Nach vier größtenteils enttäuschenden Jahren wollen die Baltimore Ravens in der kommenden Saison wieder angreifen. Eine ungewöhnlich aggressive Offseason soll den Grundstein für eine erfolgreiche Spielzeit legen. Das Erfolgsrezept ist ein altbekanntes. Noch gibt es allerdings viele Fragezeichen im Team.
Drei aus vier. Das sind die Zahlen, die vor der kommenden Saison wie ein Damoklesschwert über den Baltimore Ravens schweben. In drei der letzten vier Saisons verpasste die Franchise aus Maryland die Playoffs. Nach fünf Jahren, in denen man stets mindestens einen Playoff-Sieg einfahren konnte und sich 2012 sogar zum Champion krönte, ist so ein Negativlauf für Coach John Harbaugh und Co. schlicht nicht hinnehmbar.
Die Ravens wollen dahin zurück, wo sie einst waren. Und zwar am liebsten mit der gleichen Philosophie wie damals. Ravens-Football. Das bedeutet Defense. Toughness. Nervenstärke. Die größten Spieler der Vereinsgeschichte heißen Ray Lewis und Ed Reed. Darüber definiert sich die Franchise. Und damit identifizieren sich die Fans.
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Baltimore will zurück an seinen Platz an der Sonne. Infolgedessen zeigte sich General Manager Ozzie Newsome in diesem Frühjahr so aggressiv wie schon lange nicht mehr. Baltimore, der König der Compensatory Draft Picks, steht im kommenden Sommer aller Voraussicht nach mit gerade mal einem zusätzlichen Pick da. Die Ravens wollen gewinnen. Jetzt.
Noch weist der Kader allerdings eindeutige Schwachstellen auf.
Fehlende Balance in der Offense
Vor allem in der Offense müssen aktuell ganz deutlich mehr Frage- als Ausrufezeichen gesetzt werden. Bereits in der Vorsaison hatten die Ravens hier mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Die Run/Pass-Balance wurde zwar bereits früh als Problem ausgemacht, konnte aber selbst nach dem Offensive-Coordinator-Tausch von Marc Trestman zu Marty Mornhinweg nicht behoben werden.
Mit 367 Runs zählte Baltimore zum Bodensatz der Liga (nur Cleveland und Detroit wiesen noch weniger auf), Joe Flacco (679 Passversuche) musste derweil mehr werfen als jemals zuvor in seiner Karriere - und: Mehr als jeder andere Quarterback 2016. Der Erfolg blieb überschaubar. 20 Touchdowns und 15 Interceptions, sowie 6,4 Passing Yards pro Versuch (neuer Karrieretiefstwert) wurden für den 32-Jährige notiert. Mit 21 Punkten pro Spiel rangierte Baltimore zudem im unteren Drittel der Liga.
Aderlass in der Offseason
Wer anschließend auf Ersatz gehofft hatte, der wartet noch heute vergeblich. Stand jetzt werden die Rollen der Abgänge wohl von Michael Campanaro (17), James Hurst (302), John Urschel (265) und Nick Boyle (114) eingenommen - Namen, die bei den wenigsten NFL-Fans Begeisterung hervorrufen dürften.
Steals, Quarterbacks, große Fragezeichen: Draft-Grades für alle 32 Teams
Das mangelnde Talent in der Ravens-Offense wirft Fragen auf, doch die Probleme des Teams gehen tiefer. Smith galt nicht nur als der wohl beste Receiver im Kader, vor allem war er der Komplementär-Spieler zu den Speedstern Mike Wallace und Breshad Perriman.
Wallace hat sich mit seiner besten Saison seit fünf Jahren zwar im Kreis der besseren NFL-Receiver zurückmelden können, bleibt in seinen Routes aber doch beschränkt. Für Perriman, der in seiner ersten vollen Saison zwar mit einigen spektakulären Catches glänzen konnte, aber ebenso mit Drop-Problemen zu kämpfen hatte, gilt Ähnliches.
Rückkehr zum Deep Ball?
Einen guten Route-Runner mit sicheren Händen über die Mitte sucht man in Baltimore noch vergebens. Kamar Aiken (595 Offense-Snaps), der diese Rolle wohl hätte einnehmen können, ließ man ebenfalls ziehen.
Eine naheliegende Option könnte daher eine Umstellung auf mehr Two-Tight-End-Sets sein - mit Dennis Pitta, Benjamin Watson, Crockett Gilmore, Maxx Williams, Nick Boyle und Darren Waller sind die Ravens auf dieser Position zumindest in der Tiefe gut besetzt.
Dass sich dies tatsächlich mit den Plänen von Offensive Coordinator Mornhinweg deckt, darf allerdings bezweifelt werden. Der 55-Jährige setzt traditionell auf eine vertikal ausgelegte Offense und baute im letzten Jahr einige Spread-Elemente in das Playbook mit ein. Mornhinweg soll den Deep Ball (20+ Air Yards) in Maryland wieder beleben und so Flacco seine vielleicht größte Stärke wiedergeben. In Philadelphia installierte Mornhinweg in der Vergangenheit bereits eine Offense, die in diesem Punkt ligaweit ihresgleichen suchte.
So könnte der einzige namhafte Neuzugang in der Offense der Ravens eine unerwartet große Rolle einnehmen: Danny Woodhead verpasste zwar fast die gesamte letzte Saison durch einen Kreuzbandriss, wenn er fit ist, stellt der 32-Jährige allerdings einen der besten und vielseitigsten Receiving-Backs der Liga dar.
In Baltimore ist er daher sicher als Third-Down-Back vorgesehen, bereits in der Vorsaison wurden die etatmäßigen Running Backs Terrance West und Kenneth Dixon aufgrund ihrer Schwächen in der Pass-Protection in dieser Rolle kaum genutzt. Doch: Es erscheint mehr als nur denkbar, dass Woodhead als Receiving-Waffe zunehmend im Slot aufgestellt werden wird - spätestens, wenn Dixon von seiner Vier-Spiele-Sperre zurückkehrt.
Roman als Heilsbringer?
Angesichts der offensichtlichen Baustellen in der Ravens-Offense ist eine Rückkehr zu einem starken und vor allem konstanten Run-Game unabdingbar. Eine Schlüsselrolle soll dabei Greg Roman einnehmen. Als Offensive Coordinator war er in Buffalo einer der Hauptverantwortlichen für das ligaweit stärkste Running Game. Romans offizielle Anstellung bei den Ravens lautet "Senior offensive assistant & tight ends coach", doch man muss kein Hellseher sein, um bei dieser Verpflichtung eins und eins zusammenzuzählen.
Mit West und Dixon können die Ravens auf ein junges und explosives Running-Back-Duo, das vielseitig einsetzbar ist, bauen. Beide verfügen sowohl über die Beschleunigung, um bei Outside-Runs für Yards zu sorgen als auch über die Power durch die Mitte, zudem sind beide - trotz ihrer Schwächen in der Pass-Protection - auch als Receiving-Back brauchbar.
Die Offensive Line als Baustelle
An fehlender Qualität im Backfield ist die Abkehr vom Run Game in der vergangenen Saison also nicht festzumachen. Doch: Coach Harbaugh und Owner Steve Bisciotti können über einen stärkeren Fokus auf das Running Game reden so lange sie wollen - die Probleme des Teams in dieser Hinsicht beginnen nicht bei ihren Backs, sondern mit der Offensive Line. Ozzie Newsome kündigte nach dem Verpassen der Playoffs an, genau diesen Teil des Teams verstärken zu wollen. Fehlanzeige: Das Gegenteil war der Fall.
Das SPOX-Power-Ranking nach Draft und Free Agency
Stand jetzt sind gerade mal zwei Positionen in der Offensive Line sicher besetzt: Mit Right Guard Marshal Yanda hat man zwar den vielleicht besten Offensive Lineman der Liga als Anker, Left Tackle Ronnie Stanley wusste zudem bereits als Rookie zu überzeugen und rechtfertige seine Vorschusslorbeeren als sechster Pick des Drafts.
Dahinter wird es allerdings schon düster: Viertrundenpick Alex Lewis überraschte zwar positiv und mauserte sich zu einem soliden Starter, ehe seine Saison durch eine Knöchelverletzung vorzeitig beendet wurde. Allerdings weiß er aktuell wohl selbst nicht, ob er auf seiner Position auf Left Guard bleibt oder die Rolle als Right Tackle einnehmen muss. Um die letzten beiden Spots wird es wohl einen Wettbewerb mit den Bewerbern John Urschel, Ryan Jensen, James Hurst, De'Ondre Wesley und Nico Siragusa geben. Nicht unbedingt die Creme de la Creme der NFL. Ausgang ungewiss.
Klar ist also: Auf Mornhinweg und seine neue rechte Hand Roman kommt eine Menge Arbeit zu. Angesichts der Umstände werden sicher keine Wunderdinge erwartet. Der Ball soll bestmöglich kontrolliert, die Uhr besser gemolken und Turnover weitestgehend vermieden werden. Auch das ist Ravens-Football. Ob man dafür allerdings tatsächlich das Personal und die Qualität hat, darf aktuell doch bezweifelt werden.
Während die Offense in Baltimore geradezu bemitleidend beäugt werden muss, zeigt sich in der Defense ein gänzlich anderes Bild. Bereits in der vergangenen Saison gelang Defensive Coordinator Dean Pees der Turnaround, in fast allen signifikanten Statistiken rangierten die Ravens in den Top-10. Doch damit gab man sich nicht zufrieden: Newsome hatte bereits unmittelbar nach dem Saisonende angekündigt, die Secondary verstärken zu wollen und im Gegensatz zu den Versprechen in der Offense lieferte der GM - und wie.
Den größten Namen präsentierte er gleich zu Beginn der Free Agency: Mit Tony Jefferson wurde der wohl begehrteste Safety auf dem Markt nach Baltimore gelockt. Mit Jefferson und Eric Weddle, der im vergangenen Sommer ebenfalls als Free Agent den Weg nach Maryland fand, verfügt das Team nun plötzlich über ein Safety-Duo, das sich ligaweit vor niemandem verstecken muss.
Beide sind flexibel einsetzbar, zählten zu den stärksten Verteidigern gegen den Run, sind aber ebenso in der Lage, in Coverage standzuhalten. Weddle wird seine Rolle zwar ein wenig verändern und vermehrt den Deep Safety geben müssen, sollte das Duo auf dem Feld allerdings nur annähernd so gut harmonieren wie sie es jetzt bereits auf Twitter tun, dürfte sich so mancher Quarterback auf einige ungemütliche Abende einstellen.
Das Ende der Cornerback-Suche?
Noch wichtiger als das Upgrade in der Mitte des Feldes dürften jedoch die Verpflichtungen auf der Cornerback-Position sein. Bereits seit Jahren suchen die Ravens vergeblich nach einem Gegenpart zu Nummer-1-Corner Jimmy Smith. Dessen immer wieder auftretende Verletzungsanfälligkeit trug zur Lösung dieses Problems obendrein nur bedingt bei.
In der Folge ließ Baltimore in der vergangenen Saison 28 Receiving-Touchdowns zu. Vor allem spät im Spiel mangelte es den Ravens immer wieder an Qualität, um die gegnerischen Wideouts zu stoppen. Der brutale Last-Minute-Touchdown-Catch von Antonio Brown in Week 16 steht beispielhaft dafür.
Dieses Problem wurde aggressiv angegangen. Brandon Carr, der aus Dallas kam, liefert vor allem eins: Beständigkeit. Kein Cornerback spielte seit dem Draft 2008 auch nur annähernd so viele Snaps wie der 31-Jährige, der so nicht nur den Komplementär-Back zu Smith geben soll, sondern gleichzeitig eine Art Versicherung für diesen darstellt. Mit Erstrunden-Pick Marlon Humphrey sowie der positiven Überraschung der Vorsaison Tavon Young im Slot verfügt Pees plötzlich über eine lange nicht mehr da gewesene Tiefe in der Secondary.
Neu gewonnene Variabilität
Die neu hinzugewonnene Qualität wie Quantität eröffnet den Ravens plötzlich auch ganz neue Möglichkeiten im Gestalten des Playbooks. Es darf davon ausgegangen werden, dass das relativ simple Zone-Coverage-Scheme der Vorsaisons etwas abgeändert werden, mehr Man Coverage gespielt und womöglich auch mehr geblitzt werden wird - womit auch dem kränkelnden Pass Rush geholfen werden könnte.
Dass man mit dem athletischen Jefferson einen Safety hinzugewonnen hat, der in der Lage ist, Tight Ends alleine zu decken, hilft dabei ungemein. Jefferson wird es Baltimore erlauben, mehr auf Nickel- und Dime-Sets zu setzen - und so die eigene Pass-Defense zusätzlich zu unterstützen.
Pass-Rush dringend benötigt
Auch der Pass-Rush soll von der verstärkten Secondary profitieren. Mit gerade mal 31 Sacks rangierten die Ravens in der vergangenen Saison im unteren Viertel der Tabelle. Terrell Suggs ist zwar trotz zweier Achillessehnenrisse immer noch produktiv, im Alter von 34 Jahren jedoch kein One-Man-Pass-Rush mehr.
Hilfe soll er dabei in der kommenden Saison vor allem von einigen Youngstern bekommen. Da Kamalei Correia aller Voraussicht nach seine Transformation zum Inside Linebacker neben C.J. Mosley fortsetzen wird, wird die Jagd nach dem Quarterback auf den Schultern eines Trios verteilt werden: Matthew Judon, Tyus Bowser und Tim Williams bringen zweifelsohne die erforderliche Athletik und Qualität mit, wie schnell sie diese auf dem NFL-Level abrufen können, bleibt allerdings noch abzuwarten.
Defensive Line als neue Problemzone?
Bei all dem (berechtigten) Lob über die Verbesserungen innerhalb der Ravens-Defense muss man sich jedoch gleichzeitig fragen, ob sich Baltimore mit der Fokussierung auf die Pass-Defense nicht womöglich gleich wieder eine neue Baustelle selbst aufgemacht hat.
Die Run-Defense stellte in der vergangenen Saison lange Zeit die große Stärke des Teams dar und mit Brandon Williams wurde der Anker in der Mitte der D-Line auch tatsächlich kostspielig gehalten. In Zachary Orr, Timmy Jernigan und Lawrence Guy verlor man aber dennoch gleich drei (vor allem gegen den Run) wichtige Bestandteile der Front Seven.
Dass die Ravens sich proaktiv dazu entschieden, Jernigan für einen relativ geringen Gegenwert in Richtung Philadelphia zu verschiffen, deutet darauf hin, dass man durchaus Vertrauen in die Qualitäten seiner Young Guns in der Front hat. Ob dieses tatsächlich gerechtfertigt ist, muss sich jedoch erst noch zeigen. Stand jetzt stehen hinter allen Kandidaten, Michael Pierce (eigentlich ein zweiter Nose Tackle), Bronson Kaufusi, Brent Urban (beide Verletzungsprobleme) und Chris Wormley (Rookie), noch klare Fragezeichen.
Endlich wieder Playoffs
Über Qualität verfügt die Ravens-Defense dennoch allemal. Mit Weddle, Jefferson, Mosley, Williams und Co. stehen zahlreiche Spieler mit Pro-Bowl-Potential zur Verfügung. Newsome hat auf dieser Seite des Balls geliefert, nun wird Pees zeigen müssen, dass er die Puzzleteile auch zusammensetzen kann - Fragezeichen in der Front Seven hin oder her.
Der Druck in Baltimore ist schließlich nicht nur aufgrund der ungewöhnlich aggressiven Offseason groß. Eine vierte Saison ohne Playoffs innerhalb von fünf Jahren wäre für die eigentlich chronisch erfolgsverwöhnte Franchise nicht hinnehmbar. Bei einem erneuten Misserfolg würden sich auch Harbaugh und Flacco, die Gesichter der Franchise, erstmals ernsthaft öffentlicher Kritik stellen müssen.
Noch haben die beiden allerdings die Trümpfe selbst in der Hand. Talent ist in Baltimore - vor allem defensiv - zweifelsohne vorhanden. Der Weg, der verfolgt werden soll, ist klar definiert und altbekannt. Ob dieser allerdings erneut zu Erfolg führen kann, steht noch auf einem anderen Blatt.
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