"Wie in einem billigen Horrorfilm"

Von Interview: Bastian Strobl
Jens Voigt hat bei der Tour de France Höhen und Tiefen erlebt
© getty

Die Tour de France feiert ihre 100. Ausgabe (Sa., 15 Uhr im LIVE-TICKER). Einer darf dabei natürlich nicht fehlen: Jens Voigt nimmt zum 16. Mal an der Frankreich-Rundfahrt teil. Der 41-jährige Oldie spricht im Interview über seinen schmerzhaftesten Moment, Großvater-Witze und die Doping-Geständnisse von Jan Ullrich und Lance Armstrong.

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SPOX: Herr Voigt, am Samstag gehen Sie zum 16. Mal bei der Tour de France an den Start. Spüren Sie noch Vorfreude?

Jens Voigt: Natürlich, die Tour ist immer noch ein großartiges Ereignis und ein Abenteuer für mich. Ich bin stolz, wieder ausgewählt worden zu sein. Auch wenn ich mittlerweile weiß, was mich erwartet. Diese drei Wochen ähneln einer Achterbahnfahrt. Die steilen Anstiege am Berg, die rasanten Abfahrten, das stundenlange Leiden - das gehört alles dazu. Aber mich kann nichts mehr so schnell einschüchtern.

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SPOX: Nimmt man sich mit mittlerweile 41 Jahren nur noch vor, heil und einigermaßen gesund in Paris anzukommen?

Voigt: Nein, das könnte ich mit meinem Selbstanspruch nicht vereinbaren. Ich muss aber erst mal abwarten, wie die genaue taktische Ausrichtung des Teams sein wird. Legen wir den Fokus auf Andy Schleck und die Gesamtwertung? Oder schielen wir auf Etappensiege? Auf mich kommt auf jeden Fall wieder viel Arbeit zu, das Team setzt auf meine Unzerstörbarkeit. Aber dafür wurde ich mitgenommen, ich bin nicht mehr der Etappenjäger von früher.

SPOX: Die Zeiten, in denen Sie in Ausreißergruppen für Furore sorgen, sind also vorbei?

Voigt: Nicht so vorschnell, ich bin immer noch Jens Voigt. Wenn am Morgen die Frage gestellt wird, wer Lust auf eine Gruppe hat, dann bin ich der Erste, der den Arm hebt. Aber der Fokus liegt sicherlich nicht mehr auf mir.

SPOX: Sie haben Andy Schleck und die Gesamtwertung kurz erwähnt. Christopher Froome schwebt momentan über allen anderen. Wen haben Sie auf dem Zettel?

Voigt: Froome scheint wirklich fast unschlagbar. Er ist der Maßstab, an dem sich die anderen Favoriten orientieren müssen. Danach kommen die üblichen Verdächtigen wie Contador, Evans und Van Garderen. Was Andy angeht, muss man abwarten. Er kommt nach seinem Beckenbruch wieder besser in Form, seine Leistungen bei der Tour de Suisse waren ordentlich. Allerdings dürfte ein Podestplatz schwierig werden. Man sollte ihn aber nie unterschätzen. Wenn er sich in den Bergen gut fühlt, kann es ganz schnell gehen.

SPOX: Ganz egal ob Favorit oder Wasserträger - für alle steht in diesem Jahr eine Premiere an. Anlässlich der 100. Tour de France findet die letzte Etappe auf den Champs-Elysees unter Flutlicht statt.

Voigt: Das wird ein großes Happening und ein ganz besonderer Abschluss, solange wir nicht unsere eigene Fahrradlampe mitbringen müssen (schmunzelt). Aber das ist nur eines der Highlights, wenn ich zum Beispiel an den zweifachen Anstieg nach L'Alpe d'Huez denke. Die Organisatoren werden noch einiges in der Wundertüte haben, was sie noch gar nicht verkündet haben. Ich kann mich noch an das Giro-Jubiläum erinnern, als eine Fliegerstaffel die italienischen Farben in den Himmel gemalt hat.

SPOX: Wäre das nicht das perfekte Ende für Ihre letzte Tour de France?

Voigt: Wahrscheinlich ist es wirklich die letzte Tour für mich, im nächsten Jahr werde ich wohl nicht mehr stark genug sein. Es gibt viele jüngere und talentiertere Fahrer. Es hängt auch davon ab, wie sich das Team entwickelt. Rein hypothetisch gesprochen: Wenn wir im nächsten Jahr einen Top-Sprinter wie Mark Cavendish mit an Bord haben, war's das für mich sicherlich. Als Anfahrer bin ich nicht zu gebrauchen. So ist nun mal der Lauf der Zeit.

SPOX: In diesem Jahr werden Sie allerdings noch mal der älteste Fahrer im Peloton sein. Zeigen die Konkurrenten denn Respekt vor dem Alter?

Voigt: Das ist tatsächlich der Fall. Ich bemerke es immer wieder, wenn ich in eine Lücke reinfahren will. Jüngere Fahrer bekommen schon mal einen Ellbogen oder einen dummen Spruch ab, mich lassen sie dagegen passieren. Dafür darf ich mir aber auch den einen oder anderen Witz über mein Alter anhören.

Tour-Legende Eugene Christophe: Der größte Pechvogel

SPOX: Zum Beispiel?

Voigt: Bei Paris-Nizza in diesem Jahr kam Sylvain Chavanel auf mich zu und meinte: "Jens, herzlichen Glückwunsch!" Ich habe ihn verwundert angeschaut und gefragt, was er denn meine. Seine Antwort: "Heute ist Großvatertag in Frankreich." Damit muss man halt leben. Ich sage ja selber scherzhaft über mich, dass ich mir am Morgen erst mal das Moos von der Schulter kratzen muss.

SPOX: Das war 1998 bei Ihrer ersten Tour de France wohl noch anders. Welche Erinnerungen haben Sie an damals?

Voigt: Es fing eigentlich perfekt an, wir hatten sofort das Gelbe Trikot im Team, weil Chris Boardman den Prolog gewonnen hat. Danach bin ich sogar als erster Deutscher ins Bergtrikot gefahren und hätte mir fast einen Etappensieg geholt. Das hat mir aber nicht wirklich Glück gebracht. Ich bin am Tag danach zweimal gestürzt. Ab diesem Zeitpunkt war es ein einziger Kampf, ich bin auf dem Zahnfleisch nach Paris gekrochen.

SPOX: Den Etappensieg haben Sie dann 2001 und 2006 nachgeholt. Waren dies Ihre schönsten Momente?

Voigt: Ich kann eigentlich gar nicht den Finger auf eine Stelle legen und sagen: Das war mein Moment. Nach meinem ersten Etappensieg hat sich meine Karriere sicherlich zum Positiven entwickelt. Aber es gab noch so viel mehr. Die Tage in Gelb, der Sieg beim Mannschaftszeitfahren oder der Tour-Sieg von Carlos Sastre 2008.

SPOX: Das waren die Höhen, doch die Tour schreibt auch immer schmerzhafte Kapitel. Vielen Fans ist Ihr Sturz 2009 bei der Abfahrt vom Kleinen Sankt Bernhard in Erinnerung geblieben.

Voigt: Das war für die Zuschauer erschreckender als für mich. Ich habe davon gar nicht mehr viel mitbekommen. Ich weiß nur noch, dass ich im Helikopter war und im nächsten Moment auf dem OP-Tisch lag. Beim Sturz im Jahr danach habe ich mehr gelitten.

Teil 2: Voigt über ein Kinderrad, Doping und seine Pläne nach der Karriere