Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.
Vor 20 Jahren wäre die Geschichte der Fußball-Taktik sicher kein Thema für die Medien gewesen. Damals war Taktik in Deutschland fast ein Schimpfwort. Bis heute halten sich alte Klischees: Wenn ein Fußballspiel Fahrt aufnimmt, dann liegt das daran, dass die "taktischen Fesseln gesprengt" werden.Ein "von der Taktik geprägtes Spiel" ist langweilig. Und dass die Einstellung wichtiger ist als die Aufstellung, hört man immer wieder, wenn es um die taktische Grundordnung einer Mannschaft geht. Hm, wenn die Ordnung einer Mannschaft unwichtig ist, warum gibt man ihr dann eine? Na ja, weil es nämlich sehr wohl darauf ankommt, wer wo und wie spielt.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich aber auch in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt, dass Taktik wichtig ist. Und dass wir im taktischen Bereich Nachholbedarf hatten und haben. Und selten wurde auch von den Fans so intensiv über taktische Fragen diskutiert wie während der Fußball-EM 2008. Sollten Jogis Jungs im 4-4-2 spielen oder doch lieber im 4-2-3-1. Und was ist eigentlich der Unterschied?
SPOX geht dem Thema ausführlich auf den Grund. Denn die Geschichte der Fußball-Taktik ist schließlich auch die Geschichte des Sports an sich. Wozu das gut sein soll? Nun, jede taktische Innovation im Fußball baut logisch und konsequent auf dem auf, was vorher war. Um Zusammenhänge zu verstehen, muss man die historische Entwicklung kennen. Und die birgt durchaus überraschende Erkenntnisse.
Deshalb fangen wir ganz vorne an, als Fußball und Rugby noch ein und dasselbe waren. Wir werden sehen,...
...dass die Raumdeckung das erste Deckungssystem im Fußball war.
...dass das schnelle Spiel nach vorne aus den dreißiger Jahren stammt.
...dass die besten Trainer früher aus Ungarn kamen und die Brasilianer taktisch gar nicht so unbedarft waren.
...dass der Catenaccio von einem Argentinier geprägt wurde.
...dass Pressing schon in den 60ern "modern" war, und dass ein Schuhverkäufer die deutsche Fußballwelt ins Wanken brachte.
Doch genug der Vorrede: Los geht's mit dem 1. Teil der Geschichte der Fußball-Taktik.
Am Anfang war die Pyramide
Am Anfang war der Ball. Und sonst eigentlich nichts. Wobei, streng genommen war nicht einmal der Ball so, wie wir das heute gewohnt sind. Schließlich gab es keine festgeschriebenen Regeln. Deshalb waren weder die Größe des Spielfeldes, noch die Zahl der Spieler oder der Umfang und das Gewicht des Balls festgeschrieben. Am Anfang war Fußball eben noch nicht wirklich Fußball. Am Anfang war Fußball nämlich auch Rugby.
Und mit Anfang sind nicht irgendwelche mittelalterlichen Spiele gemeint, bei denen die Bewohner zweier Dörfer versuchten, ein ungefähr rundes Spielgerät durch die Stadttore des Gegners zu bugsieren.
Nein, der Anfang liegt im frühen 19. Jahrhundert, wo an Schulen und Universitäten ein Spiel betrieben wurde, das teils Fußball und teils Rugby war. Erst 1863 wurden nämlich Regeln für Fußball niedergeschrieben. Trotzdem gab es natürlich vorher schon Spiele. Und da jede Schule oder Uni ihre eigenen Regeln hatte, wurde meist einfach nach den Regeln des Heimteams gespielt.
Der entscheidende Anstoß zur Festschreibung einheitlicher Regeln war die Gründung des englischen Fußballverbands (Football Association, kurz: FA) im November 1863. Fünf Mal trafen sich die Herren, bevor sie sich einig waren, dass sie sich nicht einigen konnten. Und von da an gingen die einen ihres Weges und spielten Rugby. Und die anderen eben Fußball.
Streit ums Hacking: Hier geht's weiter
Worum war es bei diesem Richtungsstreit gegangen? Nicht etwa darum, ob der Ball mit der Hand gespielt werden dürfe. Vielmehr drehte sich der Streit um das so genannte "hacking". Kurz gesagt: Es ging darum, ob es erlaubt sein solle, den Gegner ordentlich ans Schienbein zu treten.Die Verfechter des "hacking" waren nämlich der Meinung, dass diese spezielle Form des physischen Spiels in jedem Fall erhalten werden müsse. Ein gewisser F.W. Campbell aus Blackheath argumentierte: "Wenn man das hacking abschafft, dann braucht man für dieses Spiel weder Mut noch Schneid. Dann könnte ich ihnen eine Horde Franzosen bringen, die uns mit einer Woche Training besiegen könnte."
Im Sport ging es für die Engländer eben um das Beweisen von Mut und Männlichkeit. Und um das Zufügen von Schmerz. Talent, Technik oder ähnlicher Schnickschnack war nur etwas für Ausländer und die schlimmsten davon kamen bekanntlich aus Frankreich. Klingt vielleicht bizarr, aber der Grund dafür, dass Fußball überhaupt an Schulen und Universitäten gespielt wurde, war ein angeblich "pädagogischer".
Die Schulleiter hofften, das Spiel werde die Schüler moralisch stärken und dafür sorgen, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Masturbation etwa. Die war nämlich, glaubte man damals, am langsamen Zerfall des britischen Empire schuld. Und sorge darüber hinaus aus noch für ein vorzeitiges Ableben des Sünders. Tja, und deshalb spielt also inzwischen die ganze Welt Fußball.
Passspiel ist unmännlich
Das waren die Voraussetzungen für die ersten Fußballspiele unter den neuen Regeln. Vieles war immer noch anders als heute. Erst 1871 wurde ein fester Torwart eingeführt, der als einziger den Ball in die Hand nehmen durfte. Zuerst übrigens noch in der kompletten eigenen Hälfte.
Sunderlands Torwart Leigh Richmond Roose trug den Ball allerdings regelmäßig bis zur Mittellinie. Und weil das immer so ist, wenn es einer übertreibt, wurde im Jahr 1912 die Regel geändert und der Aktionsradius des Torwarts auf den eigenen Strafraum beschränkt. Wichtiger war jedoch die erste Abseitsregel. Zu Beginn galt nämlich eine ähnliche Vorschrift wie im Rugby: Jeder Spieler, der näher am gegnerischen Tor war als der Ball, war Abseits. Anders gesagt: Pässe konnten nur nach hinten gespielt werden.
Und deshalb verzichtete man zu Beginn auch praktisch völlig auf Passspiel. Der ballführende Akteur versuchte, durch die gegnerische Verteidigung zu dribbeln. Na ja, wir sollten "Dribbeln" wohl durch "Wühlen" ersetzen, das kommt eher hin. Das war aber wohl genau das "männliche" Spiel, das die Briten sehen wollten: Auf sie mit Gebrüll! Die Aufgabe der Mitspieler war es, den ballführenden Mann zu unterstützen.
Und unterstützen bedeutete: Abpraller aufnehmen. Denn absichtlich angespielt wurde man nicht. Wäre ja auch unmännlich gewesen. Eher etwas für Franzosen. Eine wirkliche Organisation auf dem Platz war noch unbekannt. In den ersten Jahren griffen Teams noch wie beim Rugby mit neun Spielern auf einer Linie an und hatten dahinter zur Absicherung einen Spieler plus den Torwart platziert. Anders gesagt: Man spielte eine 1-0-9 Taktik.
Kopfball? Wie exotisch!
Auch als die Abseitsregel 1866 geändert wurde, blieb das Dribbling Waffe Nummer eins. Die neue Abseitsregel sah nämlich immer noch anders aus als unsere heutige. Müssen heute im Moment der Ballabgabe zwei Mann näher am gegnerischen Tor sein als der vorderste Angreifer, mussten es damals sogar drei Mann sein.
Nur die Schotten brieten sich eine Extrawurst. Pässe und auch der ein oder andere lange Schlag nach vorne waren dort, anders als in England, schon früh kein Tabu mehr. Ebenso exotisch fand man es in England, den Ball mit dem Kopf zu spielen. Als ein Team diese Variante des Spiels im Jahr 1875 erstmals in London präsentierte, fand die Menge das eher "erheiternd als bewundernswert".Zum ersten Mal prallten die unterschiedlichen Stile am 30. November 1872 im West of Scotland Cricket Club in Partick aufeinander. Schottland gegen England ging als erstes Länderspiel in die Geschichte des Fußballs ein. 4000 Menschen sahen zu.
Während die englischen Spieler mehr Masse in die Waagschale warfen, setzten die körperlich unterlegenen Schotten nicht auf eine Serie von Einzelaktionen, sondern auf mannschaftliche Geschlossenheit, Strategie und Passspiel. Und erreichten so gegen die klar favorisierten Engländer ein torloses Unentschieden. Vergleicht man die Formationen beider Teams, so setzten die Engländer auf ein 1-2-7, die Schotten mit ihrem 2-2-6 hatten schon eine Anspielstation mehr hinter der vordersten Front. (siehe Grafik)
Über die nächsten Jahre tobten die Diskussionen, welche Spielweise besser und Erfolg versprechender sei. In einem Kommentar der Zeitschrift "Umpire" behauptete ein Verfechter der britischen Individualtaktik: "Strategie kann niemals elf Paar flinke Beine ersetzen."
Und mal ehrlich: Führen wir diese Diskussion nicht auch noch heute? Was sonst hat Uli Hoeneß gemeint, als er vor dem Hoffenheim-Spiel seiner Bayern im Dezember behauptete: "Spiele werden nicht durch die Taktik entschieden, sondern durch die besseren Spieler."
Fußball kommt nach Deutschland: Hier geht's weiter
In jedem Fall setzten mit der neuen Abseitsregel immer mehr Mannschaften auf geordnetes Aufbauspiel und brauchten deshalb mehr Anspielstationen im Mittelfeld. Nein, diese Anspielstationen kreierten überhaupt erst so etwas wie ein Mittelfeld.Vorher hatte man schließlich mit geschlossener Front attackiert. Ausgehend von der 2-2-6-Formation, die Schottland im ersten Länderspiel verwendet hatte, wurde einer der beiden zentralen Stürmer nach hinten gezogen. Dieser zentrale Spieler hatte nun sowohl defensive als auch offensive Aufgaben. Man könnte ihn den ersten "Sechser" und "Zehner" in Personalunion nennen. Das war allerdings viel Arbeit für nur einen Mann.
Das System war das 2-3-5, oder auch "die Pyramide". Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eroberte die Pyramide England. 1884 spielte das englische Nationalteam erstmals in dieser Formation, wenig später gewann Preston North End mit dem 2-3-5 zwei Mal in Folge die neu geschaffene englische Fußballmeisterschaft - in der Premierensaison (alle Ergebnisse und die Abschlusstabelle 1888/89) sogar ungeschlagen. Vierzig Jahre lang blieb die Pyramide das bevorzugte System im Fußball. (siehe Grafik)Entwicklung in Deutschland
Etwa zu dieser Zeit begann der Siegeszug des Fußballs in Deutschland. Nicht früher, wie Vereinsnamen á la TSV 1860 München oder TSG Ulm 1846 suggerieren. Diese Vereine gab es zwar schon, doch das T im Vereinsnamen stand für Turnen und genau das war zu Beginn der bevorzugte Sport dieser Klubs. Heute weiß man, dass der Sport im Jahr 1874 in unser Land kam. Zu einer Zeit, als die Grenzen zwischen Rugby und Fußball noch verschwommen waren.
Der 1878 gegründete Klub FC Hannover, der lange im Ruf stand, der erste Fußballverein Deutschlands zu sein, spielte in Wahrheit Rugby. Erste Rugbyklubs gab es ab 1870 in Heidelberg, das bis heute die Hochburg des deutschen Rugby geblieben ist.
Das erste Fußballspiel auf deutschem Boden fand vermutlich vier Jahre später statt, an einem Gymnasium in Braunschweig, wo ein Lehrer namens August Herrmann seinen Schülern ein neuartiges Spiel aus England näher brachte. Zwei Jahre später kam es zu einem ersten Match zwischen den Braunschweigern und einer Schule aus Göttingen.
Die "englische Krankheit"
Der erste, heute noch existente Fußballklub aus Deutschland war Germania Berlin. Der Klub ist längst in der Bedeutungslosigkeit verschwunden und kickt aktuell in der Berliner Kreisliga A, Staffel 4. Leicht hatten sie es nicht, die ersten deutschen Fußballer, denn ihr Sport galt im preußisch geprägten Deutschland als minderwertig. Fußballgegner beschimpften die Balltreterei sogar als "englische Krankheit".
Doch wie ein Virus, das sich unaufhaltsam verbreitet, war auch der Fußball nicht aufzuhalten. Der vielleicht wichtigste Pionier des Sports in Deutschland war ein gewisser Walther Bensemann. Der wurde 1873 in Berlin geboren, lernte den Sport als Schüler in der Schweiz kennen, wo er schon mit 14 Jahren in Montreux seinen ersten Klub gründete. Ein Jahr später zog er nach Karlsruhe und schuf auch dort einen Fußballverein.
Fleißig war Bensemann ohne Frage und das Gründen schien sein bevorzugtes Hobby zu sein. Vor einem 13-jährigen Englandaufenthalt als Lehrer gründete er noch einen Vorläufer des Karlsruher SC. Nach seiner Rückkehr aus England hob er einen Vorläuferklub von Eintracht Frankfurt aus der Taufe. 1920 gründete er ein Fußballmagazin namens "Kicker", das bekanntlich bis heute existiert. Und selbstverständlich war Bensemann auch beteiligt, als am 28. Januar 1900 in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund aus der Taufe gehoben wurde.
Im zweiten Teil am Dienstag geht es zurück auf die Insel. Da lernen wir Herbert Chapman kennen, den Erfinder des WM-Systems, das aber rein gar nichts mit einer Weltmeisterschaft zu tun hatte, uns aber trotzdem half, den ersten WM-Titel nach Deutschland zu holen...