber reden.

SPOX: Zum Abschluss interessiert uns Ihre Meinung zu Michael Ballack: Wird er nochmal für Deutschland auflaufen?

Klinsmann: Zuerst wünsche ich mir, dass er fit bleibt und wieder das höchste Niveau erreicht. Und wenn er dann den Wunsch hat, bei der Nationalmannschaft zu spielen, dann ist das vollkommen in Ordnung. Wenn man so viele Jahre auf einem derart hohen Level gespielt hat, dann gibt man nicht so schnell auf - nur weil man durch eine Serie von Verletzungen gegangen ist. Deshalb will ich den Kämpfertypen in Michael sehen: "So, ich wird's euch allen noch zeigen!" Aber Jogi Löw und Michael Ballack brauchen da keine Ratschläge von mir.

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