Formel 1 - Fragen und Antworten zur aktuellen Situation von Mercedes: Ist die Saison noch zu retten?

Christian Guinin
02. Juli 202110:31
Toto Wolff und Mercedes fahren 2021 Red Bull hinterher.imago images / Motorsport Images
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Nach dem Großen Preis der Steiermark ist Mercedes auf einem neuen Tiefpunkt angekommen. Rivale Red Bull scheint enteilt, es droht die erste titellose Saison seit sieben Jahren. Doch warum sind die Silberpfeile 2021 so schwach? Kann die Saison überhaupt noch gerettet werden? Und welche Auswirkungen hat all das auf Lewis Hamilton? SPOX klärt die wichtigsten Fragen zum Mercedes-Tiefflug.

1. Wie ist die aktuelle Situation aus Mercedes-Sicht?

Alles andere als rosig. Beim Großen Preis von Monaco vor etwas mehr als einem Monat ist Red Bull in der Fahrer- und Konstrukteurswertung an den Silberpfeilen vorbeigezogen, seitdem verliert man auf die Österreicher kontinuierlich an Boden. Die letzten vier GPs konnten entweder Max Verstappen oder Sergio Perez für sich entscheiden, insgesamt kommt Red Bull auf fünf GP-Siege in bislang acht Rennen. Auffällig ist dabei vor allem, dass man auf den unterschiedlichsten Strecken-Layouts immer starke Leistungen an den Tag legt.

Zum ersten Mal seit 2018 befindet sich Mercedes in der Rolle des Jägers, hinter Red Bull lag man seit Beginn der Hybrid-Ära 2014 überhaupt noch nicht zurück. Damit scheinen die Silberpfeile Probleme zu haben, was vor allem die Rennen in Monaco und Frankreich zeigen. War man am Anfang des Jahres in teils knappen Rennen dank guter Strategie und fehlerloser Umsetzung stets der lachende Sieger, schleichen sich bei Team und Fahrern mit zunehmendem Fortschreiten der Saison immer mehr Fehler ein.

Ein Lewis Hamilton, normalerweise eine der ruhigsten, fehlerfreisten und konstantesten Piloten im Feld, wirkt plötzlich nervös, unkontrolliert und patzig. Und auch beim Team scheint sich die angespannte Situation bemerkbar zu machen. Strategische Patzer prägen an beinahe jedem Wochenende das Bild, wobei Teamchef Toto Wolff an Kritik am eigenen Auftreten nicht spart. "Das ist einfach nicht akzeptabel", wütete er nach dem Großen Preis von Aserbaidschan. "Wir können unsere Erwartungen nicht erfüllen, niemand von uns im Team."

Red Bull hat mit Perez einen starken zweiten Piloten

Genau umgekehrt läuft es bei Red Bull. Hatte man dort zu Beginn der Saison noch einige Probleme mit strategischen Abläufen und Tracklimits (Verstappen beim Bahrain- Portugal-GP), haut der Rennstall von Milliardär Dietrich Mateschitz mittlerweile eine taktische Meisterleistung nach der anderen raus.

Zusätzlich scheint sich Nummer-2-Fahrer Perez nach anfänglichen Schwierigkeiten mit Setup und Balance mehr und mehr zurechtzufinden. Zwar kann der Mexikaner (noch) nicht auf dem Level eines Verstappens performen, für regelmäßige und wichtige Top-Platzierungen sowie WM-Punkte reichen seine Leistungen aber aus.

Vor allem Valtteri Bottas im zweiten Mercedes hält Perez bislang sehr gut in Schach. Das ist insofern von Bedeutung, als dass Red Bull in der Vergangenheit teilweise schon zur Saison-Halbzeit die Segel in der Konstrukteurswertung streichen musste, da man neben Verstappen keinen zweiten konkurrenzfähigen Piloten im Auto sitzen hatte. Der Mexikaner löst dieses Problem.

2. Warum ist Mercedes im Vergleich zu den Vorjahren so schwach?

Die große Regelrevolution, die für 2021 geplant war, ist wegen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen finanziellen Einbußen der Teams ins kommende Jahr verschoben worden. Die Frage, wieso Mercedes im Vergleich zu den letzten Saisons derart große Probleme hat, ist also durchaus berechtigt.

Die angekündigte neue Rennwagengeneration wurde nicht eingeführt, weitestgehend wurde das Reglement des Vorjahres sogar eingefroren, um Kosten zu sparen. Einige Änderungen sind dennoch bereits umgesetzt. Und diese schmecken dem Mercedes so gar nicht.

Da wären einmal die Beschränkungen am Unterboden. Dort wurde vom internationalen Automobilverband FIA eine Beschneidung vorgenommen, die den 21er-Boliden etwa zehn Prozent des Abtriebs ihrer Vorgängermodelle nehmen und sie damit langsamer machen sollen. Grund dafür ist Reifenhersteller Pirelli, der, wie auch sonst, aus Kostengründen keine neuen Reifen entwickeln wollte. Schnellere Autos hätten dies der Sicherheit halber aber verlangt.

Mercedes, das 2020 großen Wert auf einen gut ausbalancierten Anpressdruck unterhalb des Autos legte, trifft diese Änderung besonders hart. Der Bolide verliert dadurch an Balance, vor allem der Grip am Heck ist bei den Silberpfeilen problematisch. Auf der anderen Seite ist Rivale Red Bull seit jeher das Nonplusultra in Sachen Aerodynamik. Schon zu Vettel-Zeiten überzeugten die Österreicher weniger mit der höchsten PS-Anzahl im Feld, sondern vielmehr mit einem perfekt abgestimmten und ausbalancierten Wagen. Auch 2021 scheint Red Bull aerodynamisch Vorreiter zu sein.

In diesem Jahr fährt Mercedes über weite Strecken hinterher.getty

Starker Honda-Motor ein Grund für Red-Bull-Höhenflug

Hinzu kommt das Verbot des DAS-Systems, welches eine Justierung der Lenkung während des Fahrens ermöglichte und von Mercedes erstmals in der Vorbereitung des vergangenen Jahres getestet wurde. Damals konnte die FIA keine regelwidrigen Verstöße feststellen, zur 21er-Saison wurde jedoch ein neuer Paragraph eingeführt, welches solch ein spezielles System verhindern soll.

Mercedes geht damit vor allem die Power auf eine Runde verloren - zuvor immer eine große Stärke der Silberpfeile. Waren im vergangenen Jahr noch 15 der 17 Polesetter in Silber-Schwarz gekleidet, belegten 2021 in acht Qualifyings bereits fünf Nicht-Mercedes-Fahrer den ersten Platz am Samstag.

Das letzte große Problem des deutschen Werkteams ist die fehlende Power gegenüber Red Bull. War der Mercedes-Motor seit Beginn der Hybrid-Ära das Aushängeschild aller Antriebe, ist seit diesem Jahr Red Bull mindestens auf Augenhöhe.

Im letzten gemeinsamen Vertragsjahr hat Motorenpartner Honda für die Österreicher noch einmal alle mögliche Power herausgekitzelt, auch die Probleme mit der Verlässlichkeit scheinen der Vergangenheit anzugehören. Auf Highspeed-Kursen - eigentlich absolutes Mercedes-Hoheitsgebiet - glänzen plötzlich Max Verstappen und Sergio Perez mit Spitzenwerten in Sachen Topspeed.

3. Kann Mercedes diese Saison noch retten?

Das könnte sich in vielerlei Hinsicht als schwierig gestalten. Aus eigener Kraft scheint ein Triumph mit dem aktuellen Paket ausgeschlossen, für eine Wende im Titelkampf bräuchte es also Performance-Updates am W12. Auch hier gibt es jedoch Schwierigkeiten.

Einerseits wurde schon zur laufenden Saison ein abgeschwächtes Modell des Budgetlimits eingeführt, welches kostspielige Verbesserungen unmöglich macht, andererseits dürfen nach den neuen Regularien nicht mehr ganze Teile (z.B. der Motor), sondern nur mehr Teilkomponenten (z.B. die MGU K) ausgetauscht werden. Ein Entwicklungsrennen wie in vergangenen Jahren wird es dementsprechend nicht geben.

Hinzu kommt, dass clever überlegt werden muss, inwiefern man sein Pulver 2021 verschießen will, um für die Entwicklung des 22er-Boliden nicht ins Hintertreffen zu geraten. "Entwicklungstechnisch ist diese Saison gelaufen", gab sich Wolff skeptisch bezüglich einer Update-Offensive. "Es würde keinen Sinn machen, ein oder zwei Wochen komplett auf das aktuelle Auto zu verwenden, weil die Fortschritte nicht mal ansatzweise so groß wären wie die Steps, die man fürs nächste Jahr machen kann", erklärt der Mercedes-Teamchef. Ganz nach dem Ansatz: Früher an später denken.

Mercedes will trotz Entwicklungsstopp nicht aufgeben

Das bedeutet allerdings nicht, dass der W12 unverändert die 15 verbleibenden Rennen bestreiten wird. "Wir haben eine vernünftige Anzahl von Dingen, die unser Auto in den kommenden Rennen schneller machen werden", sagte Mercedes-Technikchef James Allison im Podcast F1 Nation. "Ein Großteil" der Belegschaft im Mercedes-Werk habe demnach schon mit den Arbeiten am kommenden Boliden begonnen, "das bedeutet aber nicht, dass da nicht noch Dinge in der Pipeline sind, die von vor dem angesprochenen Wechsel stammen", so Alisson. Der Mercedes W12 werde sowohl auf aerodynamischer Seite als auch beim Antrieb noch eine gewisse Weiterentwicklung erfahren. Es handle sich dabei um "Kleinigkeiten".

Auch Hamilton will das Jahr noch nicht vollends aufgeben. Gerüchten zufolge arbeitet der amtierende Weltmeister nach den jüngsten Rückschlägen intensiv im ungeliebten Simulator, um das Fehlerrisiko auf Fahrerseite möglichst gering zu halten. "Ich bin durchaus positiv gestimmt", sagte er in der Presserunde vor dem Großen Preis von Österreich (Sonntag, ab 15 Uhr im Liveticker). "Ich versuche herauszufinden, was wir an diesem Wochenende anders machen können, um ein paar Zehntel zu finden. Ich habe großes Vertrauen ins Team, dass uns dies gelingen wird."

Unterm Strich glaubt Wolff, dass die WM ein "Schwergewichtskampf über 23 Runden" sein wird, bei dem Mercedes noch einige Siege einfahren könne. Schließlich müsse auch Red Bull irgendwann zweigleisig planen, "weil es sonst gefährlich für das kommende Jahr wird".

4. Was bedeutet die aktuelle Situation für Lewis Hamilton?

Eigentlich lief für den Engländer alles nach Plan. "Dank" Corona wurden die weitreichenden Regeländerungen auf das kommende Jahr verschoben, mit den eingefrorenen 20er-Regularien sowie dem über die Jahre überlegenen Mercedes-Paket sollte der achte WM-Titel im letzten Jahr der Hybrid-Ära perfekt gemacht werden. Hamilton hätte den ewigen Rekord von Michael Schumacher (sieben WM-Titel) damit endgültig geknackt, wäre in Sachen Weltmeisterschafts-Trophäen die unangefochtene Nummer eins der Formel 1 und einer der weltweit erfolgreichsten Sportler der Geschichte.

Stattdessen ist dieser einzigartige Meilenstein nun in ernsthafter Gefahr. Die Änderungen für die kommende Saison sind derart weitreichend, dass es keine Garantie für einen ebenso starken Mercedes gibt. Die Teams würden gewissermaßen wieder bei Null anfangen. Finanzstarke (Werks-)Rennställe wie Red Bull, Ferrari, McLaren oder Alpine könnten eine ähnliche, über die Jahre andauernde Dominanz aufbauen. "Leichter wird's nicht werden, im nächsten Jahr gibt es vermutlich mit Mercedes, Red Bull, Ferrari, McLaren, Aston Martin und Alpine fünf oder sechs Teams, die siegfähig sind", weiß auch Wolff: "Dafür musst du vorbereitet sein."

Als abschreckendes Beispiel darf hier Red Bull gelten, die (abgesehen von dieser Saison) nach Sebastian Vettels WM-Triumph 2013 nie mehr in die Nähe eines WM-Titels kamen. Auf das richtige Pferd zu setzen, ist deshalb von besonderer Wichtigkeit - vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass Hamilton mit seinen 36 Jahren nicht mehr ewig Rennen fahren kann.

Wolff über Hamilton-Verlängerung: "Geht in heiße Phase"

Dennoch: Mercedes wird aufgrund der finanziellen und infrastrukturellen Möglichkeiten aller Voraussicht auch 2022 ein heißes Eisen im Feuer haben. Gespräche über eine Verlängerung des Arbeitspapiers sind deshalb schon im Gange. Dabei will man dieses Mal ausdrücklich nicht bis Februar warten, sondern möglichst zeitnah klare Verhältnisse schaffen.

Für 2021 war Hamilton ohne gültigen Vertrag ins Jahr gegangen und hatte dann lediglich für eine Saison verlängert, das hatte Spekulationen um ein Karriereende im Winter befeuert. Intern ist der unbedingte Wunsch Hamiltons, Schumacher zu überholen, aber kein Geheimnis. Erst nach dem Erreichen dieses Ziels käme ein Karriereende in Frage.

Nach den Aussagen von Wolff sei man einer Einigung bereits sehr nahe. "Wenn ich sagen würde, der Vertrag ist schon unterschrieben, wäre das nicht korrekt", sagte der 49-Jährige der Bild am Sonntag: "Aber über den Status von Sondierungsgesprächen sind wir hinaus. Jetzt geht es in die heiße Phase."

5. Was bedeutet die aktuelle Situation für Valtteri Bottas?

Wenn man die Situation von Lewis Hamilton bei Mercedes als "schwierig" skizziert, trifft bei Valtteri Bottas eigentlich nur noch "der Baum brennt lichterloh" als Beschreibung. In seinem fünften Jahr bei den Silberpfeilen ist die Kritik am Finnen so laut wie nie. Einige Quellen berichteten bereits über das sichere Aus am Saisonende, sogar über einen Rauswurf während des Jahres wurde spekuliert.

"Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass wir uns im nächsten Jahr anders aufstellen werden, dann spreche ich zuerst mit Valtteri. Diese Diskussion hat aber nicht stattgefunden", wies Wolff die Gerüchte zurück, zu einem klaren Bekenntnis wollte sich der Mercedes-Teamchef aber nicht hinreißen lassen.

Das liegt vor allem an den teils indiskutablen Leistungen Bottas'. Mit nur 74 Punkten nach acht Rennen liegt der Finne nur auf Rang fünf der WM-Wertung, Teamkollege Hamilton sammelte im gleichen Zeitraum bereits 138 Zähler, Verstappen als WM-Führender sogar 156. Zugute halten kann man Bottas lediglich, dass er (unverschuldet) ein Rennen weniger beenden konnte (Ausfall in Monaco), als Ausrede für den Rückstand auf Hamilton kann das aber nicht gelten.

Lewis Hamilton wurde in den Sozialen Medien rassistisch beleidigt.getty

Bottas-Nachfolge: Russell steht schon in den Startlöchern

Denn noch viel mehr als der amtierende Weltmeister leidet Bottas an der Performance-Schwäche des W12. In den vergangenen Saisons reichten seine, da teils schon eher unterdurchschnittlichen, Leistungen aufgrund des überlegenen Mercedes stets zum souveränen Sieg in der Konstrukteurswertung, mit dem schwächeren Paket des aktuellen Jahres ist der Finne aber auf verlorenem Posten.

Mit Hamilton und Verstappen kann er ohnehin nicht mithalten, jedoch reichen seine Auftritte zumeist auch nicht, um Red Bulls Nummer zwei Sergio Perez zu schlagen. Dem deutschen Werksteam gehen somit wichtige Punkte im Kampf gegen Red Bull flöten, auch als "Wingman" für Hamilton ist er bislang kaum eine Hilfe.

Schlimmer noch für Bottas: Mit George Russell von Antriebs-Kunde Williams stünde ein passender Mann bereits auf der Schwelle. Der junge Engländer stieg schon im letzten Jahr beim Großen Preis von Bahrain für den damals an Corona erkrankten Hamilton in den Mercedes, im direkten Duell mit Bottas machte er dabei den schnelleren Eindruck. Bei Williams liefert Russell zudem Woche für Woche außergewöhnliche Leistungen ab, schnuppert im unterlegenen Boliden regelmäßig an den Punkterennen und gilt für viele Experten als eines der größten Talente im Motorsport.

"Jeder weiß, wie dieser Sport läuft", sagte Bottas zuletzt, angesprochen auf seine Zukunft. "Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn du Resultate lieferst, ist das Team zufrieden, wenn die Resultate fehlen, dann kommen Gedanken an einen Fahrerwechsel auf." Er wolle deshalb liefern. Viele Möglichkeiten dazu wird es aber wohl nicht mehr geben.

Valtteri Bottas kämpft um sein Cockpit bei Mercedes.getty

Formel 1: Die WM-Wertung nach 8 von 23 Rennen

  • Fahrerwertung:
PlatzFahrerTeamPunkte
1Max VerstappenRed Bull156
2Lewis HamiltonMercedes138
3Sergio PerezRed Bull96
4Lando NorrisMcLaren86
5Valtteri BottasMercedes74
6Charles LeclercFerrari56
7Carlos SainzFerrari50
8Pierre GaslyAlphaTauri37
9Daniel RicciardoMcLaren34
10Sebastian VettelAston Martin30
  • Konstrukteurswertung:
PlatzTeamPunkte
1Red Bull252
2Mercedes212
3McLaren120
4Ferrari108
5AlphaTauri46
6Aston Martin44
7Alpine31
8Alfa Romeo2
9Williams0
10Haas0