NFL

Blur Offense statt Fat Boy Fridays

Von Sven Kittelmann
Revolutioniert Eagles-Coach Chip Kelly die NFL-Taktik?
© getty

Chip Kelly hat sein ganzes Berufsleben im College-Football verbracht - erst in diesem Jahr, nach 23 Jahren, hat er den Quereinstieg in die NFL gewagt. Bei den Philadelphia Eagles schickt sich der 49-Jährige an, diese zumindest ein kleines bisschen zu revolutionieren.

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Kelly ist nicht der erste Coach, der nach Erfolgen im College - in seinem Fall sind dies in vier Jahren bei den Oregon Ducks drei PAC 10/12 Conference-Titel, eine Teilnahme am Endspiel um den nationalen Titel und eine 46:7-Bilanz - sein Glück in der NFL versucht.

Viele anerkannte Coaches mit Titeln und Vorschusslorbeeren, wie etwa Nick Saban bei den Miami Dolphins 2005/06 oder Steve Spurrier bei den Washington Redskins 2002/03, haben diesen Sprung versucht und sind mit ihren revolutionären Ideen an der harten Wirklichkeit der NFL gescheitert.

Schnell, schneller, am schnellsten?

Kellys Offensivkonzept, auch Blur Offense - eine extreme Rapid-Fire-Variante - genannt, ist mit dem Adjektiv "schnell" nur unzureichend erklärt. Dabei wirkt seine Taktik auf den ersten Blick wie Turbo-Football. Um es auf ein NFL-Spiel herunterzubrechen: Im letzten Jahr stellten die New England Patriots einen Ligarekord mit 74,4 Offensiv-Spielzügen pro Partie auf. Kellys Oregon Ducks brachten es in den letzten drei Jahren auf 81, 78 und 78 pro Spiel. Beim 30:27 gegen die Washington Redskins in der ersten Woche schafften die Eagles gleich 77 Spielzüge und verzückten Fans und Experten gleichermaßen.

Sinn und Zweck des schnellen Spiels ist offensichtlich, sollen doch vor allem der gegnerischen Defensive keine Verschnaufpause gegönnt und Auswechslungen vermieden werden. Das bedeutet entgegen der üblichen NFL-Gepflogenheiten aber nicht, dass das Team ausschließlich in eine No-Huddle-Offense wechselt.

Tatsächlich findet meist ein Huddle bei den Eagles statt, nur geht es unter anderem durch weniger Spieler-Rotation und schnelles Aufstellen an der Line of Scrimmage um einiges schneller als bei den meisten anderen Teams. Das liegt auch daran, dass sich die Coaches im Spiel zurückhalten und ihre Hauptarbeit beim Videostudium des Gegners und der Vorbereitung der eigenen Spieler auf den Gegner sehen.

Bei Kellys "Blur Offense" ist die Schnelligkeit jedoch nur ein "Werkzeug", wie Kelly bereits bei den Oregon Ducks feststellte. Es geht darum, wie übrigens auch bei den bereits bekannten No-Huddle-Offenses der NFL, die gegnerische Defensive mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten aus dem Takt zu bringen. Dabei kommt es vor allem darauf an, im richtigen Moment "Gas zu geben" und somit den Gegner auf dem falschen Fuß und insbesondere mit dem falschen Personal auf dem Feld zu erwischen.

Eine neue Philosophie in Philadelphia

Die schnellen Spielzüge sind demnach bei weitem nicht die einzigen Neuerungen in Philadelphia. Kelly, der in Oregon sehr lauflastig spielen ließ, etablierte zum Beispiel neue Blocktechniken für seine Offensive Line bei Laufspielzügen. Die Veränderungen sind für den Laien kaum erkennbar, machen für die Running Backs der Eagles jedoch eine Menge aus. Dabei ist laut Chris Brown von "grantland.com" das Ziel nicht das Blocken der Defensive an sich. Vielmehr will man die Verteidiger dazu zu verleiten, überzureagieren.

Eine weitere Maßnahme, die den Gegner zur Reaktion provozieren soll, ist eine fast fehlende Rotation bei verschiedenen Spielzügen. So bleibt dasselbe Personal im Spiel, stellt sich allerdings anders auf und stellt so die Defensive vor ein Problem: Stellt sie zum Beispiel einen Linebacker oder einen Defensive Back gegen einen Tight End, der sich als Wide Receiver positioniert? Wie bereits in Sachen Geschwindigkeit - es kommt bei Kellys System immer darauf an, dass man den Gegner auf dem falschen Fuß erwischt.

Nie mehr Fat Boy Fridays

Doch Taktiken sind nicht die einzigen Änderungen, die Kelly zu den Eagles mitbrachte.

Nach 13 Jahren Andy Reid mussten sich gerade die alteingesessenen Veteranen an neue Gepflogenheiten gewöhnen. So gibt es einen neuen Sports Science Coordinator, eine Art Mental- und Fitnesscoach. Jeder Spieler wird jeden Morgen mit einem speziell auf ihn abgestimmten Smoothie begrüßt. Danach wird ein GPS-System umgeschnallt, das die Bewegungen der Akteure registriert.

Dafür müssen alte, liebgewonnene Gewohnheiten in Philadelphia weichen: Einen Taco Tuesday mit TexMex-Essen gibt es in der Eagles-Kantine nicht mehr. Und der Fat Boy Friday, an dem die Spieler nach ihrem wöchentlichen Wiegen die Fast Food-Restaurants in der Stadt heimsuchten, ist ebenfalls Geschichte. "Das Ganze soll dazu dienen, die Einzelnen besser zu machen", zitierte der "Boston Globe" Eagles-Center Jason Kelce. "Und dadurch natürlich im Endeffekt auch das Team."

Auch ein Kelly muss noch lernen

Bei allen Neuerungen sind die Eagles aber noch weit davon entfernt, gegnerische Defenses nur atemlos hinter sich zu lassen. Auch weil Kelly klug genug ist, sich einzugestehen, dass in der NFL eine andere Spielweise als in der NCAA gefordert ist. Und auch andere Regeln hat, wie Kelly nach der 30:33-Niederlage gegen die Chargers am zweiten Spieltag erkennen musste.

Zum einen nahm er nach einer Verletzung Michael Vicks keine Auszeit, obwohl er diese nach NFL-Regeln hätte nehmen können, um Vick eine Verschnaufpause zu gönnen. Stattdessen brachte er schnell dessen Ersatz Nick Foles in sehr entscheidender Feldposition ins Spiel. Zudem versuchte er dabei kaum Zeit von der Uhr zu nehmen - eine Tatsache, die den Sieg San Diegos durch ein Field Goal begünstigte.

"Wir wollten den Touchdown, um mit vier Punkten vorne zu liegen. Dann hätten sie schließlich das Feld überbrücken müssen. Wenn man jetzt auf die Situation zurückblickt, hätten wir einfach mehr Zeit von der Uhr nehmen müssen", musste Kelly danach zugeben. Eine weitere Baustelle ist die Defense, die Chargers-Quarterback Philipp Rivers über 400 Yards Raumgewinn erlaubte und ihn wie einen Superstar aussehen ließ.

Dass er noch Nachhilfe in Sachen NFL braucht, hatte Kelly bereits mit der Einstellung seiner Assistenten eingestanden: Mit Offensive Coordinator Pat Shurmur, Quarterbacks Coach Bill Lazor und Wide Receivers Coach Bob Bicknell sind gleich drei gestandene NFL-Coaches für das von Kelly im College nicht unbedingt geliebte Passspiel mitverantwortlich.

Verhinderter Revolutionär? Gut geklaut ist halb gewonnen

Nicht nur die 1-1-Bilanz der Philadelphia Eagles beweist: Neuerungen etablieren sich in der NFL und bei den Teams sehr langsam. Chip Kelly wird mit der Zeit mehr und mehr mit dem Regelbuch der Liga vertraut. Und er wird in Zukunft die Abwägung zwischen schnellem Spiel und dem Zeitmanagement besser lernen.

Als wirklichen Revolutionär sah sich Kelly aber ohnehin noch nie: "Trends kommen und gehen. Wenn man nicht mit Amos Alonzo Stagg oder Knut Rockne (Football-Coaches Anfang des 20. Jahrhunderts, Anm. d. Red) in einem Raum war, als sie das Spiel erfunden haben, hat man von dem ein oder anderen gestohlen. Jeder Coach schaut bei anderen ab", erklärte er beim Fiesta Bowl und widersprach damit in gewissen Maße der späteren Aussage seines jetzigen Running Backs LeSean McCoy, Kelly sei ein "Genie".

Mitspieler Michael Vick, vor Jahren als Quarterback-Revolution gefeiert, dürfte aus eigener, leidvoller Erfahrung Kellys Aussage über Trends bestätigen können: Running QBs wie Vick haben sich in der NFL zwar etabliert, die Pocket Passer wie Tom Brady oder Peyton Manning aber nicht überflügelt.

Wie Chip Kellys Vermächtnis in der NFL aussehen wird, kann nach zwei Spielen nicht vorhergesagt werden. Er dürfte das Spiel und dessen Taktiken aber ein Stück weit mitprägen. In welcher Intensität dies geschieht hängt jedoch vorerst vom Erfolg der Philadelphia Eagles ab.