Keine Angst vor den drei Löwen

Von Oliver Wittenburg
Die deutschen Kicker bereiten sich auf das WM-Achtelfinale gegen die Three Lions vor
© Getty
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N wie Neuville: Nicht nur Jens Lehmann, auch Oliver Neuville hat aufgehört. Anfang Dezember nach fast zwei Jahrzehnten Profifußball verschwand er einfach, weil er in Bielefeld unter dem neuen Trainer Ewald Lienen keine Perspektive mehr sah. Neuville war immer ein Guter, aber nie ein ganz Großer gewesen, was zum einen an seiner an Selbstverleugnung grenzenden Schüchternheit und Wortkargheit lag, zum anderen daran, dass er nie was gewann, wenn man von der Schweizer Meisterschaft mit Servette Genf 1994 absieht. Ansonsten sammelte er viele Sympathien und massig zweite Plätze. Eine Biographie ist nicht in Sicht. Wie könnte eine Neuville-Bio überhaupt heißen? "Mit appem Ohr zum Klassenerhalt" oder "Wie ich Odonkors Flanke gegen Polen reinmachte" oder "Ich bin dann mal weg".

Wir werden sehen... Apropos: 2010 gab's noch mehr Abschiede - aus den unterschiedlichsten Gründen: Giovanni van Bronckhorst, Roy Makaay, Carsten Jancker, Christoph Preuß (Aus mit 28 Jahren nach unzähligen Knieverletzungen), Miguel Garcia (UD Salamanca, darf nicht mehr nach einem Herzstillstand während eines Spiels), Ruben de la Red (endgültiges Aus mit 25 wegen anhaltender Herzprobleme), Christian Panucci (seiner Freundin, dem Modell Rosaria Cannavo, zuliebe).

O wie Oh-ranje: Boulahrouz, Braafheid, Heitinga, Mathijsen, Ooijer, van Bommel, de Jong. Mit ganz feiner Klinge und Heerscharen von Edeltechnikern gingen die Niederländer in Südafrika zu Werke und verbuchten dank ihres Offensivgeists und übersprudelnder Kreativität den größten internationalen Erfolg seit dem EM-Titel 1988. Und wäre der Fußball nicht so wahnsinnig ungerecht und hätte Bondscoach Bert van Marwijk nicht Rumpelfüßler wie Sneijder und Robben mit durchschleppen müssen, dann wären sie alle jetzt Weltmeister.

P wie Primadonna: Cristiano Ronaldo hat 2010 über 40 Tore für Real Madrid geschossen, Lionel Messi gar über 50 für Barcelona, doch bei der WM rangierten beide nur unter "ferner kickten...". Wären da nicht der eine oder andere Katalane (z.B. X... und I......), Wesley Sneijder und ein gewisser Arjen Robben (zumindest bis Juli) gewesen, dann wäre es das Jahr von Bastian Schweinsteiger gewesen: Super Rückrunde, super WM und von kleinen stressbedingten Verschnaufpausen abgesehen, super zweites Halbjahr. Hier noch mal nachzulesen...

Q wie QAT: Vom Wellness-Paradies für Frührentner zum Big Player auf der Fußball-Weltkarte: Katar! Jubel herrscht im Stiefmutterland des Fußballs seit der Bekanntgabe der WM-Ausrichter für 2018 und 2022. Nach 1966 und 1996 findet also endlich wieder ein großes Turnier in dem Land statt, das den Fußball geprägt hat wie kein anderes.

R wie Rosenkrieg: Streng genommen beginnt die Affäre Amerell/Kempter schon Ende 2009, als Bundesliga-Schiri Michael Kempter DFB-Schiedsrichter-Boss Volker Roth anzeigt, von Obmann Manfred Amerell sexuell belästigt worden zu sein. Das ist der Ausgangspunkt. Was folgt ist eine Schlammschlacht epischen Ausmaßes, in der vor allem der DFB und namentlich Präsident Zwanziger keine gute Figur machen. Viel zu früh legt man sich auf Amerell als Täter und Kempter als Opfer fest, in dem Bestreben das schlüpfrige Sujet von der Agenda zu tilgen und schießt sich das Eigentor des Jahres.

S wie Safari: "Die Spieler von Englands WM-Gegner Deutschland sahen aus wie eine Bande von Angsthasen, als sie gestern drei Löwen in Südafrika begegneten, vermutlich weil sie an die Tracht Prügel denken mussten, die sie morgen von Fabio Capellos torhungrigen Männern beziehen werden." So schrieb die "Sun" am Tag vor dem WM-Achtelfinale zwischen England und Deutschland. Aufhänger der Geschichte war die Safari, die das DFB-Team unternommen hatte. Bei der war ein wunderbarer Schnappschuss entstanden. Im Hintergrund die deutschen Spieler im Gitterkäfig, im Vordergrund drei Löwendamen. Es empfiehlt sich, einen gewissen Respekt vor Löwen zu zeigen, schließlich weiß man, dass sie gnadenlose Jäger und trotz ihrer Muskelmasse unglaublich schnell sind. Auch die englischen Kicker waren unglaublich schnell bei der WM: schnell müde, schnell entnervt und unheimlich schnell wieder im Flieger nach Hause.

T wie Tore: Natürlich gab's auch 2010 jede Menge Tore.  Logisch, allein der FC Barcelona schoss ja schon 113 Stück - nur in der Liga wohlgemerkt. Zwei der hübschesten Treffer des Jahres - beide von der FIFA auch vorgeschlagen für den Puszkas-Preis, also das Tor des Jahres - gibt's hier: Matthew Burrows und Linus Hallenius.

U wie Unhold: Brutalo-Treter, Skandal-Treter, Serien-Treter, Ghana-Treter und Autospiegel-Wegtreter. Ein Mann ganz allein brachte die Gehirne deutscher Edelfedern im Frühjahr zum Weißglühen: Kevin-Prince Boateng. Von vielen Seiten wurde ihm unterstellt, das Foul im FA-Cup-Finale, das Michael Ballack die WM-Teilnahme kostete, mit Absicht begangen zu haben.

Kann man ruhig, denn schließlich sah es verdammt danach aus, dass er Ballack einen mitgeben wollte, als Revanche dafür, dass ihm dieser kurz zuvor ungestraft eine Ohrfeige verpasst hatte. Was natürlich weit übers Ziel hinausschoss, war die implizite Unterstellung, Boateng habe Ballack absichtlich schwer verletzt und noch viel dreister waren die Versuche die Szene von Wembley mit der landläufigen Meinung über Boatengs Charakter zu vermengen. Matthias Sammer etwa sagte stellvertretend für anderen Schwachsinn: "Bei Kevin zeigt sich aus meiner Wahrnehmung, dass das rein sportliche Potenzial am Ende allein nicht ausreicht, um Karriere zu machen. Man muss außerdem in der Lage sein, sich einzuordnen."

Boateng hätte Sammer und vielen anderen entgegnen können: "Man muss auch mal in der Lage zu sein, die Schnauze zu halten." Aber zu soviel Polemik ließ er sich gar nicht erst hinreißen, sondern sagt stattdessen: "Er kennt mich nicht persönlich. Von daher kann er das gar nicht sagen. Ich würde ja auch nie erzählen, dass Matthias Sammer nicht einschlafen kann. Weil ich es nicht weiß." Aber genug damit. Noch was Sportliches zu Boateng: Überragender Ball-Treter bei der WM, anschließend Wechsel zu Milan, dort betört er die Herzen aller Milanisti, wie der "Corriere della Sera" schrieb.

V wie Versager: Ach Gottchen, was waren die Brust breit und das Selbstvertrauen groß bei Argentiniern und Brasilianern. Es schien die WM der Südamerikaner in Südafrika zu werden, mit den beiden Giganten an der Spitze. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall und so wurden die einen von den Erfindern des hässlichen Spiels (den Deutschen) niedergerungen und die anderen von den Protagonisten des modernen Fußballs (den Niederländern) schon im Viertelfinale in Grund und Boden gezaubert. So oder so ähnlich war's. Italien, Frankreich, England, Portugal, die Elfenbeinküste, Griechenland und Serbien dürfen sich ebenfalls als unter V wie Versager abgeheftet betrachten.

W wie Warschauer Pakt: Nach monatelangem Gezerre um die Vertragsverlängerung von Jogi Löw als Bundestrainer kommt es Anfang Februar am Rande der EM-Quali-Auslosung in der polnischen Hauptstadt zur Versöhnung zwischen Löw und DFB-Chef Zwanziger. Kurz zuvor hatte man sich darauf verständigt, die endgültige Klärung des Themas auf die Zeit nach der WM zu verschieben. Am Ende kam das dabei heraus, was alle von Anfang an wollten: Löw macht mindestens weiter bis zur EM 2012.

X wie X-Mess: Zum Fest ganz tief in der Scheiße sitzen in der heimischen Bundesliga so einige. Während die im Abstiegskampf mit allen Wassern gewaschenen Gladbacher und Kölner wenigstens dem Rollenschema entsprechend bühnenreif leiden, guckt der eine oder Möchtegern-Topklub blöd aus der Wäsche und offenbart Defizite im Krisenmanagement. In Hamburg fragt sich gerade jeder, wie es denn jetzt weitergehen soll. Lösungsansätze: Fehlanzeige. In Stuttgart muss man erst einmal den zweiten Trainerwechsel der Vorrunde (Gross - Keller - Labbadia) und eine Elferpackung von den Bayern verdauen. Und in Wolfsburg grübelt man sicherlich, ob es möglich ist, mit noch mehr Geld eine noch substanzlosere, uninspiriertere und charakterschwächere Mannschaft zusammenzuschustern oder ob man den Rekord in dieser Sparte getrost auf dem eigenen Konto verbuchen kann.

Y wie Youngster: Eine Fußball-Jahres-Chronik zu 2010 könnte mit der Headline "Das Jahr der Jugend" aufmachen. In etlichen Klubs der Bundesliga und nicht zuletzt in der Nationalmannschaft schlüpften vermehrt junge Kerls in Schlüsselrollen und erreichten schnell ein bemerkenswert hohes Niveau. Real Madrid holte Mesut Özil und Sami Khedira garantiert nicht aus modischen Gründen. Die höchste Dichte an hochkarätigen Jungstars hat freilich Borussia Dortmund und die hatten den Löwenanteil daran, dass der BVB 2010 die beste deutsche Bundesligamannschaft war - mit den meisten Punkten (70), den meisten Toren (70) und den wenigsten Gegentoren (35). Noch rasch die deutsche U 23 des Jahres: Oliver Baumann - Andreas Beck, Mats Hummels, Holger Badstuber, Marcel Schmelzer - Sven Bender, Toni Kroos - Thomas Müller, Mesut Özil, Lewis Holtby - Andre Schürrle. Nicht zu vergessen: Thomas Kessler, Mario Götze, Ilkay Gündogan, Manuel Schmiedebach, Konstantin Rausch, u.a.

Z wie Zwangsjacke: Im Fernsehen wird ja viel Blödsinn geredet. Zum Beispiel beim WM-Halbfinale Deutschland gegen Spanien. Da sagte doch der prominente TV-Kommentator eines Münchner Erfolgssenders reichlich genervt, die Spanier würden spielen, wie Oma strickt. Und das war weiß Gott nicht nett gemeint. Im Endspiel hatte es besagter Kommentator dann wieder vom Stricken: "Jetzt reihen die Spanier wieder Masche an Masche und am Ende kommt eine Zwangsjacke für den Gegner dabei heraus." Das war dann durchaus nett gemeint und ein geeignetes Schlusswort.

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