NBA

Zirkustruppe mit Ablaufdatum

Dwyane Wade und Gar Forman freuen sich auf ihre Zusammenarbeit
© getty

Die Chicago Bulls gehörten zu den umtriebigsten Teams in der Offseason, dennoch geht das neue Team von Paul Zipser in eine Saison voller Fragezeichen. Vieles hängt davon ab, wie das neue Star-Trio mit Coach Fred Hoiberg zurechtkommt.

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Die Transaktionen:

In Chicago hat sich dermaßen viel getan, dass man bisweilen schon fast den Überblick verlieren konnte. Angefangen mit dem Trade vom ehemaligen Lokalhelden Derrick Rose nach New York räumten die Bulls den Kader um und standen am Ende mit einer Truppe da, die nur noch rudimentär an die Tom-Thibodeau-Ära erinnert.

Neben Rose sind auch Joakim Noah und Pau Gasol weg, ebenso wie die etwas weniger namhaften E'Twaun Moore, Justin Holiday, Aaron Brooks und Mike Dunleavy, der nach Cleveland verschifft werden musste, um unterm Salary Cap Platz für den namhaftesten Neuzugang zu machen.

Jener hört auf den Namen Dwyane Wade und verdient in Chicago in den nächsten beiden Jahren rund 48 Millionen Dollar, wenn er seine Option für 2017/18 zieht. Außerdem neu sind Robin Lopez und Jerian Grant, die im Rose-Trade in die Windy City kamen, sowie Isaiah Canaan und Rajon Rondo. Der Point Guard verdient kommende Saison 14 Millionen Dollar, im zweiten Jahr besteht eine Team-Option.

Zudem wurde eifrig gedraftet. An 14. Stelle wurde Swingman Denzel Valentine geholt, der als einer der "reifsten" Rookies seines Jahrgangs gilt, und in der zweiten Runde war dann auch der deutsche Nationalspieler Paul Zipser an der Reihe. Nach einigem Hin und Her wurde der Swingman dann auch direkt für die kommende Saison in den Kader geholt und hat für vier Jahre (zwei davon garantiert) unterschrieben.

Paul Zipser im Exklusiv-Interview bei SPOX

Die Strategie:

Es musste ein frischer Wind her, das hatte die enttäuschende Vorsaison eindrucksvoll bewiesen. Dass die Ära Rose ein Ende finden würde, war folgerichtig - die meisten Fans, das Team und auch Rose selbst brauchten einen Neustart. Ähnlich verhielt es sich bei Noah.

Ein Rebuild war es trotzdem nicht, der in Chicago eingeleitet wurde. GM Gar Forman bezeichnete seinen Plan akkurat als "Retooling". Mit Hilfe der Neuzugänge wird man wohl keinen Schritt zurück machen, zumal ja auch Jimmy Butler als Quasi-Franchise Player noch da ist. Ob man aber einen Schritt nach vorne machen wird, steht noch auf einem anderen Blatt. Stand jetzt bestehen da doch recht viele Fragezeichen.

Die Bulls können sich dies aber vermutlich einigermaßen entspannt anschauen. Wade und Rondo haben beide nur kurzfristige Verträge, überhaupt stehen derzeit nur noch Butler und Lopez über 2017/18 hinaus fix unter Vertrag. In diesem Jahr wird einiges evaluiert - die Youngster, die Stars und nicht zuletzt Coach Fred Hoiberg.

A propos Youngster: Gerade bei Bobby Portis darf man zu Recht darauf hoffen, dass er sich in einem nun etwas weniger überfüllten Frontcourt mehr in den Fokus spielen kann. Auch für Tony Snell, Doug McDermott, Valentine und auch Zipser sollte durchaus Spielzeit abfallen - zumal Wade sicher nicht ewig viele Minuten abreißen wird.

"The Flash" ist ohnehin ein spezieller Fall. Natürlich ist er noch immer ein guter Spieler und ein noch größerer Name, wie er in die Vorstellungen von Hoiberg reinpasst und mit Rondo und Butler koexistiert, ist aber eine andere Frage. Trikots verkaufen wird der aus Chicago stammende 34-Jährige aber definitiv, und außerdem zeigte seine Verpflichtung, dass die Bulls "immer noch eine große Nummer auf dem Markt sind" - vielleicht war das ohnehin der wichtigste Aspekt.

Bulls-Experte K.C. Johnson: "Zipsers Skill-Set fehlt den Bulls"

Die Schwachstellen:

Die Bulls haben sich in der Breite etwas verjüngt, aber der Kader schreit noch immer nicht unbedingt nach Dynamik - und einen verlässlichen Distanzwurf besitzt fast niemand, zumindest nicht von den erwarteten Startern, wenn man Nikola Mirotic ausklammert.

Wade lebte schon immer vom Drive und aus der Mitteldistanz, bei Butler ist es etwas besser, aber ähnlich - und Rondo verweigert gelegentlich sogar Korbleger. Dieses Trio wird den Ball am meisten in den Händen halten. In den 80ern wäre diese Kombination furchteinflößend - aber wie passt sie zum angeblich so modern denkenden Hoiberg, der in seinem ersten Jahr auch noch nicht unbedingt die NBA-Kompetenz schlechthin ausstrahlte?

Dabei würde man sich bei dieser Kollektion an Spielern eigentlich einen starken Coach wünschen. Rondo ist als einer der schwierigsten Eigenbrötler der Liga verschrien, Wade stänkerte früher regelmäßig gegen Erik Spoelstra, bevor der sich etabliert hatte, und auch bei Butler und Hoiberg verlief im ersten Jahr längst nicht alles glatt. Das klingt zumindest ein bisschen instabil, zumal die drei Stars ja auch nicht nur mit Hoiberg, sondern auch untereinander auskommen müssen.

Noch ein Problem: Die wohl besten Shooter sind Mirotic und Doug McDermott - und die haben dafür eklatante Defensiv-Schwächen, insbesondere Torero Mirotic. Die Beißer-Identität hat Noah mitgenommen, der einzige verbliebene Edelverteidiger ist Butler. Es wartet ein riesiger Haufen Arbeit auf Hoiberg, wenn er aus dieser Truppe eine homogene, funktionierende Mannschaft formen will.

Der Hoffnungsträger:

Realistisch gesehen kann man sich vermutlich bei Portis den größten Sprung erhoffen. Der 21-Jährige konnte in seiner Rookie-Saison nur in Ansätzen seine Qualität zeigen (7 Punkte, 5,4 Rebounds, 42,7 Prozent FG), in der Summer League, die Chicago gewinnen konnte, wirkte er spielerisch allerdings um Jahre gereift.

Portis hat für einen Big Man einen sehr guten Touch, hat als Spieler eine Malocher-Natur und hat nun nicht mehr so viele alteingesessene Veteranen vor sich, zumal Taj Gibson noch immer als Trade-Kandidat gilt. Sowohl in großen als auch kleinen Lineups kann er für die Bulls richtig wertvoll werden, wenn sich seine Entwicklung entsprechend fortsetzt.

Das Fazit:

Es kommt ein bisschen darauf ein, aus welchem Blickwinkel man diese Offseason betrachtet. Wähnt man die Bulls als Top-Team, ist man definitiv schief gewickelt - dafür fehlt die Qualität, dafür passen die Teile auch schlichtweg zu wenig zusammen. Bevor Wade geholt wurde und Butler in jedem Gerücht auftauchte, wurden die Bulls ja sogar noch des Tankings verdächtigt.

Die Bulls haben sich langfristig nichts verbaut und ihre Flexibilität behalten, das ist ein Pluspunkt. Ebenso wie die Tatsache, dass mit McDermott, Portis, Zipser, Valentine, Snell, Grant und mit Abstrichen auch Mirotic und Butler noch viele Spieler im Kader Luft nach oben haben. Potenzial ist vorhanden.

Dennoch: Warum nicht einfach ein richtiger Rebuild? Warum Rondo holen, damit er die jüngeren Guards blockiert und für miese Stimmung sorgt, wenn ihm eine Idee von Hoiberg nicht gefällt? Warum Butler als Franchise Player und Hoiberg als Coach behalten, wenn die beiden sich nicht leiden können?

Es war nichts Halbes und nichts Ganzes, was die Bulls da veranstaltet haben - ein Retool eben. Einen gewissen Reiz werden sie haben, zumindest am Anfang, weil es spannend sein wird, wie diese Charaktere und Talente miteinander funktionieren.

Relativ wahrscheinlich hat man aber schon relativ früh genug davon, wie sich Wade, Butler und Rondo ohne Spacing auf den Füßen stehen und den ganzen Lake Michigan mit Backsteinen füllen. Immerhin hat diese Zusammenstellung ein Ablaufdatum - und vielleicht geht das Front Office den nächsten Sommer dann mal etwas strukturierter an. Es wurde nichts verloren, aber auch nicht viel gewonnen.

Note: 3-

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