Generationswechsel vor Vollzug?

Von Gunnar Göpel
Die Gewinner 2012: Peter Sagan, Bradley Wiggins, Thomas Voeckler und Tejay Van Garderen
© getty

Das prestigeträchtigste Radrennen feiert Jubiläum, und wie. Die 100. Ausgabe der Tour de France beginnt am 29. Juni auf der Mittelmeerinsel Korsika (Sa., 15 Uhr im LIVE-TICKER). Ein Ende findet die Rundfahrt nach 21 Etappen und drei Wochen voller Strapazen am 21. Juli auf der Prachtstraße Avenue des Champs-Elysees. Zwischendurch müssen die 198 Zweirad-Profis 3404 Kilometer über ausschließlich französisches Staatsgebiet zurücklegen. Vor allem die Youngster setzen die Riege der Routiniers gehörig unter Druck. Der Titelverteidiger fehlt. SPOX macht den Favoritencheck.

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Besonderheiten der Jubiläumstour

Zur 100. Ausgabe haben sich die Veranstalter um Christian Prudhomme ein paar besondere Feinheiten ausgedacht. Vielleicht, um den durch Dopingvergehen zerrissenen Sport in das rechte Licht zu rücken. Vielleicht aber auch einfach, um den Feierlichkeiten der geschichtsträchtigen Rundfahrt gerecht zu werden.

Nie zuvor besuchte das große Radsportspektakel Korsika. Die "Grande Boucle" wird mit drei Etappen auf der historisch von Frankreich und Italien umstrittenen Insel eröffnet.

Die 21 Etappen versprechen eine interessante Abwechslung. Die Fahrer werden sich bei sieben Flachstücken höchstwahrscheinlich im Sprint messen. Des Weiteren gilt es fünf hügelige Teilstücke und sechs Bergetappen zu bezwingen.

Zudem wird es drei Zeitfahren geben: Bereits auf der 4. Etappe müssen sich die Teams im Mannschaftszeitfahren über 25 Kilometer beweisen. Die 11. Etappe ist ein flaches Zeitfahren (33 Kilometer) mit einem spektakulär anmutenden Finish zu Füßen der weltberühmten Benediktiner-Abtei auf der Felsinsel Mont Saint-Michel im Wattenmeer der Normandie. Einen Tag vor der Königsetappe der Tour de France findet in Südfrankreich im Rahmen des 17. Tagesabschnitts das 32 Kilometer lange und extrem anspruchsvolle Bergauf-Bergab-Zeitfahren zwischen Embrun und Chorges statt.

Ein weiteres Novum ist die doppelte Überquerung des legendären Anstiegs von Alpe d'Huez innerhalb einer Etappe. Jeweils 21 Kehren, verteilt auf einen 13,8 Kilometer langen Anstieg mit durchschnittlich 7,9 Prozent Steigung, sind eine Tortur für die Fahrer. Hier trennt sich definitiv die Spreu vom Weizen.

Traditionell wird die Tour auf der Avenue des Champs-Elysees in Paris enden. Erstmals wird der traditionelle Rundkurs ausgeweitet. Zum Jubiläum wird nicht vor dem Triumphbogen gewendet, sondern auf dem Place Charles-de-Gaulle dahinter. Und: Die persönliche Triumphfahrt eines jeden noch verbliebenen Akteurs wird unter Flutlicht in der Abenddämmerung ihr Finale finden. Die ausgezehrten Profis werden erst gegen 17 Uhr auf die 118 Kilometer von Versailles in die französische Metropole geschickt.

Maillot Jaune: Die Gesamtwertung

Der Tour-Sieger 2013 wird die Qualitäten im Kampf gegen die Uhr mit einer dominant souveränen Vorstellung am Berg verbinden. Das schränkt den Favoritenkreis ziemlich ein. Giro-Sieger Vincenzo Nibali verzichtet auf eine Teilnahme. Auch Vorjahressieger Bradley Wiggins musste seinen Start nach dem gesundheitsbedingten Ausstieg beim Giro d'Italia absagen. Ein Schock für das Team Sky? Im Gegenteil! Öffentlich wurde es vielleicht als Hiobsbotschaft dargestellt, aber in Wirklichkeit löst es eine Problematik, die das Team im letzten Jahr beinahe gespalten hätte: Die Kapitänsfrage.

Christopher Froome (28, GBR / Team Sky): Der Topfavorit

Die Fachwelt schätzte Edelhelfer Christopher Froome 2012 deutlich stärker ein als seinen Teamkollegen und Olympiasieger Bradley Wiggins. Und dieser wirkte wie ein Hemmschuh auf Froome.

Am Berg führte der in Kenia geborene Froome seinem fünf Jahre älteren Kapitän provokant die eigene Stärke vor Augen. Die Teamleitung bremste ihn ein. Hätte Froome freie Fahrt gehabt, er hätte die Tour gewonnen. Am Ende wurde er besserer Zweiter.

SPOX-Prognose: Der Criterium-Dauphine-Sieger zählt zu den besten Bergfahrern. Die schnellen Tempowechsel der Konkurrenz bereiten ihm kaum Probleme. Und im Zeitfahren ist der Olympiadritte von London eine Macht. Unter allen Favoriten ist seine aktuelle Form federführend. Der Tour-Sieg geht nur über Froome!

Prinzipiell gilt aber: Der Fahrer ist im Kampf um den Gesamtsieg nur so stark wie das Team. Das haben die letzten Jahre deutlich gezeigt. Und auch in diesem Jahr stellt Sky das stärkste Aufgebot. Der 28-Jährige wird unterstützt von exzellenten Helfern wie Konstantin Siwtsow, David Lopez, Geraint Thomas und Wassil Kiryjenka. Und dann ist da noch Richie Porte.

Richie Porte (28, AUS / Team Sky)

Bei der Tour-Generalprobe Criterium Dauphine dürfte den Zuschauern ein etwas merkwürdiges taktisches Manöver aufgefallen sein. Der Gesamtführende Christopher Froome sprach mit seinem australischen Teamkollegen, sah sich um und anschließend lancierten die beiden 28-Jährigen einen Angriff. Froome vorweg, Edelhelfer Porte hinterher.

Mit Leichtigkeit ließen sie die Konkurrenten um Alberto Contador stehen. Auf dem letzten Kilometer schienen bei Porte die Kräfte zu schwinden, Froome pushte seinen Teamkameraden und trieb ihn in Richtung Ziel.

Ein Belastungs- und Leistungstest als deutlicher Fingerzeig in Richtung der Konkurrenz. Auch der Australier ist ein exzellenter Zeitfahrer und hat sich die nötige Härte am Berg erarbeitet. Im Interview mit der "Cycling Weekly" zeigte sich Porte selbstbewusst: "Solange ich für das Team fahre und trotzdem den Kontakt zum Podium halte, ist es nicht schlecht einen Typen wie mich als andere spielbare Karte zu haben."

SPOX-Prognose: Eine Platzierung zwischen Rang drei und sieben im Gesamtklassement wäre ein bärenstarkes Ergebnis. Unrealistisch ist es dank des sehr ausgeglichenen Teams nicht. Eine Platzierung auf dem Podium setzt voraus, dass die Sky-Mannschaft die Konkurrenz fest im Griff behält und Porte nicht mehr als nötig für den Kapitän arbeiten muss.

Alberto Contador (30, ESP / Team Saxo-Tinkoff)

Der 30-jährige Dopingsünder hat zu Recht einen schlechten Ruf. Im Fahrerfeld wurde ihm bereits mehrfach unsportliches Verhalten auf diversen Etappen vorgeworfen. Nach der abgesessenen Sperre wirkt der Spanier prägnant weniger explosiv am Berg.

Dass der dreimalige Velo-d'Or-Gewinner (2007,2008, 2009) immer noch in der Lage ist eine Rundfahrt zu gewinnen, hat Contador beim Gesamtsieg der Vuelta a Espagna im letzten Jahr bewiesen. Dort wurde er weder des Dopings verdächtigt noch überführt. Der Tour-Test Criterium Dauphine verlief wenig erfolgreich. Mit fast viereinhalb Minuten Rückstand auf Gesamtsieger Froome beendete Contador die acht Etappen als Zehnter. Contador im Formtief?

Nicht unbedingt. In den vergangenen Jahren galt die Regel: Die Tour-Favoriten müssen ihren Formhöhepunkt zu Beginn der zweiten Woche haben. Es ist also fraglich, ob Christopher Froome die sensationelle Frühform über mehrere Wochen halten kann. Ein weiterer Leistungsschub ist kaum zu erwarten. Die Konkurrenz kann seine Stärke nun einschätzen - das macht den Briten angreifbar. Alberto Contador hingegen ist eine Wundertüte. Die Form des Spaniers wird sich sicherlich deutlich verbessern. Auch Froome rechnet im Gespräch mit dem "Telegraph" mit dem Spanier: "Contador ist für mich die größte Bedrohung. Er attackiert gerne und wird uns das Rennen nicht auf einem Teller servieren."

SPOX-Prognose: Er ist ein guter Zeitfahrer und einer der besten Bergfahrer obendrauf. Eine Podiumsplatzierung muss das Ziel sein. Entscheidend wird sein, ob die Helfer um Michael Rogers, Roman Kreuziger, Nicolas Roche und Sergio Paulinho dem eingespielten Sky-Dampfhammer Paroli bieten können.

Der erweiterte Favoritenkreis:

Cadel Evans, Tejay Van Garderen, Jurgen Van den Broeck, Joaquim Rodriguez

Der Champion von 2011 nicht unter den Topfavoriten? Richtig! Cadel Evans gehört mit seinen 36-Jahren zwar inzwischen zum alten Eisen, trotzdem zählt der Australier immer noch zu den Besten der Radsportszene.

Obwohl seine Stärken im Zeitfahren und am Berg liegen, stehen die Chancen für den ehemaligen Mountainbiker eher schlecht. Der BMC-Kapitän und Siebte des Vorjahres ist immens stark an gleichmäßigen, langen Anstiegen. Doch auch wenn er sich in diesem Bereich deutlich verbessert hat, die schnellen Tempowechsel im Anstieg sind auch 2013 seine Schwachstelle. Und hier wird es gefährlich. Froome und Contador sind Fahrer, die am liebsten im Stakkatorhythmus angreifen. Gift für die Fahrweise des Routiniers. Deshalb ist es auch verwunderlich, dass das BMC-Team sehr früh die Rollen verteilt hat.

Denn: Mit dem jungen Amerikaner Tejay Van Garderen hat der Rennstall ein zweites Ass im Ärmel. Der 24-Jährige ist eines der größten Radsporttalente des Jahrzehnts und gewann allein im Nachwuchsbereich bereits zehn nationale Meistertitel. Im letzten Jahr gewann Van Garderen das weiße Trikot des besten Fahrers unter 25 Jahren. Als Gesamtfünfter nahm er dem Teamkollegen Cadel Evans fast fünf Minuten ab.

Der legendäre Teammanager Bob Stapleton entdeckte ihn im Jahr 2007. Später äußerte er sich gegenüber "USA Today" euphorisch über seine Entdeckung: "Nicht viele Sportler haben das komplette Packet. Er zeigte sein Können von Beginn an und hat momentan das größte Potential aller Fahrer. Nicht nur in den USA, sondern in der Welt."

Jurgen Van Den Broeck ist ein guter Klassementfahrer. Aber der 30-Jährige hat ein massives Problem. Sein Team Lotto-Belisol fährt zweigleisig. Mit Andre Greipel und Marcel Sieberg stehen Fahrer im Aufgebot, die sich auf eine Sprintankunft fokussieren. An den Anstiegen der höchsten Kategorie (HC) wird der Belgier relativ schnell auf sich allein gestellt sein. Dem Vierten der letzten Tour kommen die Einzelzeitfahren zu Gute.

Der Katusha-Kapitän Joaquim Rodriguez ist ein exzellenter Bergfahrer. Seinen Fokus legte der 34-Jährige in den letzten Jahren auf den Giro und die Vuelta. 2012 beendete der zweifache Gewinner der UCI-World-Tour-Einzelwertung den Giro als Zweiter, die Vuelta auf Rang drei. Nach zwei Jahren Abstand kehrt Rodriguez nun zur Frankreich-Rundfahrt zurück. Eine Top-Ten-Platzierung ist auf jeden Fall im Bereich des Möglichen.

Was ist mit Schleck, Zubeldia und Cunego?

Andy Schleck sieht es realistisch: "Es wäre vermessen, vom Toursieg zu träumen", äußerte sich der 28-Jährige gegenüber "velonews.com".

Die größte Herausforderung für den Luxemburger ist das Beenden der Tour und Überstehen der drei knallharten Wochen. Allein das wäre ein Fortschritt, denn seit dem brutalen Sturz beim Criterium Dauphine 2012 kommt der Tour-Sieger von 2010 nur mühsam in Tritt.

Im Interview bei "RTL Radio Letzebuerg" zeigte sich der RadioShack-Leopard-Fahrer optimistisch: "Ich kann nur ganz schwierig abschätzen bei wie viel Prozent meiner maximalen Leistungsfähigkeit ich momentan angekommen bin. Zurzeit hinke ich der Weltspitze noch etwas hinterher. Was die anstehende Tour de France anbelangt bin ich dennoch recht optimistisch. Die Rundfahrt dauert bekanntlich drei Wochen und die Entscheidung wird sicherlich in der äußerst anspruchsvollen letzten Woche fallen. Bis dahin bleibt mir also noch einige Zeit, um mich noch näher ranzukämpfen."

Seine Tour-Favoriten: "Chris Froome gehört sicherlich zum ganz engen Favoritenkreis. Er hat fast alle Rennen gewonnen, bei denen er gestartet ist. Daneben kann ich mir vorstellen, dass auch Alberto Contador wieder ganz vorne zu finden sein wird."

Zuletzt zeigte die Formkurve wieder nach oben. Bei der Königsetappe der Tour de Suisse konnte Andy Schleck lange Zeit mithalten. Mithalten - mehr aber nicht.

Die Etappen in den Pyrenäen gehören zu den Highlights einer jeden Tour de France. Tausende Fans säumen die engen Passagen und peitschen die müden Fahrer zahlreiche Anstiege hinauf. Haimar Zubeldia hielt im letzten Jahr die baskischen Fahnen hoch und begeisterte seine Landsleute als Gesamtsechster.

Dem 36-Jährigen wird bei dieser Tour nur eine Helferolle zuteilwerden. RadioShack-Leopard-Teamchef Luca Guercilena legte sich frühzeitig auf das große Fragezeichen Andy Schleck fest. Allerdings wurde bei der Teampräsentation auch betont: "Sollte Andy schwächeln, dann ist Haimar unsere zweite Waffe." Eine Platzierung unter den ersten Sieben wäre dieses Jahr eine faustdicke Überraschung.

Damiano Cunego vom Team Lampre-Merida entwickelt sich im Spätsommer der Karriere von einem Klassementfahrer zu einem Klassikerspezialisten. Bei Rundfahrten zielt der Giro-Sieger von 2004 nun auf einzelne Etappen, denn ein Gesamtsieg ist außerhalb seiner Möglichkeiten.

Eine Top-10-Platzierung im Gesamtklassement ist unwahrscheinlich, jedoch nicht gänzlich unmöglich. Der 31-Jährige wird immer wieder Opfer einer schwankenden Tagesform.

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