Der VfB Stuttgart hat sich unter Trainer Bruno Labbadia konsolidiert und ist auf dem Weg zurück in Deutschlands Spitze. Der Prozess ist dabei aber noch lange nicht abgeschlossen - auch wenn die grundlegenden Voraussetzungen geschaffen sind. Labbadias signifikante Arbeit und die richtigen Personalentscheidungen geben aber Grund zur Hoffnung.
Die letzte Saison "war die Hölle". Bruno Labbadia wird nicht müde, das zu betonen. Einerseits, um auch dem letzten verwöhnten Nörgler auf der Haupttribüne zu verdeutlichen, woher diese Mannschaft eigentlich kommt. Aus dem tiefsten Abstiegsstrudel, Existenz gefährdend und brutal.
Andererseits aber auch, um selbst aus dieser bedrohlichen Lage noch etwas Positives zu ziehen. Denn: "Die Erfahrungen der letzten Saison haben uns hart gemacht und helfen uns jetzt ungemein."
Das spiegelt sich dann in der Tabelle wider. Mit 18 Punkten liegt der VfB auf Rang sechs. Die notorischen Vorrunden-Verweigerer scheinen ihr Phlegma angelegt zu haben. Zuletzt stand die Mannschaft nach einem Drittel der Saison nur im Meisterjahr 2006/07 besser.
Gepaart mit den 30 Punkten aus der Rückrunde der abgelaufenen Saison macht das bisher 48 Punkte im Kalenderjahr unter Bruno Labbadia. Lediglich Jupp Heynckes und Jürgen Klopp haben mit ihren Teams im selben Zeitraum mehr Punkte eingefahren. Bei Heynckes sind es 60 (35 mit Leverkusen, 25 mit den Bayern), Klopp kommt auf 52.
Labbadia hat die Mannschaft von Rang 17 erst zum Klassenerhalt geführt und jetzt zwischenzeitlich auf einen Platz im internationalen Geschäft. Labbadias Geheimnis ist dabei ein Mix aus vielen kleinen Mosaiksteinchen, die mehr und mehr ein solides Gesamtbild ergeben.
Das aber auch noch nicht so gefestigt ist, dass man beim VfB bereits wieder von einer Spitzenmannschaft sprechen könnte - auch wenn sich die Mentalität der Mannschaft deutlich verbessert hat. "Eine Niederlagen-Serie würde uns schwer zusetzen", gibt Martin Harnik zu.
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Systemumstellung und K&K
Labbadia hat sich mit Beginn der Rückrunde auf ein System mit nur einem Stürmer eingelassen, dafür aber einer offensiven Dreierreihe dahinter. Und er hat sich auf eine fixe Doppel-Sechs mit Träsch und Kuzmanovic festgelegt. Unter Labbadias Vorgängern Jens Keller und Christian Gross wurde da noch fleißig rotiert, kamen auch Christian Gentner und Mamadou Bah zentral vor der Abwehr zum Einsatz.
Die Spielidee ging schnell weg vom Gross'schen Plan mit schnellen, dribbelstarken Außenbahnspielern, zwei körperlich robusten Stürmern und dem Überbrücken des Mittelfelds mit hohen Bällen. Die Neuausrichtung der Defensivzentrale mit Kuzmanovic und vor allem mit dem allgegenwärtigen William Kvist bietet mehr spielerische und strategische Variabilität.
Die gefestigte Defensive
Quasi aus der Not wurde das Innenverteidigerpärchen Tasci und Maza geboren. Der Mexikaner kam nach Delpierres langwieriger Verletzung aus Eindhoven. Aber trotz der nicht vorhandenen Eingewöhnungsphase steht die Stuttgarter Innenverteidigung wieder sicher.
Beide haben alle 990 Minuten dieser Saison absolviert, ihre Werte sind überdurchschnittlich gut. Neben den Zweikampfwerten von 66,5 beziehungsweise 62,5 Prozent gewonnener Duelle stechen 600 (Tasci) und 666 (Maza) Ballkontakte hervor. Damit liegen die beiden in der Preisklasse der beiden defensiven Mittelfeldspieler Kvist (623) und Kuzmanovic (600).
Bisher kassierte der VfB nur zwei Gegentore durch Stürmer - in der Vorsaison waren es nach elf Spieltagen bereits neun Gegentore durch Angreifer. Entlastet wird die Viererkette aber entscheidend vom Rest der Mannschaft (siehe spätere Punkte Laufleistung/Fitness und Umschaltspiel). Insgesamt neun Gegentore sind der viertbeste Wert aller Klubs - nur dreimal ist der VfB besser in eine Bundesliga-Saison gestartet.
1965/66 und in der Meister-Saison 1991/92 waren es sieben, vor acht Jahren beim Rekord von Timo Hildebrand sogar nur zwei. Aber: Alle neun Gegentore kassierte der VfB innerhalb des Strafraums.
Der Trend unter Labbadia ist klar: Lag die Gegentorquote in der Hinrunde der letzten Saison mit den Trainern Gross und Keller noch bei 1,875 Pro Spiel, hat Labbadia den Schnitt im Kalenderjahr 2011 auf 1,18 gedrückt. Aus der drittschlechtesten wurde die drittbeste Defensive der Liga.
Das Umkehrspiel
Wirklich neu sind die Erkenntnisse ja nicht mehr, dass der Gegner in der Offensive bei schnellem Umschalten in einer ungeordneten Defensive besonders zu verwunden ist. Und dass vereinfacht gesagt die eigene Defensive kompakter steht, wenn möglichst viele Spieler näher zum eigenen Tor stehen als der Ball. Stuttgart erfindet hierbei nichts neu, wendet aber die erfolgreichen Praktiken konsequent und konzentriert an.
Labbadia hat aber das kleine Kunststück fertiggebracht, den Fokus seiner Arbeit selbst in der bedrohlichen Lage des Abstiegskampfs auf einstudierte Elemente zu legen. Oder gerade deshalb? Klar ist, dass der VfB mittlerweile wieder nach einem definierten Plan verteidigt.
Die beiden zentralen Offensivspieler Cacau und Hajnal laufen den Gegner so an, dass der Ball so oft wie möglich auf einen der Außenspieler gepasst werden muss. Kommt von dem dann der Ball nach vorne gespielt zurück ins Zentrum, greifen Kuzmanovic oder Kvist zu. Wenn der Gegner nur mit einem nominellen Angreifer spielt, darf vor allen Dingen auch Tasci auf einen tiefer gespielten Ball spekulieren und sich gegebenenfalls auch riskant aus der Viererkette lösen.
Die enorme Laufbereitschaft seiner Mannschaft sowie die gute Abstimmung zwischen Kvist und Kuzmanovic, von denen einer immer abkippt und als Grundsicherung dient, unterbindet den Großteil gegnerischer Konterattacken schon früh - oder zögert zumindest den schnellen Torabschluss so weit hinaus, bis die meisten VfB-Spieler wieder ihre festen Defensivpositionen erreicht haben.
Dass das Konzept greift, belegt folgende Zahlenreihe: Alleine bei seiner Premiere als VfB-Coach gegen die Bayern am letzten Vorrunden-Spieltag kassierte der VfB noch mehr Kontergegentore (3) als in den letzten 22 Spielen zusammen. Seit dem 24. Spieltag der letzten Saison waren es nur noch zwei.
Umgekehrt lässt er seine Spieler blitzschnell von der Defensive auf die Offensive umschalten: Elf Kontertore in der letzten Rückrunde waren die zweitmeisten nach den Bayern.
Und auch im laufenden Spieljahr kam der VfB nach Hoffenheim am häufigsten nach schnellen Gegenangriffen zum Torschuss (24 mal). Allerdings: Hier haperte es bisher gewaltig an der Chancenverwertung, aus diesen 24 Konterchancen resultierte bisher nur ein Tor.
Deshalb spricht Labbadia auch weiterhin "nur" von guten Ansätzen und dass sich die Mannschaft inmitten einer Entwicklung befinde.
Teil 2: Standards, Fitness, Transfers, Probleme
Die Standards
Nicht erst das Führungstor von Tasci gegen den BVB hat gezeigt, dass sich der VfB bei seinen Offensiv-Standards sehr einfallsreich präsentiert. Bisher traf Stuttgart schon achtmal nach einem Standard. Zusammen mit Hannover 96 ist das der Spitzenwert der Liga.
Knapp die Hälfte der 17 Tore also. In der Zeit vor Labbadia schaffte es die Mannschaft in der vergangenen Vorrunde gerade auf 27 Prozent (6 von 22 Toren). Die Varianten sind abwechslungsreich gestreut, der Gegner hat es unheimlich schwer, sich auf darauf einzustellen.
"Mich freut dieser Treffer ganz besonders, weil fast alle Spieler daran beteiligt waren", sagt Labbadia. "Bis auf zwei unserer Leute haben in dieser Szene alle ihre festgelegten Laufwege und die auch exakt eingehalten."
Auffällig beim Treffer gegen den BVB: Boulahrouz hatte aus der grundlegenden Sicht keinen Auftrag. Der Niederländer orientierte sich bei Hajnals Flanke überhaupt nicht zum Ball, auch achtete er in der ersten Aktion auch kaum auf den Gegner. Boulahrouz lief einfach geradeaus aufs Tor durch, verstärkte dadurch nur den Verkehr vor Weidenfeller.
Auch deshalb musste Kehl um ihn herumlaufen und holte so den Abstand auf den auf dem zweiten Pfosten kreuzenden Harnik bis zu dessen Torschuss nicht mehr auf. Beim Abpraller standen dann Boulahrouz und Torschütze Tasci komplett frei, obwohl der BVB im Strafraum klar in der Überzahl war. Das einzige Zufallsprodukt des kompletten Angriffs.
So gut der VfB aber in der Offensive bei den Standards verfährt, so ausbaufähig sind seine Aktionen bei Defensiv-Standards. Schon fünf Gegentore hat der VfB so kassiert, besonders bei Eckbällen (drei) ist die Mannschaft anfällig.
Die Fitness
Die Grundlage von allem. In Stuttgart aber eine Halbserie lang fahrlässig stiefmütterlich behandelt. Die Werte der Mannschaft waren so schlecht, dass sich der Klub schon kurz nach Labbadias Amtsantritt erste Gedanken über die Umgestaltung der Konditions- und Athletikabteilung gemacht hat. Im Sommer trennte man sich dann endgültig von Konditionstrainer Christian Kolodziej.
Labbadia hatte zusammen mit seinem Co-Trainer Eddy Sözer die Planungen für die Rückrunde übernommen. Was sich dann schon in der Rückrunde in deutlich besseren Werten ablesen ließ, findet jetzt seine Fortsetzung.
Die Mannschaft kann bis zuletzt Tempo gehen. Späten Toren gegen Schalke, Hannover, Hoffenheim und Nürnberg stehen lediglich ein Gegentor von Freiburgs Cisse gegenüber. Insgesamt hat die Mannschaft zwölf ihrer 17 Tore in der zweiten Halbzeit erzielt. Nur Schalke (17) und die Bayern (14) sind noch besser.
Die Qualität der Laufleistung liegt dabei für Labbadia im Vordergrund. In der absoluten Kilometerleistung liegt die Mannschaft im Mittelfeld der Liga, geht es aber ins höchste Tempo, ist der VfB spitze. Im Schnitt 177 Sprints ziehen Stuttgarter Spieler pro Partie an, ein unerreichter Wert in der Liga.
Protagonist ist hier vor allem Martin Harnik, der in dieser Saison von allen Spielern ligaweit die meisten Sprints angezogen hat (28 pro Spiel).
Die Transfers
Mit punktuellen, perfekt passenden Verstärkungen wie Hajnal und Okazaki im Winter, sowie Kvist und Maza im Sommer hat Labbadia gemeinsam mit Manager Fredi Bobic ein funktionierendes Gefüge gebildet.
Dazu hat er mit Khalid Boulahrouz einen fast verschüttet geglaubten Spieler aus dem Tal geholt und zum wichtigen Stammspieler gemacht. Insgesamt hat sich die Mannschaft seit Labbadias Übernahme auf der Hälfte der Feldspielerpositionen verändert.
Labbadia hat sein Personal gemäß seiner Spielidee abgestimmt. Vor allen Dingen Kvist sticht hier hervor. Der Däne ist die gelebte Antizipation, bestimmt Rhythmus und Takt der Schwaben sowohl defensiv als auch offensiv. Kvists Ruhe am Ball auch in kniffligen Situationen ist bemerkenswert. Sein Wert für die Mannschaft kann die Statistik nur unzureichend begreifen.
Das Problem
So stark sich die Schwaben in den letzten Monaten auch in vielen Belangen verbessert haben, so sicher gibt es immer noch jede Menge Baustellen. Die größte: Sobald ein Gegner dem VfB Ball- und Spielkontrolle überlässt, wird die Mannschaft unruhig.
Stuttgart kann mit übermäßigem Ballbesitz wenig anfangen, die Mannschaft kann das Spiel nicht in der Art echter Spitzenmannschaften diktieren und den Gegner langsam, aber stetig bespielen und letztlich zu entscheidenden Fehlern zwingen.
Das Konterspiel liegt der Mannschaft mehr, insofern verwundert folgende Statistik keineswegs: Labbadia hat saisonübergreifend in bisher 14 Heimspielen mit dem VfB Saison 23 Punkte geholt. In ebenso vielen Auswärtsspielen waren es 25 Punkte.
Der Trend, den Labbadia auch bei seinen früheren Bundesliga-Stationen in Leverkusen und Hamburg angedeutet hatte, bestätigt sich auch beim VfB. Labbadias Mannschaften sind auswärts ungemein gefährlich, Labbadia ist aktuell sogar der erfolgreichste "Auswärtstrainer".
Im Schnitt holten Labbadias Mannschaften in 46 Auswärtsspielen 1,53 Punkte pro Partie. Selbst Thomas Schaaf kann da mit Werder Bremen nicht mithalten (298 Punkte in 210 Spielen, Quote: 1,41).
Auch Klopp (1,20) und Heynckes 1,02 liegen hinter Labbadia. 20 Siege bei 46 Spielen und dabei nur 15 Niederlagen sind ebenso absolute Top-Werte.
"Wenn man Heimspiele hat, muss man das Spiel machen und entscheiden: Wann spielt man schnell, wann muss man das Tempo rausnehmen? Dann ist da auch das eigene Publikum, das eine Erwartungshaltung hat und ungeduldig wird", erklärt Labbadia sein recht simples Rezept.
Auf Dauer wird sich die Mannschaft aber nur weiter in die Spitze bewegen, wenn auch andere Spielsituationen so beherrscht werden wie das schnelle Konterspiel. Das braucht Zeit, die Labbadia und Bobic auch einfordern. Die ersten Grundlagen sind aber gelegt. "Bei uns wächst etwas heran", sagt Kvist mit Blick auf die Zukunft.
Das ist der VfB Stuttgart
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