Die Toronto Raptors stehen vor Spiel 4 der Eastern Conference Semifinals gegen die Philadelphia 76ers mächtig unter Druck - nicht nur die Serie, sondern die Zukunft der Franchise scheint auf dem Spiel zu stehen. Doch was lief zuletzt eigentlich schief? Eine Analyse der Probleme.
Spiel 4 der Serie findet am Sonntagabend um 21.30 Uhr statt - SPOX zeigt die Partie im kostenlosen Livestream!
Erinnert sich noch jemand an Game 1?
Kawhi Leonard war unstoppable, Pascal Siakam warf nicht daneben, Marc Gasol stellte Joel Embiid vor Probleme und die Sixers schienen völlig chancenlos. Nicht wenige wollten die Serie schon abschreiben, dann folgten Adjustments und ein Sixers-Sieg in Spiel 2. Und nach Spiel 3, einem Blowout-Sieg der Sixers, werden jetzt auf einmal die Raptors abgeschrieben. Schon wieder.
Die Raptors sind nicht mehr das gleiche Team wie in den letzten Jahren. Der beste Spieler der Serie (und vielleicht der Eastern Conference) spielt bei ihnen. Und Kawhi liefert: 37,7 Punkte und 7,3 Rebounds kamen von Kawhi in den Spielen 1 bis 3, bei 61 Prozent aus dem Feld und 38 von der Dreierlinie. Leonard ist alles, was Toronto sich von ihm erhoffen konnte, und mehr als das.
Zuletzt reichte es trotzdem nicht. Mehrere Veränderungen in der Art und Weise, wie Philly den Forward verteidigt, haben die Serie auf den Kopf gestellt. Gewissermaßen machen die Sixers das, was Toronto in den letzten Jahren gegen Cleveland und LeBron James nicht schaffte: Sie zwingen alle Raptors außer Kawhi dazu, sie zu schlagen. Und nutzen deren Tendenzen damit erfolgreich aus.
Ben Simmons wird zum primären Verteidiger von Kawhi Leonard
Veränderung eins von Brett Brown war es, nach Spiel 1 Ben Simmons zum permanenten primären Verteidiger von Leonard zu machen, nachdem dieser zum Auftakt Jimmy Butler und vor allem Tobias Harris wieder und wieder filetiert hatte. Auch Simmons stoppt Kawhi natürlich nicht, aber er lässt diesen viel härter arbeiten als seine beiden Kollegen.
Wenn Simmons sein primärer Verteidiger ist, haben die Raptors mit Leonard ein Offensiv-Rating von 102,4, gegen alle anderen primären Verteidiger kombiniert liegt dieser Wert bei 123,1.
Die Kawhi-Defense der Sixers nach Zahlen
Verteidiger | Ballbesitze | FG% | Dreier | Assists | Turnover |
Simmons | 124 | 52,4 | 1/12 | 3 | 8 |
Butler | 44 | 58,3 | 4/5 | 2 | 0 |
Harris | 24 | 87,5 | 2/2 | 1 | 0 |
Ennis | 21 | 100 | 0 | 0 | 1 |
Leonard kommt auch gegen Simmons an seine Punkte, der Unterschied in Sachen Effizienz ist trotzdem auch bei dieser kleinen Stichprobe signifikant. Simmons ist lang, athletisch und schnell, zudem hat Brown seine Usage in der Offense reduziert - so kann er umso mehr Fokus auf die Defense legen und Kawhi alles abverlangen.
Von daher ist Simmons hier klar die richtige Wahl und zeigt, wie er trotz seines fehlenden Jumpers auch in den Playoffs ein absoluter Impact Player sein kann. Man verbindet viele andere Attribute mit dem Australier, er hat unter anderem aber auch das Potenzial, ein künftiger DPOY zu werden. Trotzdem könnte (und kann) er das Duell gegen Leonard natürlich nicht alleine gewinnen.
Der Ball wird aus Kawhi Leonards Händen gezwungen
Das muss er aber auch nicht. Während die Sixers es in Spiel 1 viel mit Single Coverage versuchten (und auch in Spiel 3 im dritten Viertel, als Leonard extrem aufdrehte, zeitweise dazu zurückkehrten), schicken sie seither viel häufiger Double-Teams und blitzen Leonard auch mal im Pick'n'Roll. Hier zeigte sich im dritten Spiel, wie wertvoll ein gesunder Embiid für die Sixers auch defensiv ist: Bei drei von fünf Leonard-Ballverlusten hatte der Kameruner eine Hand im Spiel und blockte ihn zudem dreimal.
Embiid ist mobil genug, um Druck auf den Ballführenden auszuüben, wie beispielsweise in diesem Play:
Die Idee dahinter ist offensichtlich: Der Ball soll aus Leonards gigantischen Händen verschwinden. Am liebsten per Turnover, aber auch Pässe sind in Ordnung. Die Sixers fürchten (logischerweise) keinen Raptor im Angriff so sehr wie den Finals-MVP von 2014. Insofern ist jede Possession, die nicht mit einem Leonard-Wurf endet, ein kleiner Gewinn für Philly.
Leonard spielte in Game 1 lediglich 19 Pässe, dazu unterliefen ihm 2 Turnover. In Game 2, nach dem Adjustment, waren es 36 Pässe (1 Turnover), in Spiel 3 34 (5). Genau das wollen die Sixers sehen: Während Leonard mittlerweile ein kompletter Scorer ist, ist das Playmaking nach wie vor nicht seine Stärke. Es ist jedoch nicht so, dass der Fehler zumeist bei ihm lag - abgesehen von einigen wilden Pässen ins Seitenaus machte er auch in Spiel 3 zumeist die richtigen Reads.
Die Bereitschaft fehlt
Eigentlich ist es ja simpel: Wenn einer gedoppelt (oder getrippelt) wird, ist anderswo jemand frei. Wenn der Pass kommt, ergeben sich Überzahlsituationen und offene Würfe für die anderen. Das ist die einfache Theorie, und Kawhi erledigt wie gesagt seinen Part. Das Problem ist dann oft eher das, was passiert, nachdem der Ball seine Klaue verlassen hat.
Pascal Siakam kann man ausklammern, wenngleich Spiel 2 auch von Torontos zweitem Mann nicht berühmt war - die Adjustierung, Embiid gegen seinen Landsmann zu stellen, hat diesen gerade im Halbfeld ziemlich durcheinandergebracht. Siakam ist überwiegend dennoch gut darin, die Aufmerksamkeit auszunutzen, die Leonard auf sich zieht, und hat fünf seiner sechs Würfe getroffen, die er unmittelbar nach einem Leonard-Pass genommen hat. Umso bitterer ist es, dass der Forward in Spiel 4 womöglich gar nicht zur Verfügung stehen wird.
Das verhält sich vor allem bei den beiden anderen (Ex-)All-Stars in Torontos Kader anders. Mehr als die Hälfte von Leonards Pässen gehen entweder an Kyle Lowry oder Marc Gasol, und ihrer Reputation zufolge müsste danach eigentlich etwas Gutes passieren. Lowry und Gasol können beide passen und werfen und gelten als spielintelligent. Und doch schaden sie der Offense derzeit eher.
Lowry ist dabei natürlich der Posterboy für die Raptors-Misere, weil man ihn seit Jahren damit verbindet. 12 Punkte, 36 Prozent aus dem Feld und 14,3 Prozent von der Dreierlinie zeichnen tatsächlich ein ziemlich verheerendes Bild und Lowry selbst merkte nach Spiel 3 an, dass er Leonard mehr helfen müsse. Gasol wirkt bei genauem Hinschauen allerdings wie das größere Problem.
Genau wie Lowry ist Gasol jemand, der lieber abspielt als wirft. Beide werden dadurch einerseits zu angenehmen Mitspielern, gerade Gasol wandelte aber schon in Memphis immer wieder an der Grenze zur Wurfverweigerung. In diesen Playoffs hat der Spanier noch in keinem einzigen Spiel mehr als neun Würfe genommen, gegen die Sixers erzielt er bisher 6,7 Punkte bei 30 Prozent aus dem Feld.
Schlimmer als diese Zahlen ist aber die Zögerlichkeit. Philly kann gegen Leonard aushelfen, weil Gasol selbst offenste Würfe nur widerwillig nimmt, bei Lowry ist es ähnlich. Während sie nach dem nächsten Pass suchen, statt konsequent zum Wurf hochzusteigen oder zu penetrieren, kann sich die Sixers-Defense wieder sortieren. Es gibt kaum Fluss in der Raptors-Offense, und genau das spielt den Sixers in die Karten.
Toronto Raptors: Noch immer nicht eingespielt?
Womöglich profitieren die Sixers hier auch davon, dass Leonard, Lowry und Gasol in der Regular Season nicht oft zusammen auf dem Court standen (Shoutout an Load Management) und keine großartige Chemie etablieren konnten. Während Leonard neben Kevin Durant bisher der beste Playoff-Spieler ist, wirkt er dabei nicht immer wie ein Teil des Teams, sondern bisweilen wie eine losgelöste, isolierte Entität.
Wie dem auch sei: Toronto kann diese Serie nicht gewinnen, wenn zwei der vier besten Spieler keine Gefahr ausstrahlen. Niemand verlangt von Gasol oder Lowry, dass sie 25 Würfe pro Spiel nehmen, aber sie müssen zumindest dafür sorgen, dass die Sixers sie als Scorer respektieren. Sonst können diese sogar noch mehr Druck auf Leonard ausüben.
Als Variante dürfte Gasol auch gelegentlich in den Post gehen, gerade in den Minuten, die Kawhi auf der Bank verbringt. Ohne Leonard geht bisher nämlich überhaupt nichts: Die Raptors hatten in seinen 27 Bank-Minuten ein Net-Rating von -53, was so fürchterlich ist, dass man nur Ron Burgundy zitieren kann: "Ich bin gar nicht wütend, das ist unglaublich."
So spielen die Raptors mit und ohne Kawhi Leonard
Minuten | Offensiv-Rating | Defensiv-Rating | Net-Rating | |
Leonard ON Court | 117 | 110,7 | 103,4 | +7,2 |
Leonard OFF Court | 27 | 54,1 | 106,6 | -52,5 |
Insbesondere die Offense ist ohne Leonard katastrophal. Die Raptors haben mit dem Gasol-Trade und der Verletzung von O.G. Anunoby an Tiefe verloren, dazu spielen Serge Ibaka, Fred VanVleet und Norman Powell zur absoluten Unzeit alle katastrophal. Dass eine ausgedünnte Bank wie die der Sixers in diesem Fall richtiggehend dominiert, darf nicht passieren. Die Tiefe galt mal als absolute Waffe der Raptors.
Auch hier ist vor allem Lowry gefragt, der in der Regular Season in den Minuten ohne Kawhi auf dem Court ein Net-Rating von +13,1 aufwies. Vielleicht muss Head Coach Nick Nurse hier auch sein Staggering überdenken: In den Playoffs stand Lowry bisher 31,3 Minuten mit Leonard auf dem Court und nur 5,5 Minuten ohne ihn. Einer von beiden sollte aber wohl immer auf dem Court stehen, andere primäre Ballhandler hat Toronto eigentlich nämlich nicht (Jeremy Lin vielleicht?!).
Welchen Konter hat Nick Nurse parat?
Nurse hat bisher generell noch nicht viel Flexibilität bewiesen. Seine Starting Five bleibt zu Beginn des Spiels länger drauf als die der Sixers und es gibt weniger Staggering, noch immer gibt es in jedem Spiel Minuten, in denen Embiid auf dem Court steht und Gasol draußen sitzt. Der Spanier hat zwar Probleme gegen das Pick'n'Roll, im direkten Duell trifft Phillys bester Spieler gegen ihn trotzdem nur 33 Prozent aus dem Feld. Genau für dieses Matchup hat Toronto für Gasol getradet - warum spiegelt man also nicht einfach seine Minuten mit denen von Embiid?
Nach der Serie gegen Boston stand Brown letztes Jahr selbst viel in der Kritik, aktuell ist er aber der kreativere, weil auch mutigere Coach im Vergleich mit Nurse. Die Sixers erwecken den Anschein, dass sie genau zum richtigen Zeitpunkt ihre Identität und ihre Rollen finden. Die Raptors wirken mit Ausnahme Leonards verunsichert und müssen nun Lösungen finden.
Sie sind nicht das gleiche Team wie früher, wurden in den Spielen 2 und 3 aber von alten Problemen eingeholt. Und diesmal kommt noch das Problem hinzu, dass die Free Agency und damit der Abgang des besten Spielers bei einem erneuten Scheitern droht. In Spiel 4 steht nicht nur (wahrscheinlich) die Serie, sondern auch die Zukunft des Teams auf dem Spiel.
Wir alle erinnern uns noch, wie die Raptors in den letzten Jahren in solchen Situationen reagiert haben - sie sind in sich zusammengefallen. Und dieses Mal?
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