Die beste Bank aller Zeiten

Stefan Rommel
09. Juni 201217:58
Die Joker von Löw: Mario Götze, Marco Reus, Andre Schürrle (v.l.) Getty
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Bester Innenverteidiger, größte Nachwuchshoffnung, aufregendster Bundesligaspieler, gefährlichster Knipser: Was sich wie die Aufstellung einer Startelf liest, sitzt beim DFB auf der Bank - der besten seit vielen Jahren. Wird das der Trumpf für den EM-Titel sein?

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Vor dem Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal (Sa., 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) wird weiterhin über die Elf spekuliert, die Joachim Löw bei Anpfiff aufbieten wird.

Doch vielmehr als die Stammelf zu Beginn der EM, das hat die Vergangenheit nur zu oft bewiesen, kommt es im Verlauf eines langen, kräftezehrenden Turniers besonders auf die Spieler aus der zweiten Reihe an.

Jene Akteure, die womöglich lange Zeit nur draußen sitzen, dann aber in kniffligen Momenten die entscheidenden Impulse geben sollen. Der Kader der deutschen Mannschaft ist dieses Jahr dabei so ausgeglichen besetzt wie selten zuvor.

"Wir haben gute Voraussetzungen mit unserem Kader. Und dass wir die Qualität auch in der Breite haben, ist jedem bekannt", sagt Kapitän Philipp Lahm. Sieben ganz besondere Spieler hat Joachim Löw in der Hinterhand und damit so ziemlich die beste Bank, mit der eine deutsche Mannschaft je in ein Endturnier gestartet ist.

"Es ist unglaublich, was wir insgesamt für eine Besetzung haben", sagt Per Mertesacker. "Was da von der Bank kommt, kann den Unterschied ausmachen. Da haben wir ein ganz großes Plus."

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Abwehr

Mats Hummels: Der beste deutsche Innenverteidiger der abgelaufenen Bundesligasaison sitzt nur auf der Bank. So sieht es zumindest ein paar Stunden vor dem Auftakt gegen Portugal aus. Hummels bringt das beste Gesamtpaket aus Fitness, Können in den notwendigen Teildisziplinen und Selbstvertrauen nach dem Double mit dem BVB mit - und trotzdem reicht es im DFB-Dress offenbar nicht für die Startelf.

Die Unerfahrenheit mag dabei eine große Rolle spielen. Zumindest hat der Bundestrainer vor einigen Tagen relativ offen bekundet, dass den Dortmunder Spielern im Vergleich etwa zum Bayern-Block die Erfahrung auf internationalem Topniveau abginge. Nicht ganz zu Unrecht, hat es der BVB in zwei Jahren im europäischen Wettbewerb jeweils nicht über die Gruppenphase hinaus geschafft.

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Trotzdem wird Hummels latent in Lauerstellung bleiben (müssen). In den letzten beiden Turnieren unter der Anleitung von Löw als Bundestrainer gab es immer einen deutschen Innenverteidiger, der unter seinem eigentlichen Leistungsniveau ins Turnier gestartet war und relativ lange Zeit von seinem Nebenmann mitgeschleppt werden musste.

2008 war es Christoph Metzelder, der von Mertesacker protegiert wurde und quasi bis zum Finale nie seine eigentliche Form erreichen konnte. Vor zwei Jahren hatte Mertesacker seinerseits große Anlaufschwierigkeiten und fand erst allmählich an der Seite von Arne Friedrich seinen Rhythmus.

Vermutlich wird Löw dieses Mal nicht so lange tatenlos zuschauen. Mertesacker muss von Beginn an funktionieren und darf nicht zu viele Angriffspunkte für Kritik liefern. Weil der Bundestrainer eben mit Hummels eine adäquate Alternative in der Hinterhand hat, die ihm einen Wechsel ohne großen Qualitätsverlust zu jedem Zeitpunkt ermöglicht.

Lars Bender: Auf den ersten Blick ist Bender nicht der spektakuläre Bankspieler. Der Bundestrainer aber sieht Qualitäten in ihm, die unter Umständen von ganz entscheidender Bedeutung sein können.

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Löw plant mit dem Leverkusener als Variante rechts in der Viererkette. "Läuferisch absolut belastbar" sei Bender, was angesichts dessen Laufquantität und -intensität eine glatte Untertreibung ist. Vor allen Dingen aber bringt er eine Sache mit, die gemäß Uli Hoeneß den Bayern unter anderem den Champions-League-Titel gekostet hat.

In Tourrettes hatte Löw schon darauf aufmerksam gemacht, dass er einen Spieler in seiner Mannschaft haben will, der einen Gegner "auch einfach mal ausschaltet", ihn mittels Manndeckung aus dem Spiel nimmt. Die hohe deutsche Schule der 80er und 90er Jahre sozusagen. Ein Wadenbeißer, wie ihn Hoeneß gegen Chelsea vermisst hatte.

Früher hat Löw Spieler wie David Odonkor oder Marko Marin als Spezialwaffen wegen deren Offensivqualitäten nominiert. Lars Bender ist das Äquivalent für die Defensive.

Teil II: Die Joker im Mittelfeld und Sturm

Mittelfeld

Toni Kroos: Der Münchener ist einer der wenigen Ergänzungsspieler, die schon über eine - wenngleich auch überschaubare - Turniererfahrung verfügen. Dazu ist Kroos in den 22 Spielen seit der WM 2010 19 Mal zum Einsatz gekommen. Nicht selten davon von Beginn an und an der Seite von Sami Khedira, weil Bastian Schweinsteiger oft gefehlt hat.

Kroos ist sehr nah dran an der ersten Elf, in der Zusammensetzung mit Schweinsteiger und Khedira sieht der Bundestrainer aber die beste Balance aus Defensive und Offensive auf der Doppel-Sechs. Kroos funktioniert am besten an der Seite von Khedira, weil ihm der in der Rückwärtsbewegung den Rücken freihält. SPOX

In wichtigen Spielen (beim 3:0 gegen die Türkei in der Qualifikation) oder gegen starke Gegner (beim 3:0 über die Niederlande) hat Kroos bewiesen, dass er die Rolle in der defensiven Zentrale mit Khedira stemmen kann.

Derzeit scheint er nach einer langen, am Ende unbefriedigenden Saison und dem finalen Tiefschlag mit den Bayern leicht durchzuhängen. Trotzdem wird er für Löw immer die erste Option sein, wenn mehr Druck aus dem Mittelfeld gefordert ist.

Kroos steht mit gerade 22 Jahren bei 120 Bundesligaspielen und 26 Einsätzen im Europapokal, ist Stammspieler bei den Bayern. Mit seinem Passspiel und vielleicht auch dem einen oder anderen gefährlichen Standard kann er einem Spiel neue Impulse verleihen. Dazu ist er im Mittelfeld bis auf die Position rechts offensiv überall einsetzbar.

Mario Götze: Gemessen an den Anlagen der talentierteste deutsche Spieler der letzten zehn Jahre. Angeblich soll zuletzt Sebastian Deisler im vergleichbaren Alter ähnliche Fertigkeiten gehabt haben. Hat zwei Mal die Fritz-Walter-Medaille in Gold und letztes Jahr als erster deutscher Jungprofi überhaupt den Golden Boy, die Auszeichnung zum wertvollsten Nachwuchsspieler in Europa, gewonnen.

Götze ist ein Spieler für die besonderen Momente, kann eine Partie mit einer Idee, einem Dribbling, einem Abschluss aus der zweiten Reihe wenden. Sein Spielverständnis ermöglicht es ihm, sich schnell in ein Spiel reinzufühlen. Andere brauchen dafür eine längere Anlaufzeit.

Obwohl der Dortmunder noch kein großes Turnier gespielt hat, flößt er den Gegnern doch Respekt ein. Sein Name ist nicht erst seit der 40-Millionen-Euro-Offerte des FC Arsenal international ein Begriff. Die körperlichen Defizite nach seiner langen Verletzungspause hat er fast vollständig aufgearbeitet. Er kann die Wunderwaffe sein, die es in engen Spielen braucht.

Andre Schürrle: Das spielerische Portfolio des Leverkuseners ist recht schnell erzählt. Schürrle lebt von seiner Schnelligkeit und Dynamik. Und davon, von der linken Seite mit Zug zum Tor zu ziehen und den Abschluss zu suchen.

Der Gegner kennt die Bewegung und doch ist Schürrle so schwer zu verteidigen. Ein wenig erinnert das an Arjen Robbens Stil und Qualitäten. Dazu ist er der perfekte Konterspieler.

In seinen 14 Spielen seit Ende 2010 wurde er acht Mal eingewechselt. Die Quote von sieben Treffern ist deshalb nur umso beeindruckender für einen offensiven Mittelfeldspieler. Im Schnitt trifft er alle 95 Minuten. Auffällig: Die Mehrzahl seiner Tore (vier) hat er nach seiner Einwechslung erzielt...

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Sturm

Marco Reus: Der aufregendste deutsche Feldspieler der abgelaufenen Bundesligasaison. Mit 29 Scorerpunkten, aufgeteilt in 18 Tore und elf Assists, war er zusammen mit Mario Gomez (26/3) der beste deutsche Scorer. Obwohl ihn eine Zehenverletzung einige Wochen kostete.

Löw ist begeistert von Reus' Handlungsschnelligkeit und "seinen flinken Bewegungen, die gegen eine tiefstehende Defensive Löcher reißen können". Deshalb sieht er Reus wie bei seinem Noch-Verein Mönchengladbach auch eher in vorderster Front.

Lange Zeit war die Beziehung zwischen der Nationalmannschaft und Reus eine unglückliche. Drei Mal musste er sein Debüt verletzungsbedingt verschieben, als er dann letzten Sommer endlich bis zum Spieltag gegen Brasilien gesund blieb, verzichtete der Bundestrainer auf einen Einsatz Reus'.

Nur knapp ein Jahr später gilt der 23-Jährige aber als Säule in Löws Gedankenspielen. Wenngleich auch "nur" von der Bank aus.

Mario Gomez: Kein anderer deutscher Stürmer hatte in den letzten zehn Jahren ähnlich beeindruckende Quoten. Gomez hat in 215 Bundesligaspielen 127 Treffer erzielt, dazu kommen in 55 Europacupspielen 35 Tore. In der ewigen Torjägerliste der Bundesliga ist er im vergleichsweise zarten Alter von 26 Jahren bereits auf Platz 22 und damit an Konkurrent Miroslav Klose vorbeigezogen. In der abgelaufenen Saison kam er auf 41 Tore in 57 Pflichtspielen.

Der Rückstand auf Klose im DFB-Team ist geschrumpft, seit Gomez auch bei der Nationalmannschaft zuletzt wichtige Treffer erzielen konnte. Unter Umständen wird er mit Klose sogar eine Art Wechselspiel im Angriff vollziehen. Zumindest ließ Bundestrainer Löw diese Variante als denkbar offen.

Gomez' kleines Problem: Von der Bank war er bisher längst nicht so wertvoll. Jetzt wäre die Gelegenheit günstig, diesen Makel zu tilgen.

EM 2012: Der Spielplan