NFL

Eine alte Erfolgsformel erobert die NFL

Nach jahrelanger Pass-Dominanz setzen mehr und mehr Teams wieder auf das Run Game
© getty

Verschiedene Trends prägen die laufende Saison: Die Defenses dominieren, viele Teams haben Probleme in der Offensive Line - und in der offensiven Balance ist eine Trendwende erkennbar. Das Run Game dominiert zunehmend, und das auf verschiedenen Wegen. Oder anders gesagt: Eine alte Erfolgsformel erobert die NFL zurück.

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"Exotic Smashmouth". Als der frisch gebackene Titans-Head-Coach Mike Mularkey im Frühjahr 2016 diese Worte in den Mund nahm, um seine scheinbar antiquierten, an 70er und 80er Jahre erinnernden Pläne für die eigene Offense zusammenzufassen, war ihm vor allem eines sicher: Der mediale Spott.

In der gerade beendeten 2015er Saison hatten zwölf Quarterbacks die 4.000-Passing-Yard-Marke geknackt (2016 waren es 13, der verletzte Derek Carr verpasste die 4.000 zudem nur um 63 Yards) und jeder weiß, dass die NFL eine Passing-Liga ist. Regeln bevorteilen den Pass, Quarterbacks und Receiver bestimmen das Bild.

Tennessees Geschäftsführer Jon Robinson fühlte sich im MMQB fast dazu genötigt, die Aussage seines Head Coachs zu rechtfertigen: "Teams spielen inzwischen sehr viel Sub-Defense, also mit mehr Defensive Backs. Um das zu kontern, können wir ein "größeres" Spiel aufziehen und, wenn man so will, einige der kleineren Gegenspieler aus dem Weg räumen. Gleichzeitig verkürzt man die Spiele so und schränkt die Optionen auch für die gegnerische Offense ein."

In der Theorie schön und gut, die Praxis aber schien noch einmal eine andere Geschichte zu sein. Und doch stehen wir eineinhalb Jahre später an genau dem Punkt: Das Run Game, in den vergangenen Jahren teilweise fast stiefmütterlich behandelt, ist auf dem Vormarsch und erobert sich seinen Platz als Erfolgsformel zurück. Nach jahrelanger Fokussierung auf das Passspiel könnten wir am Anfang einer erneuten Trendwende in der NFL stehen.

Die Chicago Bears als Extrem-Beispiel

Kein aktuelles Beispiel fasst das wohl besser zusammen als die Chicago Bears. Auf 16 Pässe und 54 Runs beim Sieg in Baltimore vor zwei Wochen folgten sieben (!) Pässe und 26 Runs beim Sieg gegen die Panthers am vergangenen Sonntag. Selbst Mularkey dürfte diese extreme Auslegung seiner Vision nicht im Kopf gehabt haben.

Selbstverständlich hat das Vorgehen in Chicago seine ganz eigene Ursache. Die Bears setzen inzwischen auf Rookie-Quarterback Mitchell Trubisky, wollen den aber so weit wie irgend möglich entlasten. Die intensive Fokussierung auf das Run Game ermöglicht das und macht es Rookie-Quarterbacks generell um vieles einfacher, den Schritt vom College in die NFL halbwegs unfallfrei zu meistern.

Im Schnitt erzielte eine Mannschaft in der Vorsaison 241,5 Passing-Yards pro Spiel. Eine Hürde, die aktuell nur zwölf Teams (und das bevor im Winter einige Teams noch Run-lastiger werden) schaffen - 2016 waren es noch derer 17. Zudem verzeichnen bislang 19 Teams unter 35 Pässe pro Spiel, lediglich elf waren es in der vergangenen Spielzeit. Und das merkt man auch bei der Balance.

In der 2015er Saison noch hatten die Panthers (526 Runs, 501 Pässe), die Bills (509/465), die Seahawks (500/489) und die Vikings (474/454) mehr Runs als Pässe auf dem Konto. Letztes Jahr traf das nur noch auf Dallas (499/483) und Buffalo (492/474) zu, in dieser Saison aber sehen wir hier einen Trend zurück nach oben. Jacksonville (238/199), Chicago (212/190), Buffalo (191/169) und Houston (188/187) verzeichnen aktuell mehr Runs als Pässe.

Jags, Bears und Co.: Aus der Not eine Tugend

Diese Auflistung zeigt auch eine gewisse Gemeinsamkeit, nämlich dass Teams aus der Not eine Tugend machen. Elite-Quarterbacks gibt es schließlich nicht an jeder Straßenecke, Teams ohne einen Top-Passgeber müssen eben andere Wege finden. Und aktuell prägen viele sehr gut besetzte Defenses sowie massive Defizite der Offensive Lines in Pass-Protection das Bild, die Kombination daraus sorgt aktuell für den Tiefstwert an Punkten pro Spiel (43,8) seit fünf Jahren.

"Es ist zu schwierig, einfach dauernd den Quarterback werfen zu lassen", brachte es Steelers-Guard David DeCastro auf den Punkt. "Man darf nicht eindimensional werden, es muss zumindest eine ernsthafte Bedrohung vom Run Game ausgehen. Ansonsten ist es wirklich schwer." Die Steelers selbst sind das vielleicht beste Beispiel dafür, wie das Run Game offensive Game Plans erobert: Bei den letzten drei Siegen gegen Cincinnati (43 Runs, 25 Pässe), Kansas City (37:25) und Baltimore (42:30) war der Run das klar dominierende Mittel der Wahl.

"Ich denke, es ist eine großartige Formel, um in der NFL Spiele zu gewinnen", weiß auch Pittsburghs Defensive Coordinator Keith Butler. "Wenn man laufen und den Ballbesitz kontrollieren kann, dann reduziert man die Turnover und all diese Dinge. Ich glaube, es ist eine Formel für Siege." Steelers-Quarterback Ben Roethlisberger steht bis heute bei einer Bilanz von 40 Siegen und zwölf Niederlagen, wenn er unter 200 Passing-Yards hat. Über 300 Passing-Yards dagegen? 28 Siege, 22 Pleiten.

Bell, Elliott, Fournette: Comeback des Bellcow-Backs

Der Ansatz der Steelers ist alles andere als ein Zufall. Trotz Roethlisberger, Antonio Brown und Co. ist das Zusammenspiel aus Le'Veon Bell und der Offensive Line die Stärke dieses Teams. Arizonas Offense wirkte für eine Woche wie ausgewechselt, als Adrian Peterson gegen Tampa Bay den Druck von Carson Palmer nahm und auch ein Team wie die New Orleans Saints zeigt deutlich mehr Ausgeglichenheit beim Play-Calling als teilweise gewohnt.

Dabei ist ein weiteres Muster erkennbar - die Rückkehr zum Bellcow-Back, der den Großteil der Carries erhält. In der Vorsaison hatten nur zwei Running Backs über 20 Runs pro Spiel: Bell (21,8) und Ezekiel Elliott (21,5). Aktuell ist dieser Wert mehr als verdoppelt, neben Bell (24,1) und Elliott (21,8) stehen auch Leonard Fournette (21,7), Jay Ajayi (20,8) und Todd Gurley (20,8) über dieser Marke. Jordan Howard (19,9) verpasst sie nur knapp.

Darüber hinaus wollen Teams bewusst zurück zu den Rushing-Wurzeln. "Wir werden definitiv wieder mehr laufen", hatte Seahawks-Coach Pete Carroll im Mai im Gespräch mit ESPN erklärt und führte damals weiter aus: "Wir hatten letzte Saison etwa 100 Runs weniger, als im Jahr davor. Das war im Prinzip die Story unserer Saison. Deshalb haben sich die Dinge so entwickelt. Die Defense musste mehr spielen, wir mussten mehr werfen und wir hatten mehr Pass-Protection-Snaps. Alles nur, weil wir im Run Game Probleme hatten."

Bisher sind die Seahawks noch lange nicht auf Kurs für 500 Runs, warum Carroll da aber hin zurück will ist klar: Ein gutes Run Game macht eine Offense schwer vorhersehbar, insbesondere, wenn man einen 3-Down-Back hat der auch im Passspiel eingesetzt werden kann. Es erleichtert die Pass-Protection und ermöglicht der Offense mehr kurze Second und Third Downs. Das ganze Play-Calling erhält einen ganz anderen Fluss, das sieht man in der NFL immer wieder.

Die Seahawks-Rushing-Offense über die Jahre:

JahrRun-VersucheLiga-Platzierung RunsYards pro Run
2017 (nach Week 7)166183,9
2016403203,9
201550034,5
201452525,3
201350924,3
201253614,8
2011444154,0

Mehr Kreativität im Run Game

Neben den numerischen Unterschieden und einem scheinbaren Prozess des philosophischen Umdenkens bei Offensive Coordinators überall in der NFL sieht man darüber hinaus noch andere Trends, die das Run Game nicht nur spannender, sondern auch unterhaltsamer und vielseitiger machen: Offenses lassen mehr Kreativität in ihre Run Designs fließen.

Das begann bereits im allerersten Spiel der Saison. Als die Kansas City Chiefs die Patriots zum Auftakt überraschten, gelang das auch auf der Basis eines spektakulär kreativen Run Games. Option-Plays, Quarterback-Runs, Option-Runs mit dem Tight End als Quarterback aufgestellt, End Arounds über die schnellen Receiver, die sich auch im Backfield postierten - und all das aus verschiedenen Formationen und Aufstellungen.

Die Panthers setzen wieder mehr geplante Quarterback-Runs ein, ob als Power-QB-Run oder aus Spread-Formationen heraus bei Third Down. Dazu haben sie kreative Option-Play-Calls, um Christian McCaffrey einzubinden. Die Cowboys und Titans haben intelligent eingesetzte Option- oder Zone-Read-Plays für ihre Quarterbacks, um Kapital daraus zu schlagen, dass Defenses irgendwann genug haben und endlich den Running Back stoppen wollen. Die Bills sind am stärksten, wenn das Run Game über LeSean McCoy und Tyrod Taylor läuft.

All das lässt sich dann noch mit Elementen wie Play Action, Screen- und Shovel-Pässen kombinieren, die auf den Formationen und den Play Designs aufbauen. Genau das sieht man etwa bei den Chiefs, diese Mischung ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass Kansas City aktuell noch die explosivste Offense der Liga hat. Auch Run-Pass-Options spielen hier in der laufenden Saison eine zunehmend große Rolle, unter anderem bei den Houston Texans und Deshaun Watson.

Roethlisberger erklärt die Entwicklung

Unter dem Strich ergibt sich so eine spannende Entwicklung. Teams sind nicht nur gewillter, wieder stärker auf den Run zu setzen - ein kreativerer Einsatz von Option- und Read-Spielzügen macht das auch zu einer gefährlicheren Waffe und schlicht spannender anzuschauen. Ein gewisses "exotisches" Element ist also tatsächlich gegeben, die Zeiten, in denen ein Running Back gefühlt 30 Mal pro Spiel stur gerade aus läuft, kommen sicher nicht mehr zurück.

Zwar steht der NFL ein möglicherweise historischer Quarterback-Markt bevor, die Weiterentwicklungen der Defense aber machen das Passspiel einerseits zunehmend schwieriger, während andererseits nie alle 32 Teams eine Premium-Quarterback-Lösung haben werden. Das macht etwa die Jaguars und im extremeren Fall die Bears in dieser Saison zu einem sehr spannenden Testfall, um zu sehen, wie weit eine Offense gehen kann, während sie versucht, ihren Quarterback zu verstecken.

Und so schließt sich der Kreis zu Titans-Boss Jon Robinson, wenn man Ben Roethlisberger dieser Tage zuhört: "Das sind die Entwicklungen des Spiels. Vor einigen Jahren wollten alle Teams unbedingt den Receiving-Tight-End und haben möglichst viele Receiver aufgestellt. Defenses mussten darauf reagieren und dementsprechend den Kader zusammenstellen. Jetzt haben Teams das Gefühl, dass man gegen weniger physische Team ein Laufspiel aufziehen kann. So wird sich das Spiel immer wieder vor und zurück entwickeln."

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